El Oro – Flug 120

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Sie singt, singt so hell und glockenklar als wäre ihre Kehle aus purem Gold. Sie singt ein Wiegenlied und es erfüllt mich mit dem unerschütterlichen Gefühl von Geborgenheit und tiefer Ruhe, welches ich seit meiner Kindheit nicht mehr gefühlt habe. Sie singt und die Panik, die mich umgibt, verschwindet in ihrer Melodie.

Ich nippte gelassen an meinem Canelazo und ignorierte die missbilligenden Blicke meiner Sitznachbarin; für sie war es jetzt Vormittag und mein Drink kein angemessenes Frühstück, für mich jedoch war die letzte Nacht nahtlos in diesen tristen Tag übergegangen und meine überreizten Nerven brauchten etwas Hochprozentiges. Weißes Licht drang durch die Wolkenwand und erzeugte die Illusion von feuchter Luft, die an den Handgepäckklappen zu kondensieren schien und trickste meinen Körper aus, so dass mir ob der eingebildeten feucht-nassen Kälte Schauer über den Rücken liefen. Ich trank einen großzügigen Schluck aus meiner Tasse und wärmte meine Finger damit, bevor ich sie auf den Klapptisch vor mir neben den übriggebliebenen Apfel stellte und meinen Gurt löste. Ich hatte diese Transporte schon häufiger gemacht und war nicht einmal mehr annähernd so nervös wie beim ersten Mal. Trotzdem gab es auf meinen Flügen immer einen Augenblick des Erschreckens, ähnlich dem Erwachen, das einem Albtraum folgt und ich fragte mich dann immer, wie lange ich dieser Art von Beschäftigung wohl noch nachgehen würde. Um ehrlich zu sein hatte ich mir unter meinem Leben immer etwas anderes vorgestellt, aber so gefährlich meine Arbeit auch war, ich war auf das Geld angewiesen. Ich wollte meinem Jungen etwas Besseres bieten können, ich wollte, dass er eine Ausbildung machen kann und auch wenn er nicht klug genug war, um Arzt zu werden oder um in ein Raumfahrprogramm aufgenommen zu werden, so sollte er doch ein anständiges Leben führen können.

Eine der jungen Stewardessen nickte mir freundlich zu, als ich ihr auf meinem Weg zur Toilette umständlich Platz machte und ich bemerkte die feine, helle Linie auf ihrer gebräunten Hand, welche wahrscheinlich von einem Ehering stammte, den sie bei der Arbeit nicht tragen durfte.
Die Flugzeugtoilette war eng, gerade mal groß genug um sich hinsetzten zu können und ich musste meinen Kopf etwas ducken um überhaupt durch die Tür zu passen. Ich schloss ab und atmete, trotz des mir wohlbekannten Geruchs nach Chemikalien und Exkrementen, tief durch, bevor ich meinen linken Schuh auszog um sicherzugehen, dass mein Frachtgut noch immer sicher in dem Versteck im ausgehölten Absatz lag. Ich hatte die hartnäckige Angewohnheit, immer vor dem Zwischenstopp in Tulcán nachzusehen, ob alles in Ordnung war, für den Fall, dass die Grenzpolizei eine Zufallskontrolle durchführte, doch bisher hatte es glücklicherweise noch nie Probleme gegeben. Die goldenen Münzen lagen schwer auf meiner Handfläche und obwohl ich nicht wusste, wie viel sie tatsächlich wert waren, konnte ich davon ausgehen, dass irgendjemand in Kolumbien bereit war, ein kleines Vermögen für sie zu bezahlen. Ein Vermögen, von dem ich, als kleinstes Zahnrad in der riesigen Schmugglermaschinerie, nur einen geringen Teil bekommen würde. Nachdem ich meine wertvolle Fracht wieder sicher verstaut hatte, erledigte ich kurz ein persönliches Geschäft, betrachtete schmunzelnd meinen desolaten Zustand im Spiegel und kehrte beruhigt auf meinen Sitz zurück.

Die faszinierende, vereinnahmende Stimme wird leiser und wann immer sie ihren lieblichen Gesang zum Schluchzen unterbricht, kann ich hören wie die Motoren neben uns laut dröhnen. Die hübsche Stewardess kauert im schmalen Gang und hält verzweifelt an dem Ring fest, den sie vermutlich heimlich an ihre lange Goldkette gehängt hatte. Einige der Passagiere sitzen regungslos auf ihren Plätzen und warten atemlos darauf, was als nächstes passieren mag, während andere immer unruhiger werden und wild durcheinander reden. Hinter mir sitzt ein junges Pärchen, das sich frenetisch ewige Liebe schwört und vor mir nestelt ein, offensichtlich dem Markenkult verfallener, Bursche ungeschickt an seiner peinlichen Ed Hardy Hose, wahrscheinlich versucht er sein iPhone hervorzupulen, um jemandem eine Nachricht zu hinterlassen. Ich sitze nur da, versteinert und warte darauf, dass sie weitersingt und mich mitnimmt in die vergessene Welt der Unschuld.

Es war etwa zehn Minuten nach zehn Uhr morgens, als der Pilot in gebrochenem Englisch die Zwischenlandung ankündigte und ich beschloss, meinen übermüdeten Augen noch etwas Ruhe zu gönnen, bis die übliche Landehektik im Passagierraum einsetzen würde. Die gestrige Nacht war lang und beschwerlich gewesen und ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte, dass ich meine Fracht in Don Pablos Villa hatte abholen müssen. Es war unüblich, dass ein unbedeutender Transporter direkten Kontakt zu den großen Fischen hatte und die Tatsache, dass Don Pablo mich höchstpersönlich in Empfang genommen hatte, kam einer Audienz beim Kaiser von China gleich. Höchstwahrscheinlich bildete ich mir etwas ein und der Don wollte nur sicherstellen, dass seine wertvolle Ware nicht durch zu viele Hände ging, aber in mir schlummerte der Verdacht, dass hinter diesen Münzen eine Geschichte steckte, dass sie für ihn vielleicht sogar sentimentalen Wert besaßen. Ich öffnete meine geröteten Augen wieder, scharrte gedankenverloren mit meinem Absatz über den grauen Teppich und trank den letzten Schluck meines nun lauwarmen Canelazos, bevor ich die Tasse auf den Servicewagen einer Flugbegleiterin stellte. „This is your captain speaking…“ begann die Ansage und meine Sitznachbarin setzte sich genauso routiniert und gleichgültig wie ich auf und klippte den Verschluss ihres Sicherheitsgurtes ein, bevor das Signal aufleuchtete. Nebenbei bemerkte ich ein ungewohnt lautes Geräusch, es klang so als würde man in einer leeren Turnhalle hundert Mixer laufen lassen, aber ich maß ihm keine Bedeutung zu und blickte gelangweilt auf meine Casio. Zehn Uhr neunzehn, bald schon würde ich in Cali landen, mein Paket wie geplant übergeben und meiner wunderschönen Frau auf meinem langen Nachhauseweg in die Staaten etwas Schönes zu unserem Hochzeitstag kaufen.

Sie singt, hell und glockenklar und ich bin mir sicher, dass ihre Stimme über die hügeligen Weiten der Anden hallt. Das Weinen hat aufgehört und vierundneunzig Menschen atmen gemeinsam ihre letzten Züge. Die Gewissheit des nahenden Todes in unseren Gedanken macht lindernden Erinnerungen Platz, währendem Cumbal, unser majestätischer Grabstein, darauf wartet, uns in die Arme zu schließen. Sie singt hell und glockenklar und ihr Weigenlied wird uns alle ruhig und sanft in den Schlaf tragen.

Autorin: Rahel
Setting: Anden
Clues: Apfel, Kaiser, Raumfahrtprogramm, Mixer, Markenkult
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