Der Reisende

Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.

Er war der letzte wahre Extremophile, oder zumindest der einzige, den er kannte. Natürlich hinkte der Vergleich etwas, denn als Mensch war er faktisch ein mesophiler Organismus (und wer hätte es gedacht, er funktionierte nur unter aeroben Konditionen), doch trotzdem konnte er unter den feindlichsten Bedingungen überleben. Natürlich würde er im Weltraum einen Astronautenanzug benötigen, aber darüber beschwerte er sich nicht, das war nicht seine Art. Er glaubte an etwas und dafür war er auch bereit Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, so einfach war das. Sie sagten wo er hingehen musste und er ging, sie nannten einen Auftrag und er führte ihn aus. Er war einer der letzten wahren Gläubigen, nicht im religiösen Sinne, sondern – wie eigentlich? Kurz haderte er mit sich selbst, denn das Wort „Patriot“ gefiel ihm nicht. Es ging nicht um die Vereinten Systeme, sein Zuhause, sondern um die Werte, für die es eintrat. Freiheit. Demokratie. Gerechtigkeit. Wie auch immer man es nennen wollte. Und nicht nur, dass er an diese Werte glaubte, er war auch der unerschütterlichen Überzeugung, dass jedes Mittel recht war, um sie zu erhalten. So war er, der ehemalige Forschungsoffizier der Raumflotte, gerade deswegen, wegen seiner Idee von einer gerechten Welt, beim Geheimdienst der Vereinten Systeme gelandet. Und was er tat war rasch und sauber, effizient. Niemand hätte ihn je erwischt oder ihm etwas nachweisen können, die meisten glaubten, dass er gar nicht existierte. Nur einige Verschwörungstheoretiker und verschrobene Raumfahrer erzählten sich in schummrigen Bars Gruselgeschichten über ihn. Doch niemand kannte seinen wahren Namen, alle nannten ihn immer nur den Reisenden.

Gab eigentlich die Opiumhöhle in Xperza, der Hauptstadt des Planeten Spes, im Vergleich zu manchen anderen Orten, an denen der Reisende schon gewesen war, Anlass dazu, über Extremophilie nachzudenken? Es war weder besonders gefährlich noch außerordentlich abstoßend hier und die wenigen Kunden schienen sich keinen Deut um den Reisenden zu scheren. Abgelegene Kolonien am Rand der besiedelten Galaxis und das Territorium der kommunistischen Ordnungsbrigade, das waren die Orte gewesen, an denen sich der Reisende eine dicke Haut zugelegt hatte. Was er getan hatte, was er wusste, darüber durfte er nicht sprechen, sonst würde die ihm implantierte Kapsel sofort ein Gift freisetzen und ihn innert Sekunden töten. Niemand käme auf falsche Gedanken, denn es würde wie ein plötzlicher Herzstillstand aussehen, welcher dank der modernen Medizin ein seltenes, doch nicht minder gefährliches Ereignis geworden war. Dasselbe von einer genetisch veränderten Schnecke extrahierte Gift war auch seine liebste Waffe; ein paar Tropfen davon reichten, um sich den größten Wandschrank von einem Gegner ein- für allemal vom Hals zu schaffen. Der Reisende schätzte die Konfrontation nicht, er schlug meistens aus dem Hinterhalt zu, effizient und unauffällig. Und so war auch heute die Opiumpfeife seines Ziels längst präpariert, sodass seine Zielperson sich hinlegen und den ersten Zug davon nehmen müsste.
Der Reisende seufzte zufrieden und lehnte sich entspannt zurück, nun galt es zu warten. Es gab keinen Grund, nervös zu sein, dies war bei weitem nicht sein erstes Mal und die Routine hatte ihn längst fest im Griff. Insgeheim fragte er sich, wie schlecht dieser feindliche Spion wohl sein musste, dass er einen festen Tagesplan hatte und zu allem noch opiumsüchtig war, sodass es jedem Gegner ein Leichtes war, ihn abzufangen. Die Kellnerin riss ihn aus seinen Gedanken, als sie zu ihm trat und ihm die zuvor bestellte Tasse Tee hinstellte. „Zucker?“, fragte sie höflich und schien nicht zu bemerken, dass er noch keinen Zug aus seiner Opiumpfeife genommen hatte. Der Reisende schüttelte den Kopf und bedankte sich und während sie sich leicht verneigte und wieder im hinteren Teil des Raumes hinter einem Vorhang verschwand, lächelte er zufrieden. All diese Menschen auf all diesen Welten – Leben, welche sich nur kurz hier und da berührten oder überschnitten, flüchtig, beinahe bedeutungslos. Und dann kam er des Weges, meist mit einer Passage auf einem günstigen Reiseschiff, pickte ein einzelnes dieser unzähligen Leben heraus, zerstörte es und verschwand wieder, ohne dass jemand eine Ahnung davon hatte, was vor sich gegangen war. Nicht, dass er ein besonders philosophischer Mensch wäre, doch er hatte seine Momente, wo er sich gerne mit solchen Gedanken beschäftigte, auch wenn er sich insgeheim manchmal  für das Gefühl der Überlegenheit etwas schämte. Genussvoll nahm er einen Schluck von seinem Tee. Auch, wenn er langsam eine schwache Anspannung und Vorfreude verspüren konnte, so war er doch sehr gelassen. Mochte kommen, was wolle.

Als die kleine Glocke über der Tür in einem hohen Ton bimmelte, wandte er sich möglichst unauffällig um. Ein frostiger Luftstoß wehte einige vom Wintersturm aufgewirbelte Schneeflocken in den Raum und ein Mann um die Vierzig trat ein. Der Reisende erkannte in ihm sofort seinen Widersacher, er hatte sich das Hologrammbild lange genug angesehen, um den Spion in einer großen Menschenmenge ausmachen zu können, bevor er es unwiderruflich gelöscht hatte. Der Fremde hängte seinen Mantel an den hölzernen Kleiderständer, als die Kellnerin hinzutrat und ihn zu seinem Stammplatz begleitete. Alles in dem Verhalten der beiden schien eingespielt zu sein, nichts war außergewöhnlich so dass sein Widersacher keinen Grund zur Besorgnis gehabt hätte.
Unauffällig beobachtete der Reisende wie der andere Mann sich setzte und die Kellnerin nach einem kurzen Gespräch schließlich den Raum verließ. Mit einem Lächeln streckte sich der feindliche Spion auf der Liege aus und griff nun endlich nach seiner Pfeife. Nun käme gleich der Moment, dachte der Reisende sich zufrieden und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse, schon fast gelangweilt beobachtete er die ersten Symptome des Fremden, der wohl nie auch nur vermuten würde, dass er gerade das Opfer eines Anschlags geworden war.

Es hatte nicht lange gedauert und der Todeskampf des Spions war eher ein rasches Ableben als ein wahrer Kampf gewesen. Keiner der Gäste hatte die Opiumhöhle verlassen dürfen, während der Gerichtsmediziner gleich vor Ort die Leiche untersucht hatte und schlussendlich zu Erkenntnis gelangt war, dass der Verstorbene natürlichen Umstanden zum Opfer gefallen war. Nun, da der Reisende entlastet war, erhob er sich, um sich auf den Heimweg zu machen. Es hatte ihm Spaß gemacht, den ahnungslosen Gesetzeshütern bei der Arbeit zuzusehen. Spaß führte zu Leichtsinn und war dumm, aber in diesem Fall einigermaßen ungefährlich, sodass er ihn sich erlauben konnte und vor allem, wollte.
Der Reisende streifte seinen Mantel über und trat unter der bimmelnden Türglocke hinaus in den winterlichen Vormittag. Auf den Straßen was verhältnismäßig wenig los, dachte er sich, während er durch den Schnee zum nächsten Starbus-Terminal stapfte, eine Passage hatte er sich bereits gebucht. Mit diesem Planeten wäre er vorerst fertig.

Mit einem Mal stolperte der Reisende und fiel der Länge nach auf die unter seinem Gewicht knirschende Schneedecke. „Verflucht“, murmelte er und versuchte aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Verwirrt sah er sich um und fragte sich bereits, was der Grund für seinen Schwächeanfall sein mochte und überlegte sich, ob er wohl Fieber hätte. Seine Stirn fühlte sich glühend an und ihm war speiübel. Es dauerte einige Sekunden, in denen er viel schwächer wurde, bis sich eine eiskalte Angst in ihm breitmachte. Jemand musste ihm etwas in seinen Tee gemischt haben. Die Kellnerin? Doch wieso sollten sie ihn loswerden wollen? Diese Frage ließ ihn die letzten Augenblicke seines Lebens nicht mehr los, begleitet von einem raschen Gedanken an Extremophilie. Und so endete der Pfad des Reisenden auf einer unbedeutenden Welt, draußen im Schnee, während seine Nachfolgerin, die noch keine Sekunde an ihrer Aufgabe und ihren Werten gezweifelt hatte, sich in der Opiumhöhle umsah und schließlich ihren Mantel anzog, nur um dann mit einer billigen Passage auf eine andere Welt zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Autorin: Sarah
Setting: Opiumhöhle
Clues: Zucker, Schnecke, Schneedecke, Astronautenanzug, Extremophile
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