Berufsnebenwirkungen

Nach einem kurzen Seitenblick schnippte Jan seinen Glimmstängel aufs Trottoir und wandte sich, ohne die Glut auszutreten um, wobei er beinahe in Annelise geprallt wäre, die gerade durch die Bürotür kam. Erschrocken riss die junge Frau ihre Hände nach oben und verschüttete dabei den Rest Kaffee, der nach der Pause noch übriggeblieben war, auf ihren Apothekerkittel. „Nein!“, schrie sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Tobsucht, bevor sie Jan so fest sie konnte in den Oberarm boxte. „Das war der letzte Kaffee, ich hasse dich!“
Verdutzt blieb ihr geschlagener Arbeitskollege stehen und starrte sie einige Sekunden lang an, bis die Tragweite der Situation in seine Gehirnwindungen gesickert war und er entsetzt fragte: „Was? Hat es keinen mehr im Schrank? Auch nicht hinter der Ovomaltine?“ Langsam ließ Annelise das Kinn auf ihr Brustbein fallen und schüttelte den Kopf. „Ich habe sogar das verbotene Fach im Kühlschrank durchsucht, nichts, nicht eine einzige Bohne.“
Beide schwiegen eine Weile, bis Jan den ersten Schock überwunden hatte und sagte: „Okay, ich habe einen Plan, hör zu“, begann er im Flüsterton. „Du hast noch ein paar Minuten, also geh doch einfach über die Straße und hol dir Kaffee, anstelle davon mich zu verhauen.“ Ohne Widerworte abzuwarten, drückte er Annelise seinen leichten Übergangsmantel in die Hand und schob sie behutsam, jedoch bestimmt zum Fußgängerstreifen. „Portemonnaie ist in der linken Außentasche und bring mir irgendwas mit viel Milch mit“, instruierte er sie, bevor er wieder zurück zur Apotheke trabte und ihr ein schelmisch klingendes „Danke“ hinterherrief.
Irgendwann hatte es ja so weit kommen müssen, dachte sich Annelise, die schon immer gesagt hatte, dass der reguläre Kaffeevorrat zu knapp berechnet worden war, aber natürlich hatte niemand auf sie gehört. Und nun war sie auch noch von Jan ausgetrickst worden und musste sich in die lange Schlange im wenig phantasievoll eingerichteten Starbucks gegenüber der Apotheke stellen um darauf zu warten, dass jemand ihre unmöglich komplizierte Bestellung entgegennehmen würde. Dabei hatte der Morgen doch so gut angefangen. Einige Reihen weiter vorne versuchte eine adrett gekleidete Dame ihr Bestes, um ihr Getränk mit so wenig Interaktion wie möglich zu erhalten, doch die gelangweilt wirkende Barista hatte immer wieder neue Fragen für sie bereit: „Welchen Geschmack wünschen Sie?“ Annelise hätte an dieser Stelle am liebsten dazwischengerufen und ein für alle Mal klargestellt, dass niemand auf der Welt es für notwendig hält, einen Fragebogen ausfüllen zu müssen, nur um endlich einen verdammten Kaffee zu bekommen.
„Irgendwann werden wir ein Formular ausgehändigt bekommen, das wir zwei Wochen im Voraus an die Kette senden müssen, um einen Kaffee zu beantragen“, murrte jemand hinter ihr. Sie hatte die Stimme schon einmal gehört, da war sie sich sicher, aber das Gesicht des jungen Mannes kam ihr nicht bekannt vor und an diese leuchtend grünen Augen hätte sie sich bestimmt erinnert. „Treibt Sie das nicht auch in den Wahnsinn?“, wollte er schließlich grinsend von ihr wissen, bevor er ihr die Hand hinstreckte und sagte: „Ernie, heimlicher Starbucksbesucher seit 2003.“ Sie überraschte sich selbst damit, dass sie die Hand ohne zu zögern ergriff und sie schüttelte, ohne den Augenkontakt zu vergessen, so wie sie das sonst immer tat. „Annelise“, stellte sie sich knapp vor und fügte danach zwinkernd an: „Wir können uns ja zusammentun und die Formulare abwechselnd ausfüllen.“ Sie hatte noch nicht mal fertiggesprochen, als ihr dämmerte, dass diese Aussage als unbeholfener Flirtversuch hätte verstanden werden können und die Tatsache, dass sie sofort rot anlief, machte es auch nicht besser.
Ein ungeduldiges Hüsteln bedeutete den beiden nachzurücken, als sich die Schlange langsam in Bewegung gesetzt hatte. Froh darum, einen Grund zu haben sich wegzudrehen, machte sie eilig zwei kurze Schritte und atmete einige Male tief durch, bevor sie sich wieder dem Fremden zuwandte, der ihren Blick schmunzelnd zu erwarten schien. „Nun, ich müsste aber schon etwas mehr über Sie erfahren, wenn ich zukünftig Ihre Kaffeeformulare vervollständigen soll“, meinte er. „Ich glaube uns bleibt da nicht viel anderes übrig, als uns demnächst bei einem Kaffee etwas zu unterhalten.“ Nun noch verlegener als vorher, zupfte Annelise am Ärmel von Jans Mantel, so als würde sie einen versteckten Hasen rausziehen wollen und verlagerte unsicher ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. „Das klingt nach einer guten Idee“, murmelte sie endlich, als ihr auffiel, dass Ernie nervös zu werden schien.
Sie hatte noch länger für die Bestellung gebraucht als gewöhnlich, weil sie sich nicht wie üblich schon während dem Warten überlegt hatte, was genau sie wollte, doch irgendwann hatte sie es dann doch geschafft und verließ die Filiale mit zwei dampfend heißen Getränken und einer Telefonnummer. Zurück in der Apotheke warf sie Jans Mantel auf die Couch im Büro und linste verstohlen durch die Tür zum Verkaufsraum, wo zwei ihrer Kollegen mehr oder weniger untätig herumstanden. „Pst“, zischte sie Jan zu, der unentschlossen Zahnhygieneartikeln in einem Regal hin- und herschob. „Deine Bestellung ist da.“
„Super“, erwiderte er beinahe jauchzend und marschierte sogleich zielstrebig zu ihr ins Hinterzimmer, ohne sich umzusehen, ob der Chef ihn beobachtete. Manchmal fragte sich Annelise, wie Jan es immer wieder schaffte, seine Arbeit ordentlich zu erledigen. Er überzog seine Pausen, kam oft nur knapp rechtzeitig und verbrachte einen Großteil seiner Arbeitszeit mit Schwatzen und Herumalbern, doch man musste ihm lassen, dass er verdammt schnell war, sofern er sich ausnahmsweise zum Arbeiten überwinden konnte.
„Igitt, das ist ja Tee“, nörgelte er beinahe entsetzt, nachdem er einen großen Schluck aus dem Pappbecher getrunken hatte. „Was soll das denn?“
„Was denn? Es ist viel Milch drin, so wie du wolltest“, begann Annelise kichernd. „Im Übrigen ist das deine Strafe dafür, dass du mich in die Vorhölle geschickt hast.“ Amüsiert sah sie zu wie Jan den Plastikdeckel vom Becher pflückte, die Nase rümpfte und das Getränk dann trotzig von sich weg schob. „Du Biest. Kein Wunder, dass dir deine Tante nichts vererben wollte“, feixte er schließlich und lehnte sich gemütlich im Stuhl zurück. Normalerweise hätte Annelise sich über diesen Kommentar geärgert, aber nach dem unerwarteten Flirt von vorhin hatte sie einfach eine viel zu gute Laune und wollte sie sich von diesem Idioten nicht verderben lassen. „Ach trink deinen Tee und halt die Klappe“, sagte sie gelassen, bevor sie sich selbst zurücklehnte, ihren Kollegen und dessen Gemecker ausblendete und verträumt an die grünen Augen dachte, die sie nächste Woche wiedersehen würde.
„Was zum Teufel macht ihr noch immer da hinten?“ Simultan zuckten die beiden Angeschrienen zusammen und drehten sich nur zögernd zur Tür, in welcher Herr Marti mit in die Hüften gestemmten Armen stand. „Der Laden ist voller Kundschaft und ihr sitzt hier gemütlich beim Kaffee!“ Wie von der Tarantel gestochen sprangen Annelise und Jan auf und murmelten schuldbewusst einige Entschuldigungsfloskeln, doch ehe sie sich an ihrem Chef vorbei in den Verkaufsraum zwängen konnten, fügte dieser gespielt betroffen an: „Das nächste Mal bringt ihr mir gefälligst auch etwas mit.“
