Die Killer im Comicbuchladen

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Komm zurück, ich will doch nur spielen“, rief Lenny durch den Comicbuchladen, bevor er langsam die Treppe hoch schlich. Die Dielen des alten Gebäudes knarrten unter seinen Füßen, auch die Tatsache, dass er Sneakers trug, änderte daran nichts. Das gelbliche Licht der einsamen, etwas entfernten Straßenlaterne zeichnete den Schriftzug des Schaufensters als kaum leserliches, verzerrtes Muster auf den Boden ab und draußen pfiff der Wind um das Gebäude, rüttelte an den Bäumen. Eine nasse Zeitungsseite klatschte gegen das Fenster, blieb kleben und entlockte Jenny, die nahe hinter Lenny schlich, ein erschrockenes Quietschen. Sie fuhr zusammen und Lenny konnte dabei das Rascheln ihrer zum Pferdeschwanz gebundenen Haare hören. „Pst“, zischte er, hob seine Stimme aber sofort wieder zu einem, an ein grauenhaftes Stakkato erinnerndes, Kichern an, dass dem Joker jede Ehre gemacht hätte und feixte: „Oh Benny, come out and play!“
Benny kam nicht heraus, denn niemand kam gerne heraus, wenn der Ripper sein Unwesen trieb. Aus der Ferne erklang der Motor eines sich rasch nähernden Autos. Jenny bedeutete ihrem Freund in einem Anflug übereifriger Paranoia, ruhig zu sein, nicht aufzufallen. Eilig versteckte Lenny die große Klinge hinter seinem Rücken und duckte sich unter das Geländer, die Frau in dem Zwanziger-Jahre-Outfit tat es ihm gleich. Im nächsten Augenblick donnerte ein Pick-Up über die Main Street, viel zu schnell für die regennasse Straße, die Rücklichter erfüllten den unbeleuchteten Raum für einen Moment mit blutigem Rot.
„Der ist ja wahnsinnig“, flüsterte Jenny und erhob sich wieder, begleitet vom Rascheln ihres Kleides. Lenny nickte, rückte seine Maske zurecht und meinte halblaut: „Ja, manche Leute sollten besser aufpassen, man ist so verdammt schnell tot.“ Sein Ernst verwandelte sich zu einem amüsierten Grinsen, als er seine Waffe wieder fester umklammerte und hinzufügte: „Apropos sterben: Jetzt ist Benny fällig.“
Jenny hakte sich bei dem Ripper ein und hauchte: „Ach, Schatz, ich finde es so verdammt heiß, zusammen mit dir Menschen zu jagen!“ Sie konnte ein Glucksen nicht unterdrücken und Lenny war nicht ganz klar, wie ernst seine Freundin gerade war; vermutlich wusste sie es selbst nicht so genau.
„Das nächste Mal, wenn ich an einem Wunschbrunnen stehe, werde ich eine Münze hineinwerfen“, versprach er und fuhr ihr durchs Haar. „Du weißt schon, nur um mir zu wünschen, dass wir noch viele Feiglinge aufschlitzen.“
Das Holzschild, das draußen über der Tür hing, quietschte gruselig und unterbrach seinen romantischen Gedankengang. Jenny verkrampfte sich, offenbar hatte auch bei ihr der Jagdinstinkt wieder über die erotischen Phantasien gesiegt; kein Problem, dafür gab es schließlich zuhause noch genug Zeit. „Vielleicht ist er irgendwo da vorne, in der Superman-Ecke?“
Lenny befand diese Idee für überprüfenswert, hob sein Messer und pirschte los. Er wusste, dass seine Freundin ihm den Vorsprung ließ, weil er ihre klackernden Absätze nicht hörte. Beinahe wäre er über den leblosen Körper von Kenny gestolpert, der Trottel im Pink-Panther-Kostüm hatte nicht lange durchgehalten, knapp zwei Minuten, bis ihm Lenny die Kehle aufschlitzen konnte; Licht aus. Vorsichtig näherte sich der Ripper dem Regal und linste um die Ecke. Nichts, kein Benny, kein Opfer, nur die Hulk-Hände im von Regentropfen gesprenkelten Schaufenster. Für diesen Kill würde er hart arbeiten müssen.
Gerade als er bereit war, Jenny zuzurufen, dass das Erdgeschoß sauber sei, hörte er seine Freundin bestürzt schreien, gefolgt von einem Gurgeln und einem Plumpsen. Lenny fuhr herum, erkannte einen Schemen, der ins Untergeschoß entwischte. Panisch brüllte er: „Jenny!“ Er hastete los, nahm alles wie durch einen Schleier wahr, denn er ahnte, welches Grauen er vorfinden würde. Tatsächlich, da lag sie, auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, die Augen geöffnet. Trotz des Halbdunkels konnte er das Blut auf ihrem Hals sehen, dort wo dieser Drecksack Benny ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Noch bewegten sich ihre Pupillen und ihre Lippen formten Worte, ein letzter Hauch, matt. Er beugte sich zu ihr hinunter, ergriff ihre Hand, drückte sie so fest er konnte, spürte, dass sie den Druck erwiderte. Nun verstand er sie: „Er ist im Keller … Räche mich.“ Ihr Griff ließ nach, sie zuckte und hauchte: „Ich liebe dich …“ Die Hand erschlaffte und als er aufsah, bemerkte er, dass sie ihre Lider geschlossen hatte und sich nicht mehr rührte.
Nach einem endlos scheinenden Moment flüsterte er: „Ich liebe dich auch, tote Schönheit.“ Nie hätte er sich träumen lassen, dass ihre an Bonnie und Clyde erinnernde Romanze so endete. Wie viele Leute hatten sie im Laufe der Jahre schon umgebracht? Vierzig, fünfzig? Nie hatte einer von ihnen auch nur einen Kratzer davongetragen, sie waren Naturtalente im Töten gewesen. Und jetzt lag sie einfach so vor ihm, seine Geliebte, war von der Täterin zum Opfer geworden. Sie lag da, wie man sich eine auf dem Boden drapierte, in Szene gesetzte Leiche vorstellte; vermutlich ein Glückstreffer. Zugegeben, sie war eine schöne Tote, hatte eine vornehme, dank dem Gangsterbraut-Outfit nicht ganz unerotische Eleganz, sogar ihre Verletzung war perfekt, fast monochrom: Dunkles, geronnenes Blut auf heller Haut, kein aufgeschnittenes Gewebe zu erkennen, eine kleine Lache auf dem Boden. Lenny zögerte nur eine Sekunde, dann kramte er das Smartphone aus seiner Tasche und knipste ein Foto; ohne Blitz, denn das wäre Jennys Abgang nicht gerecht geworden.
Er wusste was jetzt zu tun war, kannte den Narrativ aus hunderten Filmen, Comic-Büchern, Video-Games. Man müsste an Gedächtnisverlust leiden, um sich nicht an diese Trope zu erinnern: Der einsame Held hat nach dem mit Pathos erfüllten Tod seiner Angebeteten nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt, nichts, außer der Rache! Auch Lenny erging es nicht anders, es fühlte sich natürlich an, es fühlte sich richtig an; Jetzt würde Benny dran glauben! Ein letztes Mal strich er der wunderhübschen Leiche durchs Haar, trauerte ihren gemeinsamen Mord-Eskapaden nach, dann erhob er sich bestimmt und marschierte, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, ruhig zu bleiben, die Kellertreppe hinunter.
Stufe um Stufe tauchte er tiefer ein in den Schlund, bis er schließlich die dünne, ächzende Holztür aufstieß und laut keifte: „Benny, du Dreckschwein, das wirst du bezahlen!“
Im nächsten Moment erstarrte er, denn der Anblick, der sich ihm bot, hatte er nicht erwartet: Er trat in ein Spiegelkabinett ein. Einige rote Glühbirnen baumelten von der Decke und verbreiteten ein schummriges Licht, welches ihn, nachdem er aus der Dunkelheit des Ladens kam, harsch blendete und die Orientierung erschwerte.
„Hey, Lenny, deiner Kleinen hab ich’s gegeben, was?“, spottete die Stimme des Ladenbesitzers durch das Labyrinth der optischen Täuschungen. Wütend umklammerte Lenny das Messer fester und schritt entschlossen in das Spiegelkabinett, ohne auch nur einen Gedanken mehr als notwendig darauf zu verschwenden, dass sein Gegner in keiner der unzähligen Spiegelungen zu sehen war. Ab und an sah er auf den Boden, so hatte er die beste Gelegenheit, zu sehen, ob er gleich gegen eine Wand lief, was bei all den dank der baumelnden Glühbirnen bewegten Schatten nicht immer einfach war. Er hatte Benny für ein leichteres Opfer gehalten, immerhin saß der Comicbuchladenbesitzer die halbe Zeit nur auf dem Klo und litt unter chronischem Durchfall, den ihm sein vermaledeites Chili bescherte.
„Zeig dich, wenn du ein …“ Der Knall war so laut, dass er scharf durch Lennys Schädel hallte. Ein Augenblick der Nachlässigkeit hatte ausgereicht und der Ripper war ungebremst in einen Spiegel gelaufen. Das Glas splitterte, die Maske war unsanft gegen sein Gesicht gedrückt worden, Lenny verlor das Gleichgewicht und landete schmerzhaft auf seinem Steißbein. „Fuck!“, rief er impulsiv aus, doch auch still zu sein könnte ihn nicht retten. Ein Huschen hinter ihm auf dem Teppich, dann war Bennys Messer an seiner Kehle, fuhr ihr entlang von einem Ohr bis zum anderen.

Lenny kannte die Regeln. Er kippte hintenüber und verdrehte die Augen, während der Himbeersirup, den sie als Blut verwendeten, unter sein T-Shirt rann. All die Jahre waren er und Jenny unbesiegt gewesen, hatten jeden Teilnehmer von Bennys bekloppten Kostümpartys in der anschließenden Menschenjagd niedergemetzelt, das perfekte Paar; und jetzt das!
„Game over!“, skandierte Benny. „Team Grün hat gewonnen. Ich fasse es nicht, wir haben euch tatsächlich fertiggemacht!“
Kenny und Jenny waren ebenfalls hinzugetreten und sie fragte beeindruckt: „Du hast in deinem Keller ein Spiegelkabinett eingerichtet, und das nur, um uns in diesem Spiel zu schlagen?“
Lenny konnte die Antwort seines Kumpels nicht mehr hören, die Welt um ihn herum hatte zu existieren aufgehört. Er starrte seine Freundin an, umklammerte den Griff seines Theatermessers, fühlte seinen Pulsschlag; Sie war eine so wunderschöne Leiche gewesen, so besonders, vollendet, graphisch wie ein Werbeplakat aus den fünfziger Jahren; und es gab keine Möglichkeit, diesen einmaligen Augenblick wieder zu erleben, in seiner ganzen realen Pracht auszukosten. Oder doch?

Autorin: Sarah
Setting: Comicbuchladen
Clues: Wunschbrunnen, Gedächtnisverlust, Spiegelkabinett, Durchfall, Pferdeschwanz
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4 Gedanken zu „Die Killer im Comicbuchladen“

    1. Hallo lieber Timo

      Vielen Dank für die Lorbeeren :) Ich muss dir jetzt aber offen und erhlich gestehen, dass auch ich nicht anders konnte, als andauernd zu grinsen ;)

      In der Redaktion (hach, klingt das mondän) verneigt sich und grüsst,
      Sarah

  1. Liebe Sarah, auch diese Geschichte hätte man nicht spannender schreiben können. Du magst anscheinend so wie ich Kettensätze, wo man immer noch ein kleines Detail einflechten kann, als Erklärung oder zum besseren Verständnis des Vorherigen. Weiter so, bin gespannt auf deine nächste Geschichte.
    LG ~Dark Raven

    1. Hallo liebe Dark Raven

      Vielen Dank für die Komplimente! Und ja, ich verschachtle sehr gerne Sätze ineinander, das hasst du richtig beobachtet :)

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Sarah

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