Wir sind alle besonders. Wir sind alle gleich

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der fünften Clue Writing Challenge.

„Einen wunderschönen guten Tag, Austerlitz.“ Ein flüchtiges Lächeln, unverbindlich, kalt und künstlich. „Wie hat uns das Mittagessen geschmeckt?“ In der Mimik der Heilungsassistierenden Person ist keinerlei Bewegung auszumachen, sie ist eingefroren und Austerlitz‘ Gesicht muss es bald ebenso sein. „Hervorragend“, wird Zufriedenheit mit der neuerlichen Nahrungsausgabe bestätigt, obschon der Mischsalat welk und die Eier trocken waren. „Es war köstlich.“
„Schön“, meint die HAP und hält eine Weile inne, beäugt ihr Gegenüber eindringlich, ehe sie etwas auf ihrem Tablet notiert. „Sehr schön.“ Es folgen zwei kurze Schritte nach Links und die Verabschiedung mit der üblichen Floskel: „Wir sind alle besonders.“
„Wir sind alle gleich“, entgegnet Austerlitz monoton, die HAP nickt und schlendert davon, verschwindet hinter einem hohen Rosenbusch.
Die Gartenpflegenden eilen mit ihren Geräten herbei, einige Reformierungssuchende versammeln sich zum Unkrautjäten, erhoffen sich dadurch wohl eine geringe Engagementsbelohnung, welche sie später in der Kantine gegen Vitaminwasser oder Sojachips eintauschen. Unter ihnen ist auch Pi, ein Individuum auffällig durchschnittlicher Statur, dafür von großem Geiste. Zumindest war das einmal so gewesen, denn vor dem Umzug in die Re-Erziehungsanstalt hatte Pi im Institut für freie naturwissenschaftliche Forschung eine leitende Position inne gehabt. Das war bevor das IFNF wegen Entwicklungen heikler Natur in der akademischen Arbeit geschlossen, und sämtliche als problematisch eingestuften Mitarbeitenden entweder hierhin oder in ein Rehabilitationslager begleitet worden waren. Seither blieb Pis Verstand träge, wie gewollt konform und die Akademie bereinigt von gefährlichem Denken.
„Austerlitz“, unterbracht eine bekannte Stimme falsche Gedanken. „Austerlitz, wie geht’s dir, du Ratte?“ Amüsiertes Kichern untermalt die freundschaftliche Beleidigung.
„Alles bestens, Schneider, alles bestens.“ Austerlitz streckt den Rücken, hebt den Kopf und präsentierte eine elfenbeinweiße Zahnreihe.
„Keine HAP in Sicht, entspann dich.“ Schneider räuspert sich, streicht sich durchs Haar und beobachtet, wie Auserlitz‘ Haltung in sich zusammensackt. „So, erzähl mal, hast du mit Pi gesprochen?“
„Gestern.“ Es war ein scheußliches Gespräch gewesen, eines, das einem das Geheimnis dieses paradiesischen Gartens deutlich vor Augen führte. „Vergiss es. Pi ist reformiert. Vollständig.“ Seufzen seitens Schneiders, danach ein Grollen und ein herzhafter Kick gegen den Stein, der die Tür zum Raum des musikalischen Selbstausdrucks offen hält.
„Das ist nicht dein ernst? Pi ist ein brillanter Mensch des Wissens, muss uns also helfen!“
„War, Schneider, war. Heute wird alles Wissen, das Pi noch kennt mit dem Löffel gefüttert.“ Austerlitz beginnt die Lage hinzunehmen, zu ändern ist sie ohnehin kaum, bestimmt nicht von einigen Reformierungssuchenden, die dumm grinsend in der Re-Erziehungsanstalt hausen.
„Suchen wir uns Ersatz, Austerlitz.“ Schneider sah die Dinge einfach, simpel wie eine Tonleiter. Ein Ton nach dem anderen, klingt einer schief, kommt halt der nächste. „Zu zweit sind wir chancenlos, Austerlitz.“ Das sind sie, ob zu zweit, zu dritt oder in Scharen. Bis vor zwei Jahrzenten hatte es Aufstände gegeben, ein letztes großes Aufbäumen gegen die neue Ordnung, den ‚Richtigen Weg‘.
„Schneider, ich befürchte die Zeit sich einzugliedern ist nun auch für uns gekommen.“ Austerlitz gesteht es ungern ein, doch die endlosen Versammlungen und Sprachschulungen, die Parolen und öffentlichen Bloßstellungen derer, die sich auflehnen, wirken ihre Wunder; Austerlitz’ Wille steht kurz vor dem Bruch. „Immerhin sind ihre Intentionen durchweg gut.“ Ein oft rezitiertes Argument zugunsten des moralisch überlegenen Kollektivs, das sich erst heimlich durch die Universitäten gefressen und kurz darauf in der Medien- wie Politiklandschaft festgenagt hatte. Die Richtigkeit dieses Arguments vermochte allerdings kaum auszudrücken, welche Opfer gebracht wurden und werden, um das gemeinschaftliche Utopia zu erzwingen.
„Pha!“, schnaubt Schneider; Nachgiebigkeit ist eine Tugend, die nicht jedem liegt. „Was ist mit den Neuzugängen von letzter Woche?“
„Kenne keinen von denen“, gibt Austerlitz zu Bedenken, deutet aber dann zum Westende, wo eine Gruppe Reformierungssuchender den Pavillon bemalen. „Pinseln da drüben rum.“ Der Garten ist voll mit solchen Bauwerken, kleinen wie mächtigen Unterständen, Garten- und Baumhäuschen, die allesamt bunt verziert das Gemüt der intoleranten Widerspenstigen mildern sollen. Schneider beugt sich vor und blinzelt angestrengt..
„Kennst du die Person?“, fragt das sture Individuum und versucht trotz der großen Distanz mit dem Kinn auf jemanden im Speziellen zu zeigen. Austerlitz zuckt erwartungsgemäß mit den Schultern, woraufhin das Gegenüber kontrollierend um sich schaut, sich noch weiter vorbeugt und schließlich flüstert: „Die hochgewachsene Person mit den grünen Schuhen und der …“, ein betroffenes Hüsteln sowie ein erneuter Kontrollblick, ehe der Satz komplettiert und der Indexfinger entgegen den Vorschriften ausgestreckt wird, „dunklen Hautfarbe.“
Sogleich weicht Austerlitz zurück, kann sich nur knapp davon abhalten, Schneider für diese unzulässige Beschreibung und die dreiste Verletzung des persönlichen Raums mit dem Zeigfinger zu schelten und bejaht stattdessen verstohlen. „Du meinst Sagar.“
„Sagar“, wiederholt Schneider erfreut und hüpft von einem Bein aufs andere, dann auf das wackelige Mauerwerk, welches das Gemüsebeet vom Kiesweg trennt. „Perfekt. Jetzt müssen wir bloß eine Gelegenheit finden, mit Sagar unbelauscht zu sprechen.“ Das heißt, Sagar an genau diesen Ort im Garten zu locken. Der Fleck zwischen dem Raum des musikalischen Selbstausdrucks und dem ersten Beet ist, soweit Austerlitz ausmachen kann, der einzige in der gesamten Re-Erziehungsanstalt, den die Überwachungsdrohnen schlecht überfliegen können; das dichte Geäst eines uralten Feigenbaums hindert das schwerfällige Gerät daran, seine Arbeit zu tun.
„Die HAPs zu vertreiben ist eine brenzlige Angelegenheit. Wie kommst du darauf, Sagar würde dieses Risiko eingehen?“, erkundigt sich Austerlitz. Zwar ist es keine schwierige Aufgabe, sich der HAPs zu entledigen, zumal diese in der Regel blitzartig in einen der Echopods flüchten, sobald eine Drangsal generierende Aussage getätigt wird, um sich von den immensen mentalen Strapazen zu erholen, welche durch derart verbotene Aktionen hervorgerufen werden. Die verhaltensoptimierenden Verbesserungsmaßnahmen für die verstoßende Person sind jedoch keineswegs behaglich; einige Jahre in der Ruhekammer sind vorprogrammiert, je nach Schweregrad des verbalen Vergehens, insbesondere bei unzulänglichem Ansprechen auf psychologische Korrekturen, steht dem Ideologiefeind die freiwillige Sterbehilfe zum Wohle des kollektiven Friedens bevor. Schneider linst nochmals prüfend nach rechts, links, hinter das Gebäude der musischen Künste und zu den Gartenpflegenden, die unbeirrt Schubkarre um Schubkarre voller Dreck zu den frischen Gräbern rollen.
„Sagar muss mehr fehlerhafte Aufklärungsakten auf dem Schreibtisch haben, als wir beide gemeinsam, wie sonst erklärst du dir, dass eine dunkelhäutige Transperson weiblichen Geschlechts, wahrscheinlich nicht-christlichen Ursprungs, hier landet? Sie ist beinahe unantastbar, hat es aber irgendwie geschafft die Besseren zu verärg…“
„Schneider!“, brüllt Austerlitz empört, sodass einige Menschen plötzlich in ihre Richtung sehen, unter ihnen zwei Heilungsassistierende Personen. Sofort hält Austerlitz die frisch polierte Trompete hoch, winkt damit und ruft: „Marginale Differenzen in der kreativen Selbstverwirklichung.“ Schneider schenkt den Zuschauenden ein einstudiertes Lächeln und zischt äußerst sarkastisch: „Gut gemacht, Austerlitz, bravo.“ Ihre Strategie geht nicht auf, denn die beiden HAP besprechen sich hinter vorgehaltener Hand, dann bedeutet eine HAP den Reformierungssuchenden, sich wieder der Gartenarbeit zu widmen und marschiert auf Austerlitz und Schneider zu.
„Einen wunderschönen guten Tag, Austerlitz, Schneider. Darf ich vermitteln?“ Die Angesprochenen stimmen im Kanon zu, darauf gefasst, eine mehrstündige Interventionsdiskussionsrunde zwecks Aggressionsmanagement über sich ergehen zu lassen. Zu ihrem Erstaunen belässt es die HAP mit einem mitleidigen Ausdruck und der regulären Ansprache, dass alle Meinungen gleichwertig und die Gefühle und subjektive Identitätsausgestaltung anderer stets, in jedem Sinne und ohne Ausnahme zu berücksichtigen seien. Weder das eine noch das andere trifft in dieser Welt tatsächlich zu, das ist Austerlitz sowie Schneider klar, trotzdem glauben sie die Darlegung der HAP; die Re-Erziehung, speziell die neuronalen Restrukturierungssitzungen tragen gegen ihren Willen erste Früchte.
Anders als proklamiert sind wie in jedem anderen System einige schlicht gleichwertiger als andere, jene, die in Beklemmung geboren sind und denen dementsprechend mehr fördernde Affirmation zusteht, ungeachtet ihrer eigenen Handlungen. Gleichberechtigt sei das ganze natürlich dennoch, nein, gerade deswegen und wer daran zweifelt, endet hier, oder gar in einem der Rehabilitationslager, welche für achtzig Prozent der Produktion und null Prozent der staatlichen Lohnausgaben verantwortlich sind. Die Widerspenstigen sind der Preis, der freilich bereitwillig bezahlt wird, damit alle besonders, alle gleich sein können. Man habe sich das vorzustellen wie einen Bildschirm, war ihnen von Kindesbeinen auf eingetrichtert worden. Auf dem Screen ist einerseits das eigene Spiegelbild, andererseits das Wiedergegebene zu erkennen. Beide Bilder existieren gleichzeitig und sind gleichrangig, weshalb sollte es also unmöglich sein, zwei sich widersprechende Realitäten ebenfalls als ebenbürtig zu akzeptieren? Wie in der Analogie, so Austerlitz‘ längst deportierter Elternteil, sind allerdings beide Bilder lediglich ein verzerrter Abklatsch der Wahrheit, zuweilen sogar nichts weiter als die Fabrikation einer gutmeindenden Ideologie.
„Schön, dass die Angelegenheit damit geklärt ist“, freut sich die Heilungsaßisitierende Person, sichtlich zufrieden mit dem Erfolg der Ansprache. „Gutes Gelingen, wir sind alle besonders.“
„Wir sind alle gleich“, tönt es von Austerlitz und Schneider, brav, im Tun wie Tonfall eingereiht und die HAP kehrt ihnen den Rücken zu, trabt zurück zu den Gartenpflegenden, die mittlerweile die Geräte beiseitegelegt haben und ihre regional angebaut und verarbeiteten Tofusandwiches essen.
Vordergründig eine Delle im Blech der Trompete begutachtend, stöhnt Austerlitz, umspült die Lungen mit klarer Luft. „Schneider, ich bin nicht sicher, ob ich das durchziehen will.“
„Du auch, Austerlitz? Haben die Intersektionellen dir das Hirn mürbe gejammert, fürchtest du dich so sehr vor dem Pranger und hast du endlich gelernt …“ Es ist nicht etwa Wut, die in Schneiders Worten mitschwingt, viel mehr Trauer. „Hast du gelernt, dich selbst zu hassen?“
„Aber nein, Schneider. Ich bin besonders. Ich bin gleich.“ Stille.

„L’enfer est plein de bonnes volontés ou désirs“ (Saint Bernard of Clairvaux)

Autorin: Rahel
Setting: Garten
Clues: Trompete, Mischsalat, Wissen, Stein, Schreibtisch
Anm.: Seid ehrlich, auch mit euch selbst. Seid humorvoll, selbst wenn euch das Lachen vergeht. Seid rational in hitzigen Zeiten. Seid mutig im Ringen um Fortschritt. Seid gewappnet gegen die Fehler, die ihr anderen rechtmäßig zulasten legt. Seid Menschen und versteht, dass wir alle es sind.
Lasst die Welt nicht im Kreis mit dem Rücken zur Wand stehen, denn früher oder später werden Wände zum Schießen benutzt.
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