Gaststory | Der Unterschied von Moral und Ethik

Für seine angedeutete Verbeugung bei der Durchquerung des Eingangs erntete er von der alten Dame ein Lächeln. Als diese sich an ihm auf die Straße vorbeigedrückt hatte, verzog er wegen der Mixtur der Düfte das Gesicht. Anregendes Erdbeeraroma von dem Kuchen, den sie aus der Bäckerei trug, überlagert von einem in Menge und Schwere viel zu dominanten Kölnisch Wasser. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass sich im Laden ansonsten keine Kunden aufhielten, drehte er das altmodische Schild an der Glastür um, damit mögliche Einkäufer den Schriftzug „Geschlossen“ sehen konnten und legte den Riegel vor.
Er arbeitete gerne in Ruhe. Die hektischen Momente seines Jobs widerten ihn im Grunde an. Manchmal waren diese Momente notwendig, die archaische Lust an der Macht war ihm seit seiner Jugend dennoch vergangen. Aufregung war nicht gut für ihn, sein Lebensstil hatte seine Gesundheit belastet. Als Arbeiter in der familiär geführten Vereinigung, die in der Stadt alle Fäden im Hintergrund in der Hand hielt, wechselten sich Auseinandersetzungen mit denkwürdigen Feiern ab.
An seiner rechten Hand hatte ein Hammer alle Gelenke an zwei Fingern zerstört, seine Nase war über die Jahre mehrfach gebrochen worden und eine breite Messernarbe zog sich über seinen linken Oberschenkel. Das waren fleischgewordene Erinnerungen an die Zeit, in der sie sich in der Stadt gegen die etablierten Gruppen der Rußen und Italiener durchsetzen mussten. Die wirklich ernsten Erkrankungen hatte das gute Leben mit sich gebracht. Sie hatten nichts ausgelassen, sich Rauchen, Saufen und Frauen hingegeben. Geld wollte nicht nur verdient, sondern auch wieder unter die Leute gebracht werden. Er bereute keine der Nächte, aber der Preis war, dass diese ärgerliche Insuffizienz seiner Bauchspeicheldrüse, noch genügend Insulin zu bilden dazu geführt hatte, dass er auf dem rechten Auge fast blind war. Seitdem mied er Zucker, wo er nur konnte. Nur von seinen Zigarren konnte er trotz seiner gelegentlichen Kurzatmigkeit nicht lassen. Sie beruhigten ihn bei der Arbeit. Aus der Tasche seiner Jacke holte er eine dicke Cohiba Robusto und den faustgroßen Marmorquader eines antiquierten Tischfeuerzeugs und legte beides auf dem Tresen ab.
Ein wenig melancholisch schweifte sein Blick über die köstliche Auslage der Bäckerei in der meterlangen Glasvitrine und blieb an der jungen Bedienung hängen, einem blonden Mädchen mit Zopffrisur, ihrem Namensschild nach Lisa, Praktikantin und erfreut, ihn zu bedienen.
In mindestens einem Punkt wollte Lisa anscheinend ihrer Etikettierung widersprechen, denn sie sah keineswegs erfreut aus. Ihr Mund bildete ein großes O und ihre Ohren waren rot angelaufen. Sie drückte ihre Fäuste in die Hüften und atmete schwer. Er wollte sie gerade ansprechen, als sie ihre Schockstarre überwinden konnte.
„Sie können hier nicht rauchen! Und das Schild umdrehen schon gar nicht. Dann kommt keine Kundschaft mehr herein!“ Er mochte sie sofort, denn er respektierte Mut. Sie war fast dreißig Zentimeter kleiner und sicherlich einen Zentner leichter als er, aber schien bereit zu sein, sich auf ihn zu stürzen.
„Liebe Lisa, sei mir nicht böse. Dir fehlt der volle Überblick. Hol doch bitte deinen Chef aus der Backstube und sag ihm, er soll die monatliche Versicherungsrate gegen Sach- und Personenschäden mitbringen. Dann bin ich im Handumdrehen wieder weg und wir alle sind zufrieden. Ich danke dir.“
Sie machte verwirrt kehrt und ging durch den Durchgang zur Backstube. Er griff nach einer der gelben Servietten auf dem Tresen, biss das Ende der Zigarre ab, spuckte es in das Papier und ließ das Päckchen in die Tasche gleiten. Er wusste, dass viele derer, die seinem Beruf nachgingen, sich bei Geschäftspartnern wüst benahmen. Aus seiner Erfahrung vermutete er, dies geschah eher aus der Nervosität der jungen Kollegen, als aus dem Grunde heraus, die Ladenbesitzer mit kleinen Gesten noch mehr unter Druck zu setzen.
Die Schutzgelderpressung war meist ein sauberes Geschäft, weshalb er es mochte, nicht so wie Zuhälterei oder Drogenhandel. Diese hätte er aus ethischen Gründen abgelehnt. Prostitution und Sucht hatten das Potential, Menschen komplett zu zerstören. Hier waren die Konsequenzen weniger weitreichend. Geschäftsleute schienen immerzu Guthaben mit Existenz gleich zu setzen. Er wusste, man konnte auch pleite weiterleben. Und er war stets bereit, in einem gewissen Rahmen mit sich handeln zu lassen, wenn ihm auch ein wenig Höflichkeit entgegengebracht wurde.
Er zündete sich mit dem Feuerzeug die Zigarre an und der aufsteigende Rauch ließ in blinzeln. Der Geruch würde der Bäckerei länger erhalten bleiben als seine eigene Person, dennoch verstand er die Aufregung um Nichtrauchergesetze nicht. Mit Verstand kam man schließlich in vielen Lebenslagen weiter. Vor wenigen Jahren hatte man noch überall rauchen können, sogar bei Fernsehtalkshows hatten sich die Gäste gegenseitig geräuchert. Und gestern hatte er in der Fußgängerzone eine Mutter gesehen, die eine dichte Rauchwolke in den Kinderwagen ihres Babys geblasen hatte. So jemand war – objektiv betrachtet – sicherlich verbrecherischer als er selbst.

Was ihm an seiner Aufgabe auch gefiel, war die Verschwiegenheit, derer sich alle Beteiligten bedienten.
Ihrer Organisation war der Flug unter dem Radar verständlicherweise lieber als Aufmerksamkeit und ihre Geschäftspartner sahen schnell ein, dass sich Widerstand nicht auszahlte. Die Polizei hielt sich bei Ermittlungen zurück, da seit Jahren die richtigen Beamten geschmiert wurden.
Er drehte nachdenklich das schwere Feuerzeug in der Hand. Dies war die Waffe seiner Wahl. Legal mitzuführen, trotzdem ein gefährlicher Gegenstand, den man im Diskussionsfall durch Scheiben werfen konnte. Nur einmal war er gezwungen gewesen, weiter zu gehen. Die Inhaberin eines Spielzeugladens hatte sich bereits drei Monate geweigert zu zahlen, war frech geworden, hatte ihn sogar persönlich beleidigt.
Entgegen der landläufigen Meinung und der Darstellung in schlechten Krimis fühlte es sich für ihn wie ein Scheitern an, wenn er Gewalt anwenden musste. Gut für das Geschäft war es auch nicht. Diesem frechen Ding den massiven Marmorblock vor Publikum in die Zähne zu schlagen, hatte damals im Laden eine regelrechte Massenpanik ausgelöst. Diese Frau hatte ihn dazu gezwungen, dies vor Kindern zu tun. An diese Konsequenz ihres Tuns hätte sie damals auch denken können, bevor sie respektlos wurde.
Aber meist war seine Arbeit so unaufgeregt, wie es sich jetzt andeutete. Der Bäcker kam von Lisa begleitet in den Verkaufsraum zurück und hielt bereits zwei Geldscheine in der Hand, ausreichend, um seine Schulden zu begleichen. Der mit Mehl bestäubte Herr lächelte ihn so übertrieben freundlich an, dass es ein wenig debil aussah und reichte ihm das Geld über den Tresen. „Soll ich ihnen noch einen Aschenbecher holen?“, fragte Lisa ihn – offensichtlich eingeschüchterter als zu Beginn ihres Treffens. Wahrscheinlich wusste sie nun Bescheid, was die Geschäftsbeziehungen in folgenden Monaten erleichtern würde. Für ihn aber war das Geschäft erledigt, er verstaute bereits Geld und Feuerzeug in seiner Jacke.
Er schüttelte den Kopf verneinend und trat nach Öffnen des Riegels wortlos durch die Glastür der Bäckerei, die hinter ihm zufiel. In der kalten Außenluft auf dem Bürgersteig tippte er unbeholfen einen Text in sein Smartphone. Seine Organisation hatte begonnen, unverfängliche Nachrichten als Codes über Twitter zu versenden, um schnell zu kommunizieren. So berichteten sie nun von ihren Geschäften. Er empfand dies und dieses klobige Telefon als überflüssig und störend.
„Was soll nur aus dieser Welt werden?“, flüsterte er sich selbst zu, wandte sich zum Gehen, erstarrte und eilte wieder durch den Eingang des Ladens.
„Soviel Zeit muss sein!“, rief er Lisa strahlend entgegen und drehte das Schild an der Tür wieder auf „Geöffnet“.

Autor: Frederik Elting
Setting: Bäckerei
Clues: Massenpanik, Insuffizienz, Zopffrisur, Twitter, Feuerzeug
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