Den Rest des Vormittags verbrachte Annelise damit, einer Hausfrau Ritalin auszugeben, welches vermutlich eher in ihrem eigenen Frühstück und nicht in dem der Kinder landen würde, sowie einige ältere Damen zu beraten, die schlussendlich doch nichts kaufen wollten. Danach verzog sie sich ins Lager, wo sie die lange herausgeschobene Therapeutikum-Bestandskontrolle begann, die wohl bis Freitag dauern würde. Gerade als sie die Schublade mit den SSRI, einer Psychopharmaka-Gruppe, welche heute so großzügig verschrieben wurden wie Aspirin, herausgezogen hatte, rief Jan vom Pausenraum aus nach ihr.
Seufzend schob sie das Fach wieder zu und schloss es ab, bevor sie aus dem Lager ging um zu sehen, was Jan nun schon wieder wollte. Wenn er das Wort „Kaffee“ auch nur erwähnen würde, dachte sie sich, würde sie ihn ins Schienbein zu kicken.
„Der Tripper-Typ ist wieder da“, erklärte Jan, als sie um die Ecke kam. Sie hatte schon von mehreren Mitarbeitern von diesem Kerl gehört, der wohl alle paar Monate vorbeikam um ein Rezept für Ceftriaxon, ein Breitbandantibiotikum, einzulösen. Woher die anderen jedoch wussten, dass er Tripper hatte, war ihr nicht ganz klar, also fragte sie nach.
„Er hat’s mir gesagt, er sagt es jedes Mal, so als wäre er stolz darauf sich durch die infizierte Bevölkerung zu vögeln“, antwortete Jan und deutete dabei ratlos mit seinen Handflächen nach oben. Resigniert ließ sie ihre Schultern hängen und wollte, nach dem sie ausgiebig mit den Augen gerollt hatte, wissen: „Und was hab ich damit zu tun?“
„Naja“, holte Jan langezogen aus, währendem er sich am Kopf kratzend an eine Kommode lehnte. „Kannst du ihn bitte bedienen, der Typ widert mich echt an“, gab er dann beschämt zu. Annelise wusste erst nicht, ob sie ihn auslachen oder ankeifen sollte, besann sich dann aber eines Besseren und nickte einfach nur. Immerhin hatte sie auch schon so ähnliche Kundenerfahrungen gemacht und man konnte über Jan zwar sagen was man wollte, aber er war in Situationen wie diesen immer sehr verständnisvoll gewesen und hatte ihr ausgeholfen.
Die Tür zum Verkaufsraum war nur angelehnt, so dass Annelise sie schwungvoll mit dem Fuß aufschieben und die ganze Apotheke überblicken konnte. Sie erstarrte nur kurz, drehte sich dann in Windeseile um und rannte wieder zurück ins Hinterzimmer, wo Jan sie verwundert ansah. „Was ist denn los?“, wollte er sich besorgt erkundigen, doch anstelle davon, ihm eine Antwort zu geben, winkte sie bloß ab und kramte nervös in Jans Manteltasche. Kaum hatte sie das Stück Papier herausgefischt, ergriff sie den Telefonhörer, der auf einem Stapel Zeitschriften lag und wählte die Nummer. Sie hatte sofort begriffen, dass er es war, denn er war der einzige Kunde im Laden und wie sie jetzt bemerkte, hatte er nicht nur Tripper, sondern auch noch einen peinlichen Klingelton.
„Das mit nächster Woche wird nichts“, bellte sie förmlich ins Telefon, „mir ist auf der Arbeit etwas dazwischengekommen.“

Autorin: Rahel
Setting: Apotheke
Clues: Portemonnaie, Telefonhörer, Glimmstängel, Oberarm, Milch
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2 Gedanken zu „Berufsnebenwirkungen“

  1. Hallo liebe Lexa,

    Da muss Sarah doch auch gleich ihren Senf dazugeben: Die Story von Rahel hat mir auch besonders gefallen, habe da beim Lektorat ziemlich grinsen müssen :)

    Liebe Grüsse aus der CW-Redaktion
    Sarah

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