Am Ende der Welt

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Am Ende der Welt schmeckt die Luft bitter. Mit sanften Stössen fliegt sie, geschwängert vom Duft der reichen Auen, ins Land und verheißt den Frühling bereits im Dezember, währendem ich deine Hand halte. Ich spüre, dass du mit den Worten kämpfst und schüttle mit einem traurigen Lächeln den Kopf, sodass mein Haar an meiner Stirn kitzelt. Ich öffne meine Lippen und schweige zum Trotz – ich will es genauso wenig wie du sagen und darauf hoffen, dass dieser eine Augenblick in der Ewigkeit gefangen bleibt. Doch du, du bist stärker, so wie du es schon seit unserer Kindheit warst, und flüsterst: „Morenga ist tot, der Krieg beendet, also sei nicht um mein Wohlergehen besorgt.“ Wie zur Bestätigung drückst du meine Schulter und lässt deine Hand dort ein Weilchen zu lange ruhen, um unsere Verbindung freundschaftlich erscheinen zu lassen.
Dein Name ist ein Palindrom und passt zu deinem unbändigen Wesen, das keinen Anfang und kein Ende kennt. Ich bin an deiner Seite, seit wir kleine Buben waren, die im Heuschober des Nachbarn Schabernack getrieben haben und es bleibt mir ein Rätsel, wie du mich bis heute, nach all den gemeinsam verbrachten Jahren, jeden Tag aufs Neue überraschen kannst.
„Ich weiß“, sage ich schließlich mit der bitteren Wehmut des Abschieds in der Stimme, „aber es wird lange dauern, bis wir uns wieder begegnen.“

Am Ende der Welt schmeckt die Luft salzig. Eine einzelne Träne löst sich aus meinem Augenwinkel, nachdem sie dort minutenlang tapfer ausgeharrt hatte und versickert in den Falten hinter meiner Sonnenbrille – ich hoffe, du siehst sie nicht. „Wirst du hier auf mich warten, bis ich wiederkehre?“, erflehst du mich, wissend, dass es in meinen Gedanken nie eine Alternative dazu gegeben hätte, weder gestern, noch heute auch nicht morgen. Mein Nicken und das stumme Versprechen ist dir nicht entgangen, denn ich höre wie ein erleichterter Atemstoß deine Lungen verlässt und das Zittern deiner Hände verschwindet, bevor du mit gesuchter Heiterkeit hinzufügst: „Und vergiss nicht den Kater.“
Ein lautes Lachen hallt durch den Wartesaal des Landbahnhofs, als ich an deinen pelzigen Gefährten denke, der seinen Zenit bereits vor Jahren überschritten hatte. Zum Mäusejagen war er zu alt und krank geworden, doch du hast ihn, warmherzig wie du bist, nicht erschlagen, sondern ihn vom Stall ins Haus gebracht und ihn mit aufgekochter Milch gesund gepflegt. Nun war seine einzige Beschäftigung Katzenstreu in der Küche zu verteilen und die vorbeiziehenden Jahreszeiten zu verschlafen, solange, bis er nicht mehr aufwachen wird. Du liebst dieses Tier und manchmal frage ich mich, woher du die Kraft nimmst, dein Leben in Glückseligkeit mit gebrochenen Wesen zu verbringen.

Am Ende der Welt schmeckt die Luft süß. „Bringst du das Schreiben, das in meiner Schreibtischschublade liegt, für mich zur Post?“, fragst du mich. In der alten Heimat, fernab vom Meer und Krieg, hat dein guter Freund das erste Zivilgesetzbuch vollendet und du hattest den Gratulationsbrief bereits Monate zuvor geschrieben. Du hattest nie an ihm gezweifelt. Der böse Verdacht des Scheiterns lag dir fern, hatte noch nie deiner Natur entsprochen und dein unerschütterlicher Glaube an das Unmögliche hat mich zu einem besseren Mann gemacht. Zu jemandem, dessen Wert nicht durch seine Fehler und sein Unvermögen, sondern durch seine Stärken definiert wird und dafür bin ich dir bis ans Ende der Zeit dankbar, denn du bist derjenige, der im Schlamm nach Gold sucht und es findet.
„Natürlich“, lautet meine schlichte Antwort, begleitet von einem feinen Lächeln, doch das ohrenbetäubende Dröhnen der einfahrenden Lokomotive übertönt meine vom Abschiedsschmerz erstickte Stimme. Ein warmer Hauch weht über meine Arme, als du dich langsam erhebst und mich nur scheinbar führend zu dir ziehst.

Am Ende der Welt schmeckt die Luft fade. Die Schritte hinaus zum Bahnsteig fallen mir schwer und fühlen sich so endgültig an, als würde ich zum Schafott geleitet, auf dem wir beide enden würden, würde jemand erfahren, wer wir sind. Doch selbst die schmerzlichste aller Reisen findet irgendwann ein Ende und so bleiben wir vor der Tür stehen, durch die du verschwinden wirst. Zärtlich berührst du meine Fingerspitzen und umarmst mich innig, wohl wissend, dass du mich hier zum Abschied nicht küssen kannst. „Auf Wiedersehen mein Liebster“, hauchst du in mein Ohr, bevor du dich von mir loslöst und ein Loch in meiner Wahrnehmung zurücklässt, welches sich mit einem Gewittersturm der Einsamkeit zu füllen droht.
„Sie werden aufs Schmerzlichste vermisst werden“, rufe ich in die Dunkelheit meiner Blindheit und bete, dass niemand meine Trauer als das Trennungspein zweier Geliebter erkennt. „Schreiben Sie uns“, versuche ich über den Lärm der abfahrenden Lokomotive zu schreien und füge mit tränenertrunkener Stimme leise an: „Und komm bald zu mir zurück.“

Autorin: Rahel
Setting: Landbahnhof
Clues: Palindrom, Katzenstreu, Zivilgesetzbuch, Gewittersturm, Auen
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