Homo einsteinensis, oder wie man richtig Theater macht

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Du bist so nützlich wie ein Stein!“, hatten sie ihn nach seiner ersten Jagd angebrüllt und von da an trug Mhpf den spöttischen Spitznamen „Einstein“, den er aus einem Grund, den er selbst nicht fassen konnte, als Schmeichelei empfand – wahrscheinlich lag es daran, dass er seit jeher etwas anders war als die anderen in seiner Sippe, mit seinem länglichen Schädel in den Wolken lebte und zum Unmut seiner Mutter auch noch stolz war darauf. Er zeigte weder Interesse noch Talent für die alltäglichen Dinge im Leben eines Homo neanderthalensis und als er vor drei Sonnenaufgängen auf der Mammutjagd beinahe umgekommen war, weil er leichtsinnigerweise versucht hatte, eines der zotteligen Tiere zu zähmen, war er vorerst von jeglichen Ausflügen ausgeschlossen worden und verbrachte seine Tage mit den Schwangeren und Alten im Camp. Wahrscheinlich hätte diese Maßnahme eine Bestrafung für ihn sein sollen, doch Einstein gefiel es, sich den, in seinen Augen, wichtigeren Dingen widmen zu können, ohne sich fürchten zu müssen, von seinen stärkeren Brüdern herumgeschubst zu werden. Diese hatten ihn nämlich schon vor einigen Monden zur Nemesis erklärt, weil er durch seine Unfähigkeit und Tollpatschigkeit immer wieder für kleine Unfälle verantwortlich war und angesichts dessen, was mit Ughs Auge passiert war, nachdem er die Fackel mit dem Speer verwechselt hatte, konnte er es ihnen nicht übel nehmen.

Der Sichelmond schob sich gerade transparent über die steilen Kalksteinfelsen des Neandertals und bedeutete Mhpf damit, dass es an der Zeit war, sich schleunigst um die ausgebrannte Feuerstelle der großen Höhle zu kümmern, bevor die Nacht einbrach und ihre gefährlichen Kinder erwachten. Etwas besorgt um das Wohlergehen seiner Familie, blickte der junge Neandertaler in Richtung Osten, blähte seine zu schmal geratenen Nüstern auf und horchte angestrengt, ob der Wind die typischen Jagdrufe seiner Brüder durch das Tal zu ihm tragen würde. Doch außer dem nahenden Winter und dem trägen Röhren eines alten Rentierhirsches, konnte er nichts wahrnehmen und so verkroch er sich wieder in der feuchtnassen Wärme der Höhle, um geistesabwesend auf den Feuerstein zu schlagen. „Hallo Einstein“, sagte Mha, als sie mit durchnässten Haaren eintrat und sich neben ihn setzte. „Ich war am Fluss und habe dir etwas mitgebracht.“ Ihre flache Stirn hob ihre perfekt geformte Brauenwulst markant hervor und Einstein verliebte sich jedes Mal noch ein wenig mehr in sie, wenn er sah wie ihr fliehendes Kinn von einem freundlichen Lächeln gekrönt wurde. „Ich danke dir, holde Mha“, scherzte er betont gelassen und nahm das kleine Ledersäckchen mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen. Darin lagen einige Muscheln und Federn, die sich hervorragend als Applikationen für die ansonsten so triste Fellbekleidung eigenen würden. Einstein hatte im letzten Sommer damit begonnen, die Pelze seiner Schlafecke mit Pigmenten zu verschönern und seither galt er unter seinen jugendlichen Artgenossen als Modezar, lange bevor es so etwas überhaupt geben würde.

„Weißt du, ich habe heute etwas nachgedacht“, begann er und stocherte dabei gefährlich hektisch in der Glut herum. „Du weißt doch wie gerne wir den Geschichten der Jäger zuhören und wie wir immer unsere Augen schließen, um uns ihre Abenteuer vorzustellen.“ Mha, die nach den Festmahlen immer die erste war, die die Jäger darum anbettelte zu berichten was ihnen wiederfahren war, nickte heftig und geriet sofort ins Schwärmen. „Oh ja, das liebe ich“, rief sie glücklich aus, fügte dann aber tadelnd an: „Deswegen ist es so schade, dass du nicht mehr mitgehen darfst. Deine Geschichten waren immer die besten!“ Um sich seine schleichende Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen, griff er hastig nach dem blank geputzten Bärenschädel, den er speziell für Mha mit in Honig gekochtem Fisch gefüllt hatte und reichte in ihr. „Makrelenmarmelade?“, fragte er schüchtern, wohl wissend, dass sie sich würde ablenken lassen und ihre Enttäuschung über sein Ausscheiden aus der Jagdgesellschaft sofort vergessen würde, wenn man ihr ihre Lieblingsköstlichkeit anbot.

„Also“ begann er erneut, fest entschlossen seine Angebetete mit seiner neuen Erfindung zu beeindrucken. „Was würdest du davon halten, wenn wir die Geschichten tatsächlich sehen könnten?“ Einstein pausierte und wartete Mhas ungläubige Antwort ab, bevor er sich aufrichtete, eine kleine Fackel entzündete und wortlos hinter dem abgewetzten, dünnen Bärenfell, welches die Feuerstelle von den Schlafplätzen trennte, verschwand. Etwas ungeschickt steckte er das brennende Holz hinter sich zwischen zwei Felsbrocken und war froh, dass Mha nicht gesehen hatte wie er beinahe den Stapel Häute daneben in Brand gesteckt hatte. „Was machst du?“, wollte das hübsche Höhlenmädchen nach einigen Augenblicken wissen, doch Mhpf befahl ihr vor dem leinwandartigen Fell zu warten. „Bleib wo du bist und erschrick nicht, es kann dir nichts passieren.“

„Oooh!“ Mhas Stimme überschlug sich und Einstein konnte hören, dass sie ihre Makrelenmarmelade fallengelassen hatte, als er die erste aus Baumrinde geschnitzte Silhouette vor die Fackel hielt. „Ach du meine Güte“, ertönte es schockiert durch das große Ledertuch. „Hast du ein Mammut da hinten?“ Amüsiert kicherte Einstein, antwortete jedoch nicht, sondern zauberte sogleich die nächste Figur hervor und schenkte dem Schattenmammut damit Nachwuchs. Er ließ die beiden eine kurze Weile friedlich über die Leinwand trotten, währendem er umständlich versuchte, die beiden Tiere mit nur einer Hand zu halten, damit er seine Rechte für das darauffolgende Ereignis frei haben würde. „Oh nein!“, entrüstete sich Mha zu Einsteins Erstaunen, als er einen Jäger in die Szenerie treten ließ, der sich langsam an das Junge heranpirschte. Das haarlose Bärenfell rauschte mit einem dumpfen Geräusch vor Einsteins Nase vorbei und Mha, welche die Haut mit einem kräftigen Ruck auf die Seite gerissen hatte, stand mit wütend verschränkten Armen vor ihm. „Wo ist es?“, fragte sie nachdrücklich und suchte mit ihren aufgeregten Blicken die Höhle ab.
„Hier“, flüsterte Einstein und reichte ihr das kleine Mammut aus Baumrinde. Fassungslos starrte die charmante Sammlerin die ungewöhnlich flache Schnitzerei an und ihre wütende Körperhaltung wich einer ausladenden, fragenden Geste. „Ich nenne es Schattenlicht. Du weiß schon, weil ich mit dem Schatten Licht auf die Erzählungen der Jäger werfe.“ Nervös trippelte Einstein von einem seiner behaarten Beine auf das andere, währendem seine liebste Freundin noch immer erstaunt das kleine Mammut fixierte. „Das…“, sagte sie dann, endlich die unangenehme Stille durchbrechend. „…das ist ja der Wahnsinn!“

Schallendes Gelächter dröhnte durch die ganze Wohnhöhle und lockte schlussendlich auch die anderen Neandertaler an und nachdem sie sich alle, selbst die Angsthasen, wieder beruhigt hatten, führte Einstein das erste Theaterstück der Welt vor. Die flachstirnigen Zeitgenossen vertieften sich sogar so sehr in das Leben und Leiden ihrer neuen Rindenmammutfreunde, dass sie selbst die lang ersehnte Ankunft ihrer Jäger verpassten, zu deren Ehre das Stück aufgeführt wurde.

Autorin: Rahel
Setting: Neandertal
Clues: Schattenlicht, Makrelenmarmelade, Nemesis, Einstein, Applikation
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Ein Gedanke zu „Homo einsteinensis, oder wie man richtig Theater macht“

  1. Ein heiteres, sonnenverbranntes Hallo an die werten Clue Reader

    Mit dem längst überfälligen Eintreffen des Sommers, hat sich mein Zeitgefühl verabschiedet und ich muss mich für die Verspätung entschuldigen.

    An der Stelle möchte ich mich zudem herzlich bei denjenigen von euch bedanken, die uns fleissig Clues hinterlassen haben. Wir freuen uns sehr über eure kreativen und herausfordernden Vorschläge und hoffen, dass wir auch in Zukunft auf eure Ideen zählen dürfen.

    Mit den besten Wünschen
    Rahel

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