Ende Gelände

Mit einem außerordentlich dramatischen Seufzen sah er sich im Rangun International Airport um und wischte sich mit seinem braungebrannten Unterarm über die Stirn. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, während der Regenzeit nach Myanmar zu reisen, denn die Hitze war beinahe unerträglich. Doch das wäre nicht mehr lange wichtig, in weniger als einer Stunde würde er in einem klimatisierten Airbus sitzen, die Beine strecken und darauf warten können, die Trümmer des Desasters zusammenzusuchen. Alles, was er dabei hatte, war das Ticket für seinen Rückflug und eine beinahe leere Brieftasche.
Es war nicht einmal ein halbes Jahr her, als er am Schiffsbug des alten Frachters an der Reling gestanden hatte, den frischen Meerwind im Gesicht. Vor ihm war ein neues Leben gelegen, ein Leben voller Abenteuer und Entdeckungen. Wie viele Leute in seiner Heimat träumten davon, so eine Reise zu unternehmen, eine Fahrt ins Ungewisse, ganz ohne Reisebüro oder Unterhaltungsprogramm, nur mit einem geschulterten Rucksack. Was genau ihn zu diesem Sprung ins Ungewisse getrieben hatte, hätte er selbst nicht sagen könne. Er war nur ein ganz normaler Bürger gewesen, der tagein-, tagaus seine Schreibtischarbeit verrichtet hatte, genauso wie der Mensch, der normalerweise nur von großen Dingen schwärmte, sie jedoch niemals tat.
Zumindest bis zu seinem vierzigsten Geburtstag. Er hatte nie geglaubt, eine Midlife Crisis zu haben, sondern war einfach zu dem Schluss gekommen, dass er eine Veränderung brauchte, also hatte er seinen Job gekündigt, war aus seiner Wohnung ausgezogen und hatte eine Passage auf einem Frachter gefunden, der nur einige Tage später in Richtung Bangkok ausgelaufen war.

„Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, murmelte er und warf einen Blick auf den neuen Pass, den er sich auf der Botschaft seines Landes geholt hatte und den er nun mit dem Ticket zusammen festhielt, als wäre es das Einzige, was noch wichtig war, bevor er wiederholte: „Shit, was habe ich mir nur dabei gedacht?“
Nie hätte er sich auszumalen gewagt, dass solche Reisen ins Ungewisse derart gefährlich wären, dass sie so viel kosteten. Er hatte sich eher vorgestellt, eine Art moderner Abenteurer zu werden, doch dieses Szenario hatte er nie im Kopf gehabt, obwohl er sonst kaum den Ruf gehabt hatte, naiv zu sein. „Lass diesen Humbug sein oder leg dir wenigstens irgendeinen Plan zurecht, statt mit all deinem Ersparten durch die Welt zu tingeln“, hatte ihn sein bester Kumpel ermahnt, doch er hatte nicht auf ihn gehört. Eine Ansage riss ihn aus seinen Gedanken, doch es ging dabei nicht um seinen Flug. Nervös und erschöpft warf er einen Blick auf die Tafel und stellte fest, dass nun das Gate angezeigt wurde. Er wusste, dass ihm noch viel Zeit blieb, doch er wollte nur noch nach Hause und es sollte nichts mehr geben, das ihn davon abhielt und so entscheid er sich, schon zum Gate zu gehen. Mit einem erneuten müden Seufzen erhob er sich und ging auf einen Aufzug zu.

Als er in die Kabine trat, begann er zu begreifen, was zuhause auf ihn warten würde: Unzählige Fragen seiner Verwandten und Bekannten, was er denn nun alles erlebt hatte und sicher auch dazu, weshalb er denn schon zurück sei, da er immer gesagt hatte, dass er auf eine Weltreise gehen wollte. Doch was sollte er ihnen sonst sagen? Dass er gescheitert war, jede Sicherheit aufgegeben hatte, nur um mit einer nie dagewesenen Blauäugigkeit durch die große weite Welt zu stolpern? Das hätte der Trip seines Lebens werden sollen, ein außerordentliches Erlebnis. Doch anstelle davon, weit zu kommen, war er schnell und hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet.
Nein, das konnte er ihnen nicht berichten, das war nicht die Art von Story, die man gerne irgendjemandem erzählte. Er bemerkte, wie ihm allein die Idee an diese grauenhafte Situation mit Freunden und Familie die Schamesröte ins Gesicht trieb und war dankbar dafür, in der leeren Aufzugskabine unbeobachtet zu sein. Er brauchte eine bessere Geschichte, die nicht damit begann, dass er beim Kauf seines Jeeps übers Ohr gehauen worden war und kurz darauf in einer verlassenen Gegend liegengeblieben war. Vielleicht hatte er ja jemandem geholfen, der Geld nötiger gehabt hatte als er? Und wenn er schon dabei war, hatte er auch nicht in dem unwegsamen Gelände, vor dem ihn die Einheimischen gewarnt hatten, bei einem Sturz den Knöchel verstaucht, sondern war stattdessen mit ein paar Wanderern unterwegs gewesen, die lange abseits von der Zivilisation kampierten. Und natürlich hatte er die Shwedagon-Pagode und den goldenen Felsen gesehen, statt in einer dunklen Gasse überfallen zu werden und sich dann mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten zu haben. Ja, das war das Abenteuer, über das man berichten musste, solche außergewöhnlichen Erlebnisse machten eine gute Legende aus. Niemand von seinen Freunden und Verwandten würde nach Myanmar reisen und die Erzählung nachprüfen und so konnte er wenigstens sein Gesicht retten.
Die Türen glitten auf und vor ihm lag die Wartehalle. Als er hinaustrat, fragte er sich etwas zu laut, sodass ihn einige Passagiere verwirrt ansahen: „Was mache ich mir denn vor?“
Es spielte keine Rolle mehr, was es sich für Abenteuer erdichtete, jeder in seinem Umfeld würde begreifen, dass er gescheitert war. Das ganze anderssein wollen hatte ihn erst in diese Situation gebracht, damit hatte doch alles angefangen! Er wollte nicht eines Tages als prätentiöser Lügner dastehen, lieber hatte er in seinen Erinnerungen eine Zeitspanne, an die er voller Verlegenheit zurückdachte, wenigstens blieb er so ehrlich. Diese Episode war nichts weiter als ein kleiner, nicht repräsentativer Auszug aus seinem Leben und jeder hatte das Recht, etwas Dummes zu tun und dabei zu versagen!

Die Schlange zu seinem Flieger war nicht besonders lang, in weniger als fünf Minuten wäre er an Bord. Die Frau, welche die Tickets prüfte, hatte ihm bereits einen skeptischen Blick zugeworfen, als er sich hinten angestellt hatte und er konnte es ihr nicht wirklich verübeln, denn er sah wirklich abgekämpft und heruntergekommen aus. Und wieder wanderten seine Gedanken zu den Entscheidungen, die er getroffen hatte, die ihn in diese Situation gebracht hatten. Das Beste an der Sache war, dass er problemlos in Myanmar hätte reisen können, wenn er nur etwas vorausgeplant hätte. Die Sache war nicht daran gescheitert, dass es hier so schrecklich wäre, sondern nur daran, dass er nichts überlegt hatte. Er war genau das gewesen, was er um keinen Preis hätte sein wollen: Es dummer Tourist, der sich um den Finger Wickeln ließ und mit einer fixen Vorstellung von A nach B irrte, ohne sich zuvor umzusehen. Ein naiver, leichtgläubiger Trottel. Dabