Geh auf dein Zimmer!

Horst, jetzt räum deinen Klumpatsch endlich weg! Wir sind nicht in die Neue Welt gekommen, um ein Durcheinander anzurichten“, wetterte Mathilde den Jungen an, der mitten auf dem Boden seines Zimmers saß und von einer bewundernswerten Menge Bauklötzchen umgeben war. Trotzig griff sich das Kind eine Handvoll davon und pfefferte sie in eine Ecke. „Nein, ich will ein Eis!“
Mathilde verdrehte die Augen. „Du kriegst ein Eis, wenn du brav bist und dein Durcheinander aufräumst, Sohnemann. Ich gehe jetzt in den Garten, ich will heute noch die Eiche einpflanzen, bevor es dunkel wird.“ Damit wandte sie sich ab und stakste durch die Tür, die sie hinter sich gut hörbar zumachte. Horst murmelte wutentbrannt unzusammenhängende Satzfragmente in sich hinein und begann, Klötzchen in einen großen Korb zu schippen. Mit einem Mal unterbrach er sich, mit einem (wie er glaubte) fiesen Grinsen auf dem Gesicht. Rasch robbte er zu der Schachtel mit seinen Buntstiften, kramte den himmelblauen Stift heraus und legte sich vor der Holzwand auf den Boden. In kleinen Buchstaben, so dass man es nur bei genauerem Hinsehen entziffern konnte, krakelte er in an abstrakte Kunst erinnernden Kinderbuchstaben: „Mama ist blöd.“

„Nein, bitte, ich verrate dir alles!“, rief Marten und zerrte verzweifelt an seinen Fesseln, jedoch ohne Erfolg. „Ich sage dir, wo ich die Ware versteckt habe!“ Geblendet kniff er die Augen zusammen, als ihm der Jutesack vom Kopf gerissen wurde. Kaum hatte er sich einigermaßen an das Tageslicht gewöhnt, sah er sich hastig in dem leeren Zimmer um. Alles, was ihm auffiel, waren die Abdrücke von Bettpfosten und einer Kommode auf dem Teppich sowie eine Kritzelei in einer fremden Sprache, vielleicht Deutsch, an einer Wand. Er musste in einem unbewohnten Haus sein, niemand würde ihn schreien hören, niemand würde ihm zu Hilfe kommen! Marten fühlte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen, als er das charakteristische Klicken einer Waffe vernahm. Langsam, schon fast schlendernd, umkreiste der Mann, den alle nur als „Cleaner“ kannten, ihn und schraubte einen Schalldämpfer auf seine Fünfundvierziger, während er mit ruhiger, beinahe perfekt modulierter Stimme erklärte: „Du wirst sterben, Marten – der Don mag keine Verräter. Aber es wird schneller und schmerzloser gehen, wenn du mir erzählst, wo deine Beute ist.“

„Okay“, murmelte Linda angestrengt und warf einen weiteren Blick auf den Bildschirm ihres Laptops, auf dem die pausierte Szene aus einem Video zu erkennen war, „mein linkes Bein kommt nach oben …“
„Nein, das Rechte, wir machen es ja spiegelverkehrt“, meinte Chester verwirrt und Linda konnte nicht umhin, resigniert an die mit Blumentapete zugekleisterte Zimmerdecke zu starren. Wieso mussten sie auch eine Kamasutra-DVD kaufen?
Chesters Gesicht erschien nur knapp über ihrem und er fragte: „Musst du dafür die Korsage nicht zuerst ausziehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, seufzte er und erklärte entschieden: „Das bringen wir nicht zustande, ohne uns dabei umzubringen.“
Linda konnte nicht anders, als in Gelächter auszubrechen. „Da hätten wir auch ‚Fifty Shades of Grey‘ nachspielen können.“
„Okay, ich hole die Handschellen und die Peitsche“, sagte Chester wesentlich motivierter und versuchte, über seine Freundin zu krabbeln. Mit einem erschrockenen Grunzen rutschte er vom Bettgestell ab und landete unsanft auf dem Boden. Er gab einen überraschten Ausruf von sich und murmelte fragend: „Blut?“
„Hast du dich verletzt?“, wollte Linda besorgt wissen und ging zu ihrem Freund. Er schüttelte den Kopf. „Nein, da sind ein paar uralte eingetrocknete Spritzer, die müssen vom Vormieter sein. Diese arrogante Maklerin kriegt aber was von mir zu hören!“

„Mein Bart! Hilfe!“, schrie Artie und rannte dazu mit lichterloh brennendem Gesichtsschmuck durch das Zimmer, was so aussah, als wollte er einen unkoordinierten Regentanz aufführen. „Fuckfuckfuck!“
Für einen kurzen Augenblick stand Tarek nur da und starrte verständnislos auf die überaus dramatische Szene, die sich vor ihm abspielte, dann endlich reagierte er, griff nach der Gießkanne und rief seinem Kumpel zu: „Bleib stehen, du Trottel, ich kann dich löschen!“
Artie schien trotz seinem Tunnelblick noch zu begreifen, was er tun musste und blieb so abrupt stehen, dass er dabei beinahe vornübergekippt wäre. Tarek hob die Hand mit der Gießkanne und kippte den ganzen Inhalt über die Flammenpracht, die sogleich zischend erlosch. Ehe er richtig hätte zu Atem kommen können, keifte Tarek auch schon los: „Wie hast du diesen Scheiß wieder zustande gebracht?!“
„Mein Bart“, stotterte Artie verstört und deutete auf den kläglichen Überrest der gerodeten Pracht. „Der Joint … Das Feuerzeug.“
Tarek verdrehte demonstrativ die Augen und wollte sich gerade abwenden, als er Arties Stimme hinter sich hören konnte, nur dass sie dieses Mal verträumter klang: „Hast du gewusst, dass wir eine geblümte Decke haben? Die ist wunderschön …“

„Okay, und wann ist die Deadline?“, fragte Sara und pulte einen Notizblock unter einem Stapel Dokumente hervor, wobei sie das Telefon zwischen Wange und Schulter einklemmte. Rasch notierte sie sich einige Angaben, wozu sie bestätigende Geräusche von sich gab, bevor sie schließlich antwortete: „Natürlich das ist bestens. Einen schönen Abend noch.“
Während sie das Handy zur Seite legte, blätterte Sara ihre Notizen durch und erinnerte sich daran, dass sie unbedingt noch die Handwerker wegen dem neuen Spannteppich anrufen musste. Der jetzige hatte einen großen Wasserfleck, was sich in dem Zimmer, das sie als Home Office nutze, keinen guten Eindruck machte. Etwas müde schnaubte sie, fuhr sich durch ihre Haare und stütze sich auf dem Schreibtisch auf. Eine große Tasse Kaffee wäre jetzt genau das, was sie brauchte. Doch stattdessen schaute sie den Regentropfen dabei zu, wie sie auf die Äste der Eiche klatschten, die vor ihrem Fenster im Wind wankte. „Komm schon, du faule Kuh“, schimpfte Sara mit sich selbst, stand ruckartig auf und befahl sich lautstark: „Jetzt holst du dir einen Kaffee, lüftest die Bude ordentlich durch und …“
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihr Selbstgespräch und sie schnappte sich den Hörer. „Uptown Software Solutions, Sara am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Komm schon, komm schon“, murrte Kira und hielt die Hände so um den Controller der Play Station verkrampft, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann zeigte sich ihr Gegner auf dem großen Bildschirm und sie feuerte eine Salve aus ihrer AK-47 ab, sodass er dank einem sauberen Kopfschuss tot hintenüber kippte und Kira frenetisch kreischte: „Ja, voll in die Fresse!“
Alexa war zusammengezuckt und starrte ihre Zwillingschwester böse an. „Jetzt sei schon still, du Über-Nerd, ich will hier lernen. Die Abschlussprüfung ist morgen und nicht alle behalten jedes Detail beim ersten Mal im Kopf, so wie du.“
„Okay, okay“, meinte Kira beschwichtigend, die nicht in der Stimmung zum Zanken war und kramte Kopfhörer aus einer Schublade. Erstaunt hielt sie in ihrer Bewegung inne und wandte sich um: „Sis, weißt du eigentlich, von was die Abdrücke auf dem Teppich sind?“
Alexa krauste die Nase und drehte sich um. „Hm. Schaut aus, als wäre da mal ein riesiger Schreibtisch gestanden.“ Entschieden schüttelte sie den Kopf, drehte ihren Stuhl wieder herum und beschwerte sich: „Nein, jetzt lasse ich mich nicht mehr von dir ablenken!“
„Aber ich habe dich erwischt“, meinte Kira kichernd, bevor sie sich die Kopfhörer aufsetzte und sich den Controller schnappte. Es war an der Zeit, die restlichen Gangster umzulegen, genau die richtige Belohnung dafür, dass sie die Abschlussprüfung zweifellos bestehen würde!

„Shit, das war knapp!“, keuchte Olivia, ließ sich der Wand entlang auf den Boden sinken und legte mit vor Anstrengung zitternden Händen ihre Armbrust auf den Boden. Lamar, ihr momentan einziger Begleiter, schien fitter zu sein, denn er blieb stehen und wirkte weniger abgekämpft. Langsam senkte er seine Pistole und Olivia lauschte, doch kein verdächtiges Geräusch war zu vernehmen. Das Zimmer, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, sah schäbig aus: Mehrere Schichten Tapete baumelten in Fetzen von der tropfenden Decke, eine Kommode lag umgekippt und mit aufgerissenen Schubladen neben einem großen, gesplitterten Bildschirm und sie konnte eine Play Station sehen, die in ihr Erinnerungen an ihre Jugend weckte. Auf dem Teppich unter den beiden zertrümmerten Fenstern wuchsen Moose, aus der Matratze spross gar ein fingerhoher Baum. Der Zerfall hatte schon arg an dem Haus genagt, sodass Olivia sich Sorgen über die Statik machte, immerhin konnte eine Verletzung sehr schnell ein Todesurteil sein.
„Ich höre keine Infizierten“, meinte Lamar leise. „Wir haben sie abgehängt.“
Wie immer, wenn Lamar diese Dinger ‚Infizierte‘ nannte, zischte sie genervt: „Die Welt ist im Arsch, es gibt keine Zivilisation mehr und niemanden, den du damit beruhigen kannst, wenn du dir schöne Namen dafür ausdenkst – es sind Zombies, Punktum und Schluss!“
„Ist ja gut“, murrte Lamar und warf einen prüfenden Blick auf die zugewucherte Straße, an der vereinzelte vor sich hin rostende Autos geparkt waren. Die gelben Blätter der großen Eiche raschelten im kühlen Herbstwind und ab und an segelte eines herunter. Er wandte sich ab und meinte: „In einer halben Stunde sollten wir sicher weitergehen können. Ich kann gar nicht darauf warten, dieses verfallende Geisterkaff hinter mir zu lassen.“

Autorin: Sarah
Setting: Zimmer
Clues: Bart, Feuerzeug, Horst, Armbrust, Klumpatsch
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2 Gedanken zu „Geh auf dein Zimmer!“

  1. Hmm, 4 mal Zukunft. Aber erst beim letzen Mal eine bemerkbare Änderung.
    Schön geschrieben und toller Einfall, aber weniger Zukunft und mehr Vergangenheit hätte mir glaube ich noch besser gefallen. Ist aber meckern auf sehr hohem Niveau ;)

    1. Liebe Lexa,
      auch Meckern auf hohem Niveau ist wichtiges Feedback und wird von usn sehr geschätzt! Mir ist auch erst jetzt wirlich aufgefallen, dass die „Fifty Shades“-Anspielung die eine Episode um mehr als zehn Jahre nach hinten verschiebt, so wirds gegen Ende doch etwas gedrängt, da muss ich dir Recht geben. Und natürlich freut es mich sehr zu hören, dass du von meckern „auf hohem Niveau“ sprichst :)
      Und damit wünsche ich dir einen schönen Abend und verschwinde wieder in die Küche,
      Sarah

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