Endstation

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Kata-kata, kata-kata. Sie konnte sich noch nicht so richtig entscheiden, ob sie das monotone, doch gleichzeitig aufregende Geräusch mochte, während der Zug gemächlich durch die Landschaft tuckerte und sie ihr Herzklopfen ignorierte. Die Erste Klasse war leergefegt, da war nichts anderes außer das stetige Kata-kata, kata-kata und ab und an ein Ruckeln. Debora war vor wenigen Tagen dreiundsechzig Jahre alt geworden, hatte so viel erlebt und doch kam es ihr so vor, als würde sie sie genau in diesem Augenblick zum ersten Mal fühlen, die Ruhe vor dem Sturm. Kata-kata, wie ein Trommelschlag, und gespannt wartete sie auf den Moment des Stillstandes.
„Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist, Oma?“, hörte sie sie mahnende Stimme ihres Enkels nachhallen und obwohl sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte, konnte sie die Frage noch immer nicht beantworten.
Deboras Finger zitterten ein wenig, also legte sie ihre Zeitschrift weg, damit sie durch das flatternde Papier nicht an ihre immer weiter steigende Nervosität erinnert wurde. Eigentlich hatte sie das Blatt aus der Tasche geholt, um sich abzulenken, dann aber doch nur durch die Seiten gestarrt, als wären sie aus Wachspapier. Mit auf dem Schoß gefalteten Händen legte sie ihren Kopf in den Nacken und schluckte leer. „Wieso mache ich das bloß“, fragte sie sich und atmete seufzend aus. Auf eine seltsame Art und Weise tat es gut, etwas anderes als das treibende, nur scheinbar lauter werdende Kata-kata zu hören, also seufzte sie abermals laut.

„Guten Morgen“, flötete der Schaffner fröhlich, „dürfte ich Ihre Fahrkarte sehen?“ Debora, die beim lauten Krächzen der Durchgangstür zusammengezuckt war, hatte ihr Ticket schon in der Hand und streckte es dem uniformierten Herrn entgegen. Nickend nahm er den Schein entgegen, begutachtete ihn und knipste dann mit seiner großen Zange ein Loch hinein. „Vielen Dank“, meinte er und wandte sich zum Gehen. Auf halber Strecke zur nächsten Übergangstür blieb er jedoch stehen, wartete kurz und drehte sich dann wieder zu Debora um.
„Sie wirken traurig“, stellte er leise fest, ehe er einige Schritte auf sie zumachte. „Ich weiß, das geht mich nichts an, aber vielleicht“, er kam kurz ins Stocken und sah betreten auf den renovierten Holzboden, ehe er mit einem missglückten Lächeln fortfuhr: „Vielleicht kann ich Ihnen ja etwas aus dem Speisewagen bringen. Einen Kaffee oder ein Marmeladenbrot vom Frühstücksbuffet vielleicht?“
Es dauerte eine kleine Weile, bis Debora reagierte. Sie kannte den Ausdruck auf dem frischen Gesicht des Mannes, immerhin hatte sie ihn schon so oft gesehen, seit Leonard nicht mehr bei ihr war. Sein Weggehen hatte irgendetwas mit ihr gemacht, das sie selbst nicht richtig zu erfassen wusste. Vielleicht war der Glanz in ihren Augen verschwunden, vielleicht hatten sich ihre Lachfalten geglättet, wer weiß. Bedacht richtete sie sich auf ihrer Sitzbank auf, strich ihren Rock glatt und schmunzelte: „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, junger Mann. Aber bitte sorgen Sie sich nicht um mich, ich bin bloß ein wenig aufgeregt.“
Er schien nicht überzeugt, trotzdem erwiderte er ihr Lächeln und verabschiedete sich mit einer Entschuldigung. Zurück blieb nur das gleichförmige Kata-kata der Räder auf den Schienen.

Mit geschlossenen Lidern versuchte sich Debora auf die wiegenden Bewegungen des Waggons zu konzentrieren, es gelang ihr jedoch nur kurz. Zu sehr drang das rhythmische Kata-kata in ihre Gedanken, so als wollte es ihr etwas sagen, aber was? Für einen Moment dachte sie, sie würde verzweifeln und wie ein Schlosshund losheulen müssen, um den inneren Druck irgendwie herauszulassen. Doch sie weinte nicht, schluckte den Kloß im Hals herunter und setzte sich mit einem bestimmten Murren gerade hin. Durch die hübsch eingerahmten Panoramafenster konnte sie sehen, wie die Landschaft immer karger wurde, die dichten Wälder verschwanden und durch verdorrte Wiesen abgelöst wurden. Debora konnte sich nicht genau daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Richtung Süden gefahren war, vermutlich war es damals mit Leonard gewesen, als er sie auf eine seiner Geschäftsreisen mitgenommen hatte. Davon hatte es in den vierundzwanzig Jahren, die sie verheiratet gewesen waren, viele gegeben. Immerzu gab es irgendwo eine Messe oder eine Fabrik, die er besichtigen musste, aber dennoch hatte er immer genügend Zeit für sie gefunden. Bei dem Gedanken passierte es, eine Träne rollte über Deboras Wange und sie ließ sie fallen. Kata-kata-katum, der Zug fuhr über eine Weiche und Debora sah zu, wie auf ihrem Rock eine salzige Blume wuchs.

Sie hatte ihn gehütet wie ihren Augapfel und jetzt wo er nicht mehr da war, war ihr, als würde ihre Hand ob der Leere schmerzen. Wimmernd fuhr sie mit ihren kalten Fingern über die feine weiße Linie, wo bis heute früh ihr Ehering gewesen war, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich muss, nein, ich will endlich loslassen und weiterziehen“, flüsterte sie sich selbst zu. Die Melancholie brachte sie, wie schon so oft zuvor, zum Lachen und rasch wischte sie die Tränen aus ihren Augen. Danach zerknüllte Debora das Taschentuch und warf es energisch in den kleinen Mülleimer unter dem Zugtischchen.
Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig aus ihrer Traurigkeit gelöst, bevor die Tür quietschte und drei adrette Damen in den Waggon traten. Debora drehte sich etwas irritiert über den Neuzugang um, denn sie hatten seit längerem nicht mehr in einem Bahnhof gehalten und es war ungewöhnlich, dass Passagiere während der Fahrt ihren Platz wechselten. Bald schon wurde ihr aber klar, weshalb die drei, die sie nicht eines Blickes gewürdigt hatten, hergekommen waren.
„Ich hätt am liebsten mein Müsli rausgewürgt und dem Typen dann die Kotze in seine affige Frisur geschmiert!“, beschwerte sich eine der Frauen dermaßen lautstark, dass selbst das Kata-kata nicht mehr zu hören war und brachte die anderen damit zum Kichern. „Nein, wirklich, so etwas muss man sich doch wohl nicht bieten lassen!“
Durch die aufgebrachte Stimmung im Abteil hinter ihr nun endgültig aus ihrer nostalgischen Melancholie gerissen, begann Debora damit, ziellos in ihrer Handtasche zu wühlen. Sie wusste nicht, nach was sie eigentlich suchte, aber sie würde es sicher merken, wenn sie es gefunden hatte.
„Sieht aus wie eine verdammte Fledermaus und bildet sich echt ein, bei mir landen zu können, also echt jetzt“, vervollständigte die Frau ihren Gedankengang und klang dabei etwas weniger hysterisch, doch Debora wurde nichtsdestotrotz hellhörig. Daran hatte sie ja noch gar nicht gedacht, kam ihr plötzlich in den Sinn und sie konnte regelrecht dabei zusehen, wie die Nervosität sich wieder an sie heranschlich und sie übermannte. Was wenn er mich hässlich findet, überlegte sie zum bedrohlichen gewordenen Kata-kata.

Die blecherne Durchsage hatte vor einigen Sekunden das Ende der Bahnreise angekündigt und Debora wurde hektisch. Alle Versuche ruhig und tief durchzuatmen scheiterten und so versuchte sie ihre überschwappende Angst vor dem, was nach dem Aussteigen folgen würde, in eine wippende Bewegung zu leiten. Kata-kata, vor und zurück, immer langsamer, bis der Trommelschlag mit dem kläglichen Schrei von Stahl auf Stahl zum Finale kam. Debora erstarrte mitten in ihrer Schaukelbewegung. Es war soweit, sie war angekommen und würde nur noch aussteigen müssen um das neue Kapitel in ihrem Leben endlich aufzuschlagen.
„Du weißt ja nicht mal, ob der Mann wirklich der ist, der er vorgibt zu sein“, erinnerte sie sich an die belehrenden Worte ihres Enkels, „Das Internet ist voller Psychopathen, Oma. Ich will nicht, dass du mit einer Rasierklinge filetiert wirst, nur weil du dich nach Opas Tod einsam fühlst.“
„Werte Fahrgäste, wir sind am Endbahnhof eingetroffen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Weiterreise und einen schönen Tag.“ Die drei Frauen standen schon im Vorraum des Waggons und Debora konnte nicht mehr hören, worüber sie sich unterhielten, doch sie verharrte wie eingefroren auf ihrer Bank und vermisste das beruhigende Kata-kata des Zuges. Draußen vor dem Fenster drängelten Menschen durcheinander, waren in Eile oder schlenderten, unterhielten sich oder blieben für sich, nur Debora verweilte hinter der Scheibe, ungerührt von der lebendigen Bahnhofswelt.
„Ich muss nur aufstehen, zur Tür gehen und einfach geschehen lassen, was passiert“, wiederholte sie in Gedanken, doch so sehr sie es auch versuchte, ihre Füße wollten einfach nicht gehorchen, blieben fest verwurzelt unter der Bank. Einige Minuten wartete sie alleine, währendem sich der Bahnsteig leerte, dann vibrierte der Boden, als der Schaffner durch den Mittelgang marschierte. Er sah sie erst, als er schon an ihr vorbeigegangen war, blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Madame“, sagte er schüchtern, „ich muss Sie leider bitten auszusteigen, dies ist die Endstation.“
Besorgt kam er auf sie zu und der Anblick seiner polierten Schuhe erinnerte sie an Leonard. „Süßer Leonard“, schluchzte sie innerlich, „du würdest mir alles Glück der Welt wünschen.“
Ein Lächeln breitete sich über ihre gealterten Züge aus, brachte den schelmischen Glanz ihrer Jugend zurück, als sie aufstand und sagte: „Nein, junger Herr, das ist nicht die Endstation, das ist ein Neuanfang!“

Autorin: Rahel
Setting: Erste Klasse
Clues: Augapfel, Marmeladenbrot, Rasierklinge, Fledermaus, Kotze
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2 Gedanken zu „Endstation“

  1. Liebe Ann-Bettina,
    es freut mich dich wieder im Clue-Writing-Nimmerland zu sehen und bedanke mich für das Lob. Die Clues haben sich brav verhalten und waren, bis auf einen ganz widerspenstigen, gut vertextbar. Nur für „Kotze“ hätt ich der werten Petra für einen flüchtigen Moment, eben jene entgegenwerfen können ;)
    Liebe Grüsse und wie üblich die besten Wünsche
    Rahel

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