Der Mann mit dem Bratschenkasten

Auf dem Rasen vor dem Universitätsgebäude saßen einige junge Leute, vermutlich vertrieben sie sich die Zeit bis zur nächsten Vorlesung beim gemütlichen Plausch mit Kommilitonen. Einige wenige nahmen sogar die Mühe auf sich, wenigstens den Anschein erwecken zu wollen, als würden sie gewissenhaft lernen und hatten zumindest ein oder zwei Bücher neben sich auf das trockene Gras gelegt. Vor einigen Wochen noch hätte sich Theo von der typischen Szenerie auf der Großen Schanze zu nostalgischen Schwelgereien hinreißen lassen, hätte sich gewünscht, noch einmal der Student sein zu können, der noch Enthusiasmus für Ideologien und große Gedanken aufbringen konnte. Heute aber ließ ihn der Anblick der friedlichen Menge kalt und anstelle dessen, auf der Mauer neben dem satten Grün auf die Unbekannte zu warten, schlenderte er zum Lifthäuschen und begutachtete von dort aus die Büroangestellten, die in ihren sorgfältig ausgewählten Kostümen Kaffee tranken, Zeitung lasen und allgemein damit beschäftigt waren, wichtig auszusehen.
Ein Zweiertisch am hinteren Ende der Terrasse war gerade freigeworden. Theo strich fahrig über das Revers seines Jacketts, hob seinen Koffer auf und bahnte sich dann einen Weg durch die gedrängten Tischreihen. Er war unsicher, ob sie ihn hier hinten überhaupt entdecken würde, also tat er, was jeder moderne Mensch in so einer Situation tun würde; er legte sein Handy auf die kalte Metallplatte, starrte kurz auf das Display und versicherte sich, dass die Vibrationsfunktion eingeschaltet war.
Nach geschlagenen drei Minuten ächzte der hochgewachsene Mann laut und konnte es sich nur knapp verkneifen, mit der flachen Hand gegen seine Stirn zu schlagen. Die Große Schanze war ein Selbstbedienungsrestaurant, er hatte also vergebens auf eine nette Bedienung gewartet und stand jetzt vor dem Dilemma, entweder ohne Getränk sitzen zu bleiben oder aufstehen zu müssen. Eine ganze Weile wog er die Vor- und Nachteile der beiden Optionen ab, bis er sich widerwillig erhob, seine Jacke deponierte und mit dem Smartphone in der Hand zum Eingang stapfte. Die Gefahr, dass Viola ausgerechnet jetzt auftauchen könnte, war weniger gravierend, als das unangenehme Gefühl, dass die anderen Gäste ihn misstrauisch beäugten, weil er als einziger vor einem leeren Tisch saß.
Die Schlange vor der Kasse war lang gewesen, obwohl Theo den Verdacht hatte, dass seine Aufregung die Wartezeit ins Unendliche verzerrt hatte. Egal, jetzt saß er wieder in seiner Ecke, kaute lustlos auf einem Gipfeli herum und sah aus wie ein ganz normaler Büroangestellter, der seine Mittagspause genoss. Alles war genauso, wie sein Kontakt es ihm aufgetragen hatte: Unauffällig.
„Bist du der Arzt?“, hörte Theo eine heisere Frauenstimme und wischte rasch die Gipfeli-Krümel von seinen Fingern, ehe er hochblickte. Augenblicklich formte sich ein ekliger Pfropfen in seiner Kehle, sodass er bloß nicken konnte. Die junge Frau mit den roten Dreadlocks grinste, zog den zweiten Stuhl zu sich heran und setzte sich dann verkehrt darauf. Wie zum Teufel konnte er in Gesellschaft dieser schrillen Dame nicht auffallen, fragte Theo sich und konnte nichts gegen seine immer weiter anschwellende Nervosität unternehmen.
„Wollen wir gleich zum Geschäftlichen kommen?“, fragte sie mit auf der Rücklehne verschränkten Armen. Erneut nickte Theo, besann sich dann aber eines Besseren und war sogar ein bisschen stolz darauf, sich von der unerwarteten Überraschung nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
„Sind Sie Viola?“ Theo kniff die Augen zusammen, so als würde er in die Sonne blinzeln. Die Angesprochene lächelte und deutete zur Antwort auf den Blumenkranz ihn ihren verfilzten Haaren. Theo verstand nicht und zuckte mit den Schultern.
„Veilchen“, schnaubte sein Gegenüber deutlich genervt, „Viola gracilis um genau zu sein. Mensch, wann findet Dennis endlich einen Arzt, der ein wenig Allgemeinbildung hat?“
„Was?“ Theo hoffte, dass sein Tonfall verärgert klang, obwohl er in erster Linie irritiert war. Hatte die Punkerin ihm tatsächlich vorgehalten, er wäre ungebildet oder war das schon wieder der Stress, der ihm etwas vormachte, so wie eben im Restaurant?
„Egal“, seufzte Viola und lenkte die Unterhaltung zurück auf das Wesentliche. „Hast du alles, wonach Dennis gefragt hat?“ Ihre Unterarme waren leicht gebräunt und auf ihrer Nase schimmerten einige Sommersprossen durch das viele Makeup.
„Ja“, sagte Theo und stupste mit dem rechten Fuß gegen seinen Koffer. „Aber bevor ich es Ihnen gebe, will ich noch etwas wissen.“ Er hatte die folgenden Worte in den letzten Tagen mindestens hundertmal geübt, hatte sie sogar auf der Fahrt vom Krankenhaus zum Bahnhof leise vor sich hingemurmelt und dennoch klangen sie nicht annähernd so bestimmt und wie er wollte: „Ich muss wissen, dass Ihr nicht an Kinder verkauft. Wenn Sie mir das nicht garantieren können, können Sie mich mal kreuzweise!“
Viola lachte laut auf und gab damit Theos Selbstbewusstsein den letzten Stoß. Wieso hatte er sich bloß in solche Machenschaften verwickeln lassen, sinnierte er geknickt, während die bunt gekleidete Frau sich zu fangen versuchte.
„Okay“, begann Viola und räusperte sich dann heftig, wohl um sich vom Kichern abzuhalten. „Du bist doch Arzt, also bist du nicht auf den Kopf gefallen, richtig?“
Mit tief gezogenen Brauen linste er zu der kleinen Frau, die von einem Cockerspaniel dicht an ihrem Tisch vorbeigezogen wurde. Theo hätte am liebsten mit irgendeiner kindischen Gemeinheit geantwortet. Leider aber fiel ihm außer einer Bemerkung zu ihren Vogelnesthaaren nichts ein, weswegen er froh war, sein Schweigen zu dieser Frechheit auf die vorbegehende Passantin schieben zu können.
„Wie stellst du dir das denn vor?“, sprach Viola weiter, ohne einen Einspruch abzuwarten oder sich um die Hundehalterin zu kümmern. „Als erstes wäre da die Frage, was ein Kind überhaupt ist. Alle unter Achtzehn? Und was ist dann mit denjenigen, die noch in ihren Dreißigern kaum fähig sind, eine vernünftige Entscheidung zu treffen? Dazu kommt noch das mit der Kontrolle. Wir können dir ja gerne ein Versprechen geben, aber wie du weißt, sind wir verfluchte Verbrecher, denen du nicht trauen solltest. Willst du etwa unsere Dealer beschatten oder wäre es dir lieber, wenn wir ihnen Kameras umhängen, damit du nachts ruhig schlafen kannst?“ Sie lachte wieder, doch dieses Mal fühlte sich Theo nicht davon angegriffen, sondern von der Tatsache, dass er soeben von einer Kleinkriminellen überlistet worden war. Eigentlich hatte sie ja Recht, das musste er zugeben.
Viola schien endlich zu begreifen, dass sie behutsamer mit dem neuen Arzt umzugehen hatte und wischte sich das Grinsen mit einem Schluck aus seiner Kaffeetasse von den Lippen, ehe sie ruhig erklärte: „Schau, es ist einfach. Entweder du willst die Kohle und machst, was wir dir sagen oder aber du nimmst deinen dämlichen Geigenkasten und gehst jetzt nach Hause.“
Theo überlegte eine Weile, sah dem gehetzten Treiben bei den Aufzügen zu und beobachtete all die geschäftigen Menschen, die bald zurück zu ihren Arbeitsplätzen marschieren würden. Unter ihnen waren vielleicht auch einige Banker, die für seine Gläubiger arbeiteten. Er zögerte, schob dann aber seinen Koffer unter dem Tisch zu Viola, stand auf und meinte trotzig: „Es ist ein Bratschenkasten, jemand mit guter Allgemeinbildung sollte das wissen.“ Er drehte sich nicht nach ihr um und beschloss, im Krankenhaus erst einmal einige Schlaftabletten für sich einzustecken.

Autorin: Rahel
Themenvorgabe: Viola
Diese Kurzgeschichte erschien erstmals 2015 in der Anthologie „Der Medicus und seine Viola“ vom Vidal-Verlag. Da das Buch mittlerweile vergriffen ist, haben wir uns entschieden, sie euch nun hier zugänglich zu machen.
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