Alltagsrückkehr

Da war sie, die eine Frage, vor der es Hanna so graute: „Wie geht es dir denn?“ Gleich zu Beginn, ohne Erbarmen oder wenigstens kurzen Aufschub. Bestimmt meinte Peter das freundlich, wollte zeigen, dass ihm ihr Wohlergehen wichtig war. Trotzdem, was sollte sie nun darauf erwidern? „Gut“? Das wäre eine blanke Lüge, Hanna fühlte sich mitnichten gut, um es genau zu nehmen, war ihr rätselhaft, wie das mit dem Gutgehen funktionieren sollte. „Miserabel“ traf genauso wenig zu, obwohl es immerhin etwas näher an der Wahrheit lag. „Keine Ahnung“, ja, das war die richtige Antwort, nur leider stellte diese niemals jemanden zufrieden. Hanna nickte und schenkte ihrem langjährigen Bekannten ein schiefes Lächeln. „Es geht“, flüsterte sie schließlich und in der Hoffnung, das Thema zu wechseln, fügte sie rasch hinzu: „Wie läuft es auf der Arbeit?“
Hanna hörte Peter lediglich mit einem Ohr zu, als dieser vom üblichen Bürogeläster erzählte, hin und wieder machte sie „Ah“, „M-hm“, zwischendurch „Oh“, damit er ihr Desinteresse möglichst übersah. Weshalb ihr daran lag, diese Fassade aufrechtzuhalten, wurde ihr stets unverständlicher. Was wäre so schlimm daran, wenn er ihre Teilnahmslosigkeit erspähte, was würde sich dadurch ändern? Er besuchte sie in einer Rehaklinik, wusste also, wie sie hier gelandet war.
„Peter“, unterbrach sie ihn lallend, „entschuldige bitte, aber ich gehe lieber wieder rein. Der Tag war lang und …“ Erwartungsvoll betrachtete ihr Gegenüber ihre zaghaften Bewegungen. „Und ich bin müde.“ Mit den Worten stand sie auf, schüttelte Peters Hand und marschierte zielstrebig in Richtung Haupteingang. Hanna war klar, wie unhöflich ihr Verhalten war, Peters verdatterter Gesichtsausdruck untermalte diese Gewissheit. Es störte sie kaum – nicht mehr.

Der darauffolgende Abend war erfüllt von tiefer, namenloser Traurigkeit. Hanna lag ausgestreckt auf der scheußlich weichen Matratze ihres Domizils auf Zeit, zählte Unebenheiten und Flecken am Verputz der Zimmerdecke. Dieser Ort war einst ein Krankenhaus gewesen, später ein Sanatorium für Lungenkranke, danach ein Irrenhaus. Das war es eigentlich bis heute, bloß nannten sie es anders – Rehabilitationsklinik mit Spezialisation auf Psychiatrie. Im Prinzip fand Hanna das albern, sie legte wenig Wert auf Euphemismen wie diesen, dennoch war sie irgendwie froh darum, „Rehaklinik“ machte sich auf einer Postkarte besser als „Irrenhaus“. Die Angst davor, hierhin zu kommen, hinein in dieses soziale Stigma zu schlendern und hinter sich zu vernehmen, wie die Türen zuschlagen, war in erster Linie der Ungewissheit geschuldet. Ihr Unbehagen bezüglich der bevorstehenden Entlassung hingegen ließ sich nicht so simpel wegerklären. Das, was hinter den Toren des großzügigen Areals auf sie wartete, war ihr keineswegs fremd – genau das war das Problem. Zwar hatten die Ärzte Hanna versichert, dass sie „so weit“ sei, sie „nun bereit“ wäre, sich der alltäglichen Normalität zu stellen und sie zu meistern. Nur, was hatte es schon zu bedeuten, wenn sie in der Gruppensitzung Konflikte aushalten oder während der Gesprächstherapie Sorgen aussprechen konnte? Inwiefern sollte ihr das helfen mit dem ganzen Chaos „da draußen“ klarzukommen? Noch zentraler: Wie half es ihr, mit dem Chaos „da drinnen“, in ihrem Kopf, umzugehen? Sicher, sie lernte viel Neues, das musste Hanna zugeben, obschon der Zweifel an ihr nagte. An einer „klinischen Depression“ leide sie, vielleicht eine „verspätete Reaktion auf die Geburt“ ihres Johannes, vermutlich „genetisch bedingt“ aber auf jeden Fall mit den „typischen Symptomen“ und, wenn alles klappt, auch „längerfristig behandelbar“. Gerne sprachen die Psychiater von Dingen wie „negativen Gedankenspiralen“, „Antriebslosigkeit“, „Erschöpfung“, „Beklemmung“ oder „Konzentrationsstörungen“ und forderten sie auf, sich mit „positiven Affirmationen“ zu stärken. Hanna gehorchte, erzählte sich selbst was für eine geduldige Tochter sie sei, eine vorbildliche Mutter, zuverlässige Mitarbeiterin und ganz generell ein liebenswerter Mensch. Das alles mochte stimmen, jedenfalls gab es genügend Leute, die ihr genau das bestätigten. Das Problem war nur, dass es ihr gleichgültig war. „Apathie“, nannten die Ärzte das und erläuterten, ihr Verstand würde sich damit vor den überwältigenden Emotionen der Trauer zu schützen versuchen – vor eben jenen Gefühlen, die sie hierher gebracht hatten. Die Trauer, das beschämende Selbstmitleid, die schwelende Wut gegen sich und die Welt, waren alte Bekannte, gleichwohl wusste sie bloß wenig über ihre falschen Freunde. Woher stammten sie? Was lag ihnen zugrunde? Was wollten sie von ihr? Wie wurde man sie wieder los? Manchmal wünschte sich Hanna, in ihrer Vergangenheit ein traumatisches Erlebnis zu finden, dem sie die Schuld für ihr Elend geben konnte. Sie hatten lange geforscht, den Dachboden ihrer Erinnerungen dabei zerwühlt, einmal sogar gedacht, auf einen Hinweis gestoßen zu sein. Schlussendlich hatte sich auch diese Erleichterung in ein vorübergehendes Glück verwandelt. Es gab keinen Grund, den sie verstehen konnte, lediglich die kühle Bemerkung, sie sei „halt krank“.

„… Schatz?“ Hanna fuhr zusammen, schüttelte den Kopf und brummte anschließend in ihr Handy: „M-hm … Entschuldige, ich war ein bisschen abgelenkt.“ Ihr Mann lachte auf, es war ein Lachen, das sie in den letzten Monaten häufiger zu hören bekam, eines, das über seine Unruhe, seinen Frust hinwegtäuschen sollte. „Schon okay“, meinte er gleichmütig, „war sowieso egal. Sag mal …“ Er pausierte, das war nie ein gutes Zeichen. Im Hintergrund sang ein Waldkauz sein Lied, der Mann ging also gerade mit ihren beiden Hunden Gassi, die Kinder blieben wahrscheinlich alleine, spielten im Garten oder lernten in der Küche. „Weißt du, wann du heimkommst?“ Er sprach vorsichtig, so als befürchtete er, sie zu verschrecken. Sogleich brodelte Galle auf, verätzte Hannas Speiseröhre. Sie hasste seine Behutsamkeit, fühlte sich davon herabgesetzt, doch ihr Zorn galt nicht dem Mann, sondern der Tatsache, dass sie auf diese Rücksicht angewiesen war. Sie wollte das alles nicht, wollte lieber ganz normal leben, ohne diese unsichtbare Krankheit, die selbst Alltägliches zur unüberwindbaren Hürde heranwachsen lässt. „Sie wollen mich noch eine Weile hierbehalten“, log Hanna, weil ihr die Kraft fehlte, sich mit ihrem Mann über etwas zu freuen, das sie derzeit in Panik versetzte.
„Verstehe“, gab er enttäuscht zurück und sie verabscheute sich dafür. „Ich sollte dann mal los, es gibt Abendess…“ Sie seufze, verkniff sich die neuerliche Unwahrheit. „Wir telefonieren morgen wieder, ja?“ Er bejahte, sie tauschten die üblichen Verabschiedungsfloskeln aus, „bis dann“, „ich liebe dich“, dann legte sie auf und kickte einen Putzeimer den Flur hinunter.

Am nächsten Vormittag saß Hanna auf einem der wippenden Stühle im Behandlungszimmer dreizehn. Sie hatte sich vorgenommen, sich der Ärztin endlich anzuvertrauen, sie darum zu bitten, ihren Aufenthalt in der Rehaklinik zu verlängern. Die andere blickte sie eindringlich an. „Wieso denken Sie, das sei notwendig?“ Hanna kam ins Stocken, suchte nach einer Begründung, die Sinn machte, stattdessen murmelte sie: „Ich weiß es nicht.“ Die Psychologin atmete einige Male ruhig durch, ehe sie in den Akten zu blättern begann. „Wie ich sehe, sind Sie auf dem richtigen Weg, Sie schlagen auf die Medikation an. Sehr schön“, stellte sie in den Raum, „wir sind der Meinung: Sie sind soweit die stationäre Behandlung zu verlassen und ambulant betr… Oh.“ Hanna wurde ein Taschentuch gereicht, dabei hatte sie die Tränen noch nicht einmal wahrgenommen. „Sehen Sie, sich davor zu fürchten ist normal, aber es ist unumgänglich, ihr Ihr Umfeld zurückzukehren. Sie müssen uns da vertrauen, ihre Genesung verläuft wunderbar“, sagte die Ärztin aufmunternd und Hanna glaubte es ihr.

Autorin: Rahel
Setting: Rehaklinik
Clues: Putzeimer, Depression, Dachboden, Gesprächstherapie, Waldkauz
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Kerstin Raphahn. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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