Flucht aus Paris

Seine strohblonden Haare klebten noch immer strähnig an seiner Stirn und sein graublaues Hemd war das letzte Mal vor drei Tagen gebügelt worden. Hätte er einen kurzen Augenblick inne gehalten, hätte er bemerkt wie angreifbar er sich in dieser trostlosen Halle gefühlt hatte, aber dazu fehlte ihm die Zeit. Also marschierte er mit ausladenden, stechenden Schritten vorbei an den mit bröckelndem Stuck verzierten Säulen, vorbei an den kleinen Kioskläden, die wie verloren gegangene Inseln in der Bahnhofshalle trieben und direkt zu den kleinen Schaltern, die sich mittig vor den alten Geleisen befanden. Vor ihm stand ein älterer Herr, dessen Nacken sich in einer dicken Wulst über den Schultern verlor und der gemütlich einen Glimmstängel rauchte, während er darauf wartete, dass die Dame im roten Sommerkleid vor ihm ihr Ticket entgegennehmen würde.

„Pardonnais mois, Monsieur. Je suis très …“ Ach verdammt nochmal, er hasste Französisch noch mehr als er es hasste wenn ihm seine Exfrau in die Dusche folgen wollte, nur um ihn dann zu ungeschicktem, frustrierendem Sex zu überreden der ihn langweilte und sie dazu brachte sich unzählige Hobbies zuzulegen um sich von der Enttäuschung ablenken zu können. Ja, sie war eine eifrige Näherin, Gärtnerin und Tennisspielerin geworden in all den Jahren in denen die Liebe zwischen ihnen immer mehr verschwand. Als er an einem Freitag aufgewacht war und sie inmitten antiker Webrahmen, Nähmaschinen und Kisten stehend vorgefunden hatte, packte er seine Koffer, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwand.

Er fasste sich genervt an die Nasenwurzel, als würde er hoffen er könne dort das verflixte fehlende Wort hinausziehen, würde er nur genügend Druck ausüben. Es half nichts, das Wort das er suchte war schon seit langer Zeit in den Irrungen und Windungen seines Gehirns verschwunden gegangen, wahrscheinlich hatte er es direkt nach dem Französischunterricht mit einem Glas Wodka weggespült.

„Erm … Je dois aller à la guichet, vite!“ Er versuchte sein schönstes Lächeln hervorzulocken, was ihm angesichts der Tatsache, dass er seit über dreiunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, sehr schwer viel, in der Hoffnung der gute Herr würde sich von seinen unbeholfenen Worten erweichen lassen. Dieser sah ihn erst etwas irritiert, dann belustigt an und wies ihn mit einer freundlichen Geste an sich vor ihn zu stellen. Hätte er Zeit gehabt, dann wären ihm sicherlich die feinen Linien aufgefallen, die großväterlich neben den blassen Augen des korpulenten Passanten lagen. Aber die Zeit hatte er nicht und so verschwand auch dieses Gesicht wie schon so viele vor ihm, wie die französische Vokabel, in der alltäglichen Normalität, im Zentrum der Bell-Kurve, in der Gewöhnlichkeit die man nicht mehr wahrnimmt und irgendwann vergisst.

Ein kleines, kaum merkbares Lächeln glitt über seine schmalen, rissigen Lippen als er von dem Jungen am Schalter sein Ticket ausgehändigt bekam. Endlich konnte er den Gare de Lion in einem der verdreckten Züge verlassen und das mit Taubenkot verschmierte Paris hinter sich lassen. Es würde nun nicht mehr lange dauern bis seine Tochter ihn in der viktorianischen Halle der Victoria Street Station warm und herzlich umarmen würde. Sie würden sicherlich gemeinsam im nahe gelegenen Park kurz einen wässrigen englischen Kaffee trinken, bevor sie ihm ihr neues Apartment zeigen würde. Er keuchte erleichtert, als er endlich den richtigen Bahnsteig erreicht hatte und er konnte schon den Duft des liebevoll zubereiteten Frühstücks riechen, das seine Tochter ihm in ihrem alten Toaster zubereiten würde. Die Engländer hatten zwar keine Ahnung wie man Kaffee genießt, aber wenn es um Toast ging konnte ihnen keiner etwas vormachen.

Es verging nur ein Herzschlag, weniger als eine Sekunde. Mühevoll versuchte er die Augen zu öffnen und blinzelte hartnäckig gegen den dichten, beißenden Staub an. Neben ihm lag ein junges Fräulein, sie hatte sich offensichtlich zurecht gemacht und trug ein mit Spitzen verziertes Kleid und eine feine, zerbrechliche Silberkette am Handgelenk, daneben ragte weißer Knochen hinaus. Der dumpfe Knall hallte noch immer in seinen Ohren, trabte brutal durch seinen Schädel und erinnerte ihn an die wahnwitzigen Experimente die er in seiner Kindheit mit seinem Cousin und dessen Kartoffelkanone getrieben hatte. Das Fräulein sah ihn entsetzt an und schien ihm etwas sagen zu wollen, aber da war nur dieses dumpfe Dröhnen und er hörte sie nicht.

Zaghaft versuchte er sich aufzurichten, wollte sein Hemd glatt streichen, sich den Staub und die Schuttsplitter aus dem Haar schütteln. Seine Tochter würde mit ihm schimpfen wenn er so unordentlich aus dem Zug steigen würde. Sie würde ihm bestimmt vorwerfen, dass er sich falsch entschieden hatte, er bei seiner Frau hätte bleiben müssen. Doch das wäre nicht so schlimm, er würde trotzdem englischen Toast bekommen und den grauenhaften Kaffee trinken, seine Tochter würde ihn trotzdem noch so lieben wie sie es getan hatte als er sie vor den Altar geführt hatte.

Die Erinnerung an ihr glockenhelles Lachen, den zarten Duft ihres Parfüms und ihre feingliedrigen Hände verblieb in seinen Gedanken und er bemerkte das Geschehen um ihn herum nicht, hörte die Schreie nicht und verschwand langsam und ruhig, genauso wie das französische Wort.

Autorin: Rahel
Setting: Öffentliches Gebäude
Clues: Webrahmen, Bell-Kurve, Taubenkot, Kartoffelkanone, Toaster
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