Entscheidungsfindung

In dem Speisewagen des Simplon-Orient-Express herrschte beinahe völlige Dunkelheit, bloß eine schwache Nachtbeleuchtung erhellte den elegant gestalteten Innenraum. Auf den Fenstern hatten sich Eiskristalle gebildet, welche schon einen Großteil der Scheiben bedeckte – es war eine bitterkalte Februarnacht, doch wenigstens war es im Innern des Zuges warm. Der Orient-Express hatte Triest schon vor längerer Zeit verlassen und fuhr nun durch Italien auf das Simplonmassiv zu, bevor er in der Schweiz angelangen würde. Da niemand mehr in dem Speisewagen war, hatte sich Svenja auf einen der unbesetzten Stühle gesetzt. Sie war gut gekleidet und man hätte sie für eine ganz normale Reisende halten können, wäre da nicht die ungewohnte  Uhrzeit und ihre gut erkennbare Unruhe gewesen. Sie trommelte mit ihren Fingern auf dem weißen Tischtuch und blickte aus dem zugefrorenen Fenster in die verschneite Winterlandschaft, in welcher der Schnee im klaren Sternenlicht alles ungewohnt erhellte. Sie konnte kaum darauf warten, dass der Zug in Brig halten würde, dem ersten größeren Bahnhof in der Schweiz, einem neutralen Land, dass sich kein bisschen für eine Frau wie Svenja interessieren würde. Ganz im Gegensatz zu Italien, Deutschland oder Russland – dies waren die Orte, von denen sie tunlichst fernbleiben wollte. Ihr Name war nicht Svenja, Russin war sie auch nicht und ihr war klar, dass sie in den Ländern, welche in Kürze von dem Westfeldzug komplett verändert werden würden, in großer Gefahr wäre.

Svenja war, wenn auch auf eine etwas unübliche Art, eine Kosmopolitin. Sie hatte die Olympiade in Berlin erlebt, nicht etwa beim Lesen einer Zeitung, sondern im Publikum. Sie hatte all jene gesehen, welche später als wichtige Protagonisten des Krieges in die Geschichte eingehen würden, oder glaubte dies zumindest. Doch das meiste davon spielte nun keine große Rolle mehr, denn sie hatte das Gefühl, dass Europa auf einmal weiter denn je auseinandergerückt und zugleich kleiner geworden war. Svenjas Welt hatte sich verändert, denn plötzlich ritt sie nicht mehr ein Englisches Vollblut in auserlesener, wenn auch feindlicher, Gesellschaft, sondern war eine flüchtige Spionin, die möglichst rasch in ein neutrales Land gelange wollte. Es wurde immer klarer, dass bald ein Krieg über Europa hereinbrechen würde, dessen Ende noch nicht abzusehen war und der das Potential hatte, alles zu verändern. Und mitten darin war Svenja, die sich entschieden hatte, all das hinter sich zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen. Loyalität zu ihrem Land bedeutete ihr nichts mehr und Patriotismus war für sie bloß noch ein Wort, denn nach all dem, was sie für die freie Welt getan hatte, blieben ihr nicht mehr viele Ideale, an welche sie glauben wollte – bestenfalls noch die heilige Dreifaltigkeit. Nichts war mehr wie zuvor, dachte Svenja, während sie eine dünne Zigarette aus ihrer auf dem Tisch liegenden Handtasche kramte und mit etwas unruhigen Händen anzündete. Sanft glitten ihre Finger über den flachen Briefumschlag, der sicher in ihrer Tasche verwahrt war – ihr letzter Auftrag. In Bern würde sie die Nachricht am nächsten Tag zur Botschaft ihres Landes bringen, doch sie würde nicht bleiben, sondern in der Schweiz untertauchen und endlich ein normales Leben führen. Die heutigen Kriege wurden nicht mehr von Soldaten in Gamaschen, die auf Pferden ritten und mit Schwertern kämpften, sondern von Piloten in Flugzeugen und mit immer größeren Bomben ausgefochten werden. Und auch wenn Svenja begriff, dass es dann noch immer Leute wie sie brauchen würde, so war sie doch zufrieden mit ihrer Entscheidung, diesem Leben ein- für allemal den Rücken zu kehren.

Der Orient-Express tauchte in den Simplontunnel ein und es dauerte bloß einige Augenblicke, bis manche der feineren Eiskristalle an den Fenstern zu schmelzen begannen. Ungeduldig tippte Svenja mit ihren Fingern auf den Tisch und hatte sich schon wieder eine Zigarette angezündet. Sie wusste, dass sie praktisch schon in Sicherheit war, doch ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was sollte sie denn eigentlich tun, wenn sie sich zur Ruhe setzte und untertauchte? Sie könnte heiraten. Doch erstens wäre es schwer, in ihrem Alter noch einen Mann zu finden, und dann käme noch dazu, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Und nur damit sie zusehen müsste, wie ihr Mann einberufen werden würde und an der Front fiele, wollte sie die Strapazen nicht auf sich nehmen. Nein, sie wollte den Rest ihres Lebens nicht als Witwe verbringen. Natürlich könnte sie auch irgendwo eine Arbeit annehmen, doch dann würde ihr früherer Auftraggeber sie viel zu schnell finden.
Wieder fiel ihr Blick auf den kleinen braunen Umschlag und diesmal zog sie ihn aus der Tasche und wog ihn vorsichtig in ihren Händen. Sie hatte bloß verstanden, dass sie eine Art Kassiber an ihre Botschaft überbringen sollte, doch war dies all die Mühen wert gewesen und dass sie aufgeflogen und beinahe verhaftet worden war? Noch nie hatte sie gegen die Regeln verstoßen, doch diesmal musste sie lange mit sich ringen, den Umschlag nicht zu öffnen. Schließlich seufzte sie genervt und wickelte die dünne braune Schnur auf, welche das Kuvert zusammengehalten hatte. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht es zu versiegeln, dachte sie etwas erstaunt, offenbar vertrauten ihr ihre Arbeitgeber wirklich. Sie zog die mit Schreibmaschine beschrifteten Seiten heraus und überflog den Text. „Was für Lager?“, murmelte sie ungläubig und begann nochmals von vorn.

Eben verließ der Orient-Express den Simplontunnel und Svenja wusste, dass sie nun endgültig in Sicherheit war, doch das Gefühl der Anspannung, das sonst jeweils in einer solchen Situation von ihr wich, wollte sie diesmal partout nicht loslassen. Nicht nach allem, was sie gelesen hatte, denn wenn auch nur die Hälfte davon der Wahrheit entsprach, dann hatte sie einige Menschen ziemlich unterschätzt. Ihre Pläne, sich endlich zur Ruhe zu setzten, waren nun endgültig ins Wanken geraten, denn das was der freien Welt noch bevorstehen würde, konnte sie nicht ignorieren. Ihr Glaube daran, das Richtige zu tun, war zurück, stärker denn je. Wenn sich dieser Krieg tatsächlich ausbreiten würde, dann brauchte es Leute wie sie, um die richtigen Stellen davon zu überzeugen rechtzeitig einzugreifen. Wie jedes Mal zuvor und, wie Svenja befürchtete, bis zu ihrem Tod würde sie auch dieses Mal nicht lange in einem sicheren Land bleiben.

Autorin: Sarah
Setting: Speisewagen des Orient-Express
Clues: Februar, Gamasche, Englisches Vollblut, Dreifaltigkeit, Olympiade
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

10 Gedanken zu „Entscheidungsfindung“

  1. Der Orient-Express. Ein absoluter „Klassiker“, der schon oft sein Gesicht verändert hat. Bei mir zu Hause steht das Buch von Agatha Christie, mit dem man gut in Eisenbahnabenteuer längst vergangener Zeiten entfliehen kann. Oder man liest einfach bei Euch im Blog die spannenden Reisegeschichten aus dem Simplon-Orient-Express. ;-)

  2. Liebe Kollegen, wir Autoren, welche nun in der Rubrik „Teilzeitreisender: Bahnfahren“ gelistet wurden, sollten uns alle einmal persönlich zum „Bahnbloggergipfel“ treffen. Dies kann dann zum Anlaß werden einen ganz neuen Blog zu schaffen.

    1. Super, das freut mich natürlich zu lesen! Vielen Dank auch für die Verlinkung, ich habe auch schon einige Beiträge bei euch entdeckt, kam aber dank der Blogparade auf euren Blog, also hat sich die Aktion auf jeden Fall gelohnt :)

Schreibe einen Kommentar zu cluewriting Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing