Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Barbara allein unterwegs

Dies ist ein Interludium zur Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.

Als ich die ersten Berichte über die Lage in Kenia gesehen hatte, war ich gerade so sehr mit dem immer näherrückenden Abgabetermin für mein neues Buch beschäftigt gewesen, dass ich sie mehr oder weniger ignoriert hatte. Es war ein wenig so gewesen, wie einige Jahre zuvor, als Westafrika mit einem Ebola-Ausbruch zu kämpfen gehabt hatte. Während den ersten Tagen war die Medienlandschaft von Reportagen und Nachrichtensendungen über die Bedrohung und das Leid der betroffenen Bevölkerung dominiert worden, später war die Panik für eine Weile bis in unsere Region übergeschwappt und man hatte befürchtet, die Krankheit könnte nicht bloß fremde Länder, sondern die eigene Nachbarschaft betreffen. Aber dann, nach einigen Wochen, war die Angst so schnell verblasst, wie sie aufgekeimt war. Als wäre es erst letzten Sonntag gewesen, erinnere ich mich daran, wie ich zu meinem Sohn gesagt habe: „Was kümmert mich Afrika?“
Das war tatsächlich erst fünf Tage her und manchmal glaube ich, ich hätte für diese dumme Aussage noch viel Schlimmeres verdient. Nur fragt sich, was denn noch misslicher sein könnte, als eine gottverdammte Zombie-Apokalypse – außer vielleicht, Dolores beim Karaoke zuhören zu müssen! Ich lachte vor mich hin und schüttelte den Kopf, während ich zielstrebig in Richtung der Stadt weiterging.
„Scheiße!“ Das Fluchen war mir schon immer gelegen, ich war deswegen sogar von dem katholischen Internat geworfen worden, in das mich meine Eltern aus demselben Grund geschickt hatten. Aber immerhin hatte ich in meinen knapp sechzig Lebensjahren so viel dazugelernt, dass ich nur noch in Abwesenheit anderer wie ein Seemann wetterte. Ich ging sogar so weit, dass ich andere dafür mit bösen Blicken bestrafte, so wie ein ehemaliger Raucher beim Anblick eines qualmenden Passanten die Nase rümpft. Nun gut, in Situationen wie diesen waren Kraftausdrücke angebracht und wenn ich ohnehin schon dabei war, mich murmelnd über die vielen hervorstehenden Wurzeln auf dem Trampelpfad aufzuregen, konnte ich eigentlich auch gleich weitermachen. „Barbara, du saudämlicher Fettsack!“, rügte ich mich selbst und meinte es ernst. Kaum auszumalen, wie viel einfacher mein Vorhaben wäre, wenn ich auf meine Partnerin gehört hätte und meine Tage mit Bewegung statt Käsekuchen verbracht hätte. Dolores hatte immer alles besser gewusst als ich, war immer die Klügere gewesen und doch hatte ich es bis zum Tag ihres Todes ständig geschafft, sie irgendwie vom Gegenteil zu überzeugen.
Durch die langen Baumsilhouetten konnte ich ein weit entferntes Flackern ausmachen. Ein Blick auf meinen Kompass bestätigte meinen Verdacht, es war vermutlich die alte Ölraffinerie, die im Osten der Stadt lag. Jeder andere hätte darauf wohl mit Besorgnis oder Gleichgültigkeit reagiert, ich aber freute mich, denn das hieß, dass ich bald mein letztes Etappenziel erreichen würde. Es fiel mir schwer, mich an meinen Plan zu halten und nicht heute Abend noch durch die Vorortsstraßen zu marschieren. Aber ich musste mich am Riemen reißen, denn in der Nacht durch dicht besiedeltes Gebiet zu gehen, wäre glatter Selbstmord.
Ich blieb stehen, als ich das Knacken des Militärfunkgeräts an meinem Gürtel hörte und sah mich zuerst gründlich in der näheren Umgebung um, ehe ich den Knopf drückte und verärgert sagte: „Was?“
„Barbara, sie sind hier. Wir können nicht warten, bis du…“ Die Übertragung brach ab.
„Wie bitte? James, was ist verdammt nochmal los?“ Ich wusste nicht so recht, ob ich nun nervös oder wütend sein sollte und begann immer wieder dieselben Worte ins das braune Gerät zu plärren: „James, bitte kommen. Hörst du mich?“

Ich saß mit meiner Flinte auf dem Schoß auf einem Campingstuhl und starrte abwechselnd auf das Funkgerät und das lodernde Feuer in der Ferne. Kurz bevor die Sonne hinter der Skyline verschwand, war ich einer kleinen Abzweigung gefolgt und hatte die Hütte gefunden, von der mir James erzählt hatte. Wahrscheinlich war hier seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen – zumindest niemand, der gerne Staub wischte und etwas gegen den typischen Geruch eines alten Urinals hatte. Aber nicht nur deswegen saß ich nun auf dem Trampelpfad direkt vor der Veranda, sondern vor allem weil mir dieser Platz inmitten der Bäume das Gefühl gab, nicht stillzustehen. Seit Dolores nicht mehr bei mir war, gab es nichts, das mir mehr Angst machte als Stillstand. Also vergrub ich mich in Arbeit, legte mir immer neue Hobbies zu und gab alles, damit ich mich nie alleine mit meinen Gedanken wiederfand. Ich hatte sogar mal eine Schifffahrt für Singles gemacht, eine Entscheidung, die ich wohl immer bereuen würde. Und ich gebe zu, dass es Momente gab, in denen ich froh darum war, von menschenfressenden Leichen gejagt zu werden.
Ohne es bewusst wahrzunehmen fuhr ich mit meinen aufgeschürften Fingern durch die graue Lockenmähne, die sich stets so störrisch gegen meine Frisierversuche wehrte, flocht sie bis in die Spitzen und begann das Spiel von neuem. James hatte sich nicht mehr gemeldet und egal wie oft ich auf den grünen Knopf gedrückt hatte, der Funkkontakt schien verloren. Wir hatten vor meiner Abreise nur kurz über diverse Eventualitäten gesprochen, doch wie mir jetzt klar wurde, hatten wir das Wichtigste versäumt. Was, wenn sie das Lager aufgeben mussten, währendem ich weg war? Ich hatte keine Ahnung, wohin meine drei neuen Gefährten gegangen waren und ob sie überhaupt noch am Leben waren. Würde es Sinn machen, nach ihnen zu suchen oder sollte ich sie einfach vergessen, so wie ich Dolores zu vergessen versuchte?
Der Wind raschelte in den Büschen und begann mir auf die Nerven zu gehen. Jedes Mal, wenn ein Zweig sich bog, zuckten meine Muskeln zusammen und ließen mich unwillkürlich nach meiner Waffe greifen – so weit war es schon gekommen, dass die alte Frau zum automatisierten Kämpfer wurde.
Ich aß einen nach Sägemehl schmeckenden Energieriegel und etwas Schokolade, man will sich während dem Weltuntergang doch auch was Gutes gönnen. Dann, nach einer Weile des schmerzhaften Stillstands, beschloss ich die Augen zu schließen, ohne meine Tabletten zu nehmen. „Soll mich doch der Teufel holen, wenn ich heute Nacht durch eine lächerliche Mutation im Gerinnungsfaktor sterbe“, schoss es mir durch den Kopf, ehe ich grinsend einschlief.

Ich wurde von einem kehligen Gurgeln wachgerüttelt, oder vielmehr von der instinktiven Reaktion meines Körpers. „Oh, ihr verwixten Dreckspisser!“, zeterte ich wie es sich für ein betagtes Weib gehörte, während ich den Kolben meiner Flinte an die Schulter drückte und das strauchelnde Vieh aufs Korn nahm. Es war einst junges Mädchen gewesen und ich dachte erst nachdem ihr Kiefer explodiert war daran, dass ich nicht hätte schießen sollen. „Super, du blöder Vollidiot“, meckerte ich vor mich hin, „mach doch noch mehr Lärm, damit dich auch ein ohrenloser Zombie hört!“
So schnell meine steifen Glieder es zuließen, packte ich meine selbstgehäkelte Decke in den Rucksack und band mir die Schuhe. Mit etwas Glück würden mir vielleicht fünf Minuten bleiben, bis weitere Biester über den Trampelpfad straucheln würden, das war zumindest meine Hoffnung. Aber nein, ich hatte mich geirrt, das allmächtige Arschloch im Himmel wollte mir partout keine Gnade entgegen kommen lassen, denn kaum hatte ich den ersten Knoten im Schnürsenkel, konnte ich sie auch schon stöhnen hören.
Ohne weiter zu überlegen, drückte ich den Abzug genau dreimal, danach war vorerst Ruhe. Angewidert musterte ich den zerfressenen Kopf eines älteren Herrn, und begutachtete mit verschmitzter Selbstzufriedenheit das Loch, dass seine Stirn schmückte. Der Typ hatte wohl auch Probleme mit seiner Blutgerinnung, denn außer einer sirupartigen, schwarzen Substanz tropfte nichts mehr.
„Also gut“, ermutigte ich mich selbst, schulterte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg. Es lagen noch acht Kilometer zwischen mir und der Stadt, in der mich nicht nur eine Unmenge dieser scheußlichen Dinger, sondern auch mein Sohn und mein Enkel, Jack, erwarten würden. Ich entschloss mich für die einzig sinnvolle Beschäftigung, um mich bis dahin bei Laune zu halten: Bei jedem mühsamen Schritt verfluchte ich jeden einzelnen Keks, den ich in den letzten zwanzig Jahren gegessen hatte.

Autorin: Rahel
Setting: Trampelpfad
Clues: Karaoke, Gerinnungsfaktor, Campingstuhl, Schifffahrt, Urinal
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3 Gedanken zu „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Barbara allein unterwegs“

    1. Oh, da wunderts wieder im Wald.
      Vielen lieben Dank für den Reblog :)
      Die Clues denken sich im Übrigen unsere sorgfältig gezüchteten und mit Koffein gefütterten Clue-Affen aus. Patent beantragt ;)

      Liebe Grüsse und die besten Wünsche
      Eure Clue Writer
      Rahel

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