Debug, oder: Das Universum außerhalb der Nussschale

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Horst Hannes von Holzenheimer war ein komisches Tierchen. Zumindest dachten das immer alle anderen Insekten und sie scheuten sich nicht, es ihn mit dummen Sprüchen wissen zu lassen. Das Hauptproblem war nicht einmal, dass er ein Redbug war, von denen es sehr wenige in der Gegend gab, sondern, dass er dafür bekannt war, im Geheimen seine verrückten Pläne zu schmieden und über Philosophiebüchern zu brüten, anstelle davon, das tropische Klima bei harter Arbeit zu genießen. Er verbrachte den großen Teil seiner Zeit in und auf einer hoch am Geäst baumelnden Nussschale namens Rothenburg, die er bei Friedrich Franz von Flederkopf, einem außerordentlich geschäftstüchtigen Fledermaus-Grundbesitzer, gemietet hatte. Friedrich hatte ihm nach zähen Verhandlungen einen fairen Preis angeboten und Horst hatte zugestimmt, denn bei den aktuellen Immobilienpreisen war die Residenz Rothenburg ein wahres Schnäppchen. Und so führte Horst ein schönes Leben, beobachtete die Welt um ihn herum und erledigte seine Arbeit zuhause vor dem Computer.
Der Vorteil an Horsts Lebensstil war, dass er immer dann Pause machen konnte, wann ihm danach war. Er mochte es sichtlich, sich während seiner Mittagspause in den durch das Blätterdach fallenden Sonnenstrahlen zu räkeln und gemächlich mit seiner Nussschale im Wind zu schaukeln. So war es auch heute, bis ihn das nahe Summen seiner Nachbarin aus dem Halbschlaf aufwachen ließ. Auch wenn es nicht optimal war, in der Nähe eines Bienenstocks zu wohnen, für Horst war Verkehrslärm ein Teil des Lebens und er hatte sich längst daran gewöhnt.
„Hey, mal wieder beim Mittagsschläfchen?“, rief die fleißige Maya Marina von Maienhof, die sich im Geschäft des Honigtransports einen Namen gemacht hatte. Horst streckte sich bedächtig und sah auf. Auch wenn Maya kein Verständnis für seine gemütlichen Pausen hatte und auf ihren langen Flügen lieber den neuesten Bestseller statt Schopenhauer las, so verstand er sich mit der gegensätzlichen Biene doch erstaunlich gut. Er bejahte und erkundigte sich: „Wie geht es dir? Schon lange nicht mehr gesehen.“
„Stimmt“, antwortete Maya, bevor sie mit ihrer Geschichte begann. „Ich war in Europa, auf der Honighändler-Konferenz. Hast du gewusst, dass da Schnee liegt? Und all die Berge und diese fremden Pflanzen …“
Gespannt lauschte Horst ihren Abenteuern und fragte sich, ob er auch eines Tages auf Geschäftsreise gehen würde. Er mochte seine Arbeit als Debugger, doch manchmal hätte er auch gerne den einen oder anderen Interkontinentalflug miterlebt, denn man lebte ja schließlich nur einmal. „Carpe Diem“, wie Friedrich immer zu grüßen pflegte. Flederkopf hatte als Spekulant das große Geld gemacht, Jahre vor dem Platzen der Immobilienblase, sodass es sich nun auch einen entsprechenden Lebensstil leisten konnte. Horst dagegen war mit seinen bescheidenen Verhältnissen zufrieden, auch wenn es hier und da mal etwas knapp wurde.
Na super, er war wieder mit seinen Gedanken abgedriftet, dachte sich Horst als Maya mit ihrer ausschweifenden Erzählung endete. Ihre Beschreibungen hatten so geklungen, als wäre sie gerade aus einem Land zurückgekehrt, in dem Milch und Honig flossen. „Oh, verdammt, schon so spät?“, murmelte sie besorgt bei einem Blick auf die Armbanduhr. „Ich muss unbedingt weiter, die Chefin mag es nicht, wenn ich mich verspäte.“
„Immer emsig, ich weiß“, entgegnete Horst grinsend. „Ihr habt eine lebendige Wirtschaft, das muss man euch lassen. Aber wenn ich mir die Grösse von den Apartments in eurem Stadtstaat ansehe, bin ich richtig froh, dass ich hier draußen in Rothenburg lebe.“
„Dafür haben wir mit dem ‚Hive‘ die angesagteste Disco der ganzen Gegend“, meinte Maya lachend. „Ein brummendes Nachtleben ist genau das Richtige für mich.“
„Jedem das Seine“, murmelte Horst, darüber amüsiert, wie unterschiedlich sie doch waren. Maya nickte und meinte: „Ich sehe dich morgen Mittag wieder auf ein Schwätzchen.“
„Klar, bis dann“, entgegnete Horst und winkte ihr zum Abschied zu, wandte sich dann um, um sich wieder in seine Nussschale zurückzuziehen.

Unglaublicher Lärm riss Horst Hannes von Holzenheimer in derselben Nacht aus dem Schlaf. Er konnte wildes Rufen hören, Befehle und Explosionen. Desorientiert strauchelte der Redbug zum Ausgang. Erst konnte er nur einen Stern durch das Blätterdach erkennen und er fragte sich, woher der ganze Radau kommen mochte. Dann, als er auf den kleinen Balkon seiner Nussschale krabbelte und nach unten sah, begriff er, dass er nicht geträumt hatte: Unter ihm breitete sich ein Riesenchaos aus, das jeder Beschreibung spottete. Er konnte hören, wie Waffen abgefeuert wurden und sah eine regelrechte Schlacht. Überall standen Äste in Flammen, unzählige Bienenstaffeln brummten bedrohlich in Angriffsformation durch die Luft und panische Schreie erklangen von den tieferen Ebenen.
Mit einer Mischung aus Verwirrung und blanker Angst sah Horst sich um und versuchte herauszufinden, was er als Nächstes tun könnte. Rothenburg schien hoch genug zu hängen, um vorerst nicht in Gefahr zu sein, doch er konnte nicht einmal die Angreifer sehen, also hatte Horst auch keine Möglichkeit, sich vorzubereiten.
„Käferkacke“, zischte er gehetzt und überfordert, als er ein vertrautes Summen hören konnte. Rasch wandte er sich um und erkannte Maya, die neben seinem Balkon in der Luft schwebte und außer Atem rief: „Kommst du?“
„Was ist denn los?“, wollte Horst wissen und deutete mit seinem dürren Käferarm auf das Inferno unter ihm.
„Zombieschnecken“, erklärte Maya. „Sie haben schon vier Ebenen eingenommen und wollen ganz nach oben kommen, uns bleibt nicht mehr viel Zeit!“
„Okay“, sagte Host und hastete in seine Nussschale, um ein paar Habseligkeiten in ein Bündel zu packen. Er wusste, dass er nur Handgepäck mitnehmen durfte, mehr war auf Bienenflügen wegen dem Übergewicht nicht erlaubt. Überstürzt kramte er das Familienalbum, den Laptop und sein Handy zusammen, warf alles zusammen mit ein paar anderen Habseligkeiten in eine Reisetasche und kam wieder hinaus. Horst befürchtete, dass sie gegen Zombieschnecken keine Chance hatten, diese vermaledeiten Infizierten mit ihren leuchtenden Fühlern wollten um jeden Preis auf die höchsten Äste und zerstörten dabei alles auf ihrem Weg. Rothenburg war verloren, die ganze Gegend würde fallen und es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnten. Traurig wandte er sich ein letztes Mal um und seufzte, bevor er seinem alten Zuhause endgültig den Rücken zukehrte und auf Maya stieg. „Danke, dass du an mich gedacht hast“, sagte er, als sie abhob und die Beine einzog.
„Ich lasse doch meinen besten Kumpel nicht im Stich“, erwiderte sie überzeugt und steuerte sicher durch die Schlacht, die um sie herum tobte. Nicht weit entfernt war eine Bienenstaffel zu sehen, die mit knatternden Geräuschen Honigprojektile durch ihre Rüssel abfeuerte, als eine Motte, die zu nah ans Feuer geraten war, brennend sehr nahe an ihnen vorbeidonnerte und an einem Baumstamm explodierte. Horst duckte sich instinktiv weg, weil ihn der Feuerball blendete und schrie über den Lärm hinweg: „Das ist ja krank!“
„Die Luftunterstützung kommt erst, wenn sie Sichtkontakt haben“, erklärte Maya während sie aus der Kampfzone in ein ruhigeres Gebiet schwebten. „Die Vögel erwischen die meisten Zombieschnecken, aber das funktioniert nur, wenn sie sie auch sehen können.“
„Und was machen wir bis dahin?“, fragte Horst und sah sich unruhig um. Das Chaos hinter ihnen war kaum mehr zu erkennen, sie glitten über den Baumkronen durch die Luft und nichts als der Sternenhimmel breitete sich über ihnen aus.
„Wir tun das einzig Schlaue“, entgegnete Maya. „Wir bereisen die Welt, bis sich hier alles wieder eingerenkt hat. Du wolltest doch schon immer andere Länder kennenlernen.“
Horst überlegte, bis sie Reiseflughöhe erreicht hatten und der Dschungel unter ihnen ziemlich weit entfernt zu sein schien. Mit einem Kribbeln im Bauch, von dem er nicht wusste, ob es von der Aussicht auf Abenteuer oder seiner leichten Flugangst kam, rief er schließlich entschieden: „Ja, das tun wir!“
Maya steuerte auf die weite Welt hinaus, in eine ungewisse Zukunft. Und so begannen die großen Abenteuerreisen des Horst Hannes von Holzenheimer und der Maya Marina von Maienhof.

Autorin: Sarah
Setting: Nussschale
Clues: Spekulant, Stern, Redbug, Schnee, Bestseller
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Red Bug Books. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

6 Gedanken zu „Debug, oder: Das Universum außerhalb der Nussschale“

    1. Liebe Ann-Bettina,
      Vielen Dank – faierweise muss ich da das Lob auch an die Leute von Red Bug Books weitegeben, die uns wirklich sehr unterhaltsame und lustige Clues gespendet haben :)

      Danke und geniess die (vielleicht) arbeitsfreien Tage,
      Sarah

    1. Lieber Randy Redbug,
      Es freut mich sehr zu lesen, dass der Redbug sicher bei Euch gelandet ist :) Ich bedanke mich auch, es hat mit diesen Clues wirklich Spass gemacht!
      Und nach diesen ungewohnt kurzen Zeilen verabschiede ich mich schon wieder, da ich langsam tippe, weil ich eine (C)ouch auf meine Hand gestellt habe ;)

      Liebe Grüsse,
      Die kreative, aber offenbar nicht koordinierte, Sarah :)

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