Blanche und Buck

Sie hatte heute beinahe den ganzen Tag nicht gesprochen, nicht einmal mit ihm und die Frage, die mir seit März durch den Kopf geisterte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis unsere gemeinsame Reise zu einem abrupten Ende kommen würde, wurde immer lauter. Die Dämmerung war schon beinahe der Nacht gewichen, als wir vor drei Stunden auf den Weg zur Mülldeponie eingebogen waren und nachdem es uns gelungen war, die richtigen Ersatzteile für den V8 zu finden, werkelte Buck etwas ratlos, aber entschlossen an dem Motor. Ich hatte mich zu ihm gesetzt, eine Kleinigkeit gegessen und ihm ein Stück Brot angeboten, welches er abgelehnt hatte; die Anspannung machte ihn appetitlos und erfüllte mich mit Sorge. Sein jüngerer Bruder hatte ihn heute Nachmittag angeschrien und ich war vom irren Lachen seiner Frau so erschrocken, als er Buck ins Gesicht geschlagen hatte. Die Liebe zwischen den beiden war genauso stark und ungestüm wie jene, die Buck und mich verband. Ich hatte ihn im Herbst vor dreieinhalb Jahren in West Dallas kennengelernt und seitdem sich unsere Blicke zum ersten Mal getroffen haben, hätte ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen können. Ich war froh gewesen, als er sich nach unserem Zusammenkommen seiner Strafe gestellt hatte und wie ich erwartet hatte, hatten diese zwei Jahre unser Band trotz allen Widrigkeiten gestärkt.

„Blanche, geh und such Deacon. Ich brauche ihn, um die schweren Teile richtig zu drehen“, sagte er und wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch über die ölverschmierte Stirn. Als ich zwischen den hoch aufgetürmten Müllbergen schlenderte, stieß ich aus Versehen eine lange Platte aus warmgrauem Eternit um und als ich das glatte Material berührte, fühlte ich mich an mein Elternhaus erinnert. Mein Vater, bei dem ich aufwuchs und dessen religiöser Eifer nie ganz auf mich übergesprungen war, war ein armer Farmer gewesen und hatte unser Zuhause in einer heißen Juliwoche ganz alleine mit den grauen Platten renoviert. Ich hob meine Unterarme schützend vor meine Brust, als etwas Winziges durch die triste Szenerie huschte und flink unter dem nächsten Müllhaufen verschwand. Mein Puls schnellte hoch und ließ sich lange Zeit, um sich wieder zu normalisieren, obwohl ich wusste, dass die kleine Gestalt nur eine Ratte war, die wahrscheinlich von einer unsichtbaren Katze flüchtete. Morgen, wenn unser Anführer nicht mehr so aufgeregt ist, würde ich mit ihm sprechen müssen und ich hoffte, dass er mir erlauben würde ins Hospiz zu fahren. Einst war ich ein bildhübsches Mädchen gewesen, ich hätte die Titelseite eines Hochglanzmagazins küren können, doch die Strapazen unserer Reise zollten ihren Tribut an meiner schmalen, ausgemergelten Statur und ich weiß, dass mein Körper nicht mehr lange durchhalten wird.

Ich fand W.D. hinter einem alten Chevrolet auf einem abgewetzten Reifen sitzend und eine Zigarette rauchend. Er nickte nur stumm, als ich ihn zu Buck schickte, schnippte den gerollten Tabak achtlos weg und lief wortlos mit schlurfenden Schritten davon. Ich vermutete, dass Deacon mich nicht sonderlich mochte, aber um fair zu sein, hatte ich auch nicht sehr viel für diesen rebellischen Teenager übrig.
Gelangweilt hob ich den angerauchten Glimmstängel vom Boden auf und inhalierte den ersten Zug so tief ich konnte, währendem ich den klaren Nachthimmel vergeblich nach einem bekannten Sternbild absuchte. Auf meinem Weg zurück zum Wagen, Buck und den anderen, blieb ich vor einem alten, maroden Kinderwagen stehen. Gedankenverloren befühlte ich die rissige Oberfläche des Schiebegriffs und strich zärtlich über den abgeschossenen Polsterstoff. Der schlimmste Tag in meinem Leben war kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag gewesen; es hatte geregnet und ich war von dem Mann abgeholt worden, den meine Mutter für mich ausgesucht hatte, demjenigen, der mir kurz darauf alle Hoffnung auf eigene Kinder geraubt hatte. Ich hatte geglaubt, niemals lieben zu können, doch Bucks stürmische Augen ließen mich meine Vorsicht vergessen und ich wurde für meine naive Torheit mit einem wunderbaren Ehemann belohnt; Marvin „Buck“ Barrow.

Ich blieb hinter einem mit wilden Kletterpflanzen bewucherten Geländer stehen, als ich ihre aufgeregte Stimme vernahm und obwohl ich nicht wusste warum, kauerte ich mich hin und belauschte die Auseinandersetzung der beiden. Ihr ging es in vielerlei Hinsicht wie mir, hatte sie sich doch auch Hals über Kopf in einen Gesetzlosen verliebt, sich ihm hingegeben, doch ich hätte um keinen Preis der Welt den Platz mit ihr tauschen wollen. Er war ein kontrollsüchtiger Mann und obwohl wir alle wussten, dass wir eben diesem zwanghaften Verhalten die Freiheit verdankten, war das Leben mit ihm schwierig und ihr ging es damit oft nicht anders.

Wie es zwischen den beiden üblich war, versöhnten sie sich sofort nach ihrem lautstarken Streit und da ich sie nicht in ihrem intimsten Moment belauschen wollte, trabte ich die letzten hundert Meter zurück auf den Hof der Mülldeponie, wo Buck selbstzufrieden auf der Motorhaube des Ford V8 saß und Deacon die vermeintlich unsichtbare Katze streichelte. Gepackt von einer unerklärbaren Nostalgie suchte ich auf dem Rücksitz nach ihrer Kamera und hielt den ruhigen Augenblick fest, beinahe so, als hätte ich die düstere Vorahnung, dass dies unser letzter gemeinsamer Abend sein würde. Morgen fahren wir nach Joplin, Missouri.

Autorin: Rahel
Setting: Mülldeponie
Clues: Kinderwagen, Eternit, Katze, Geländer, Hochglanzmagazin
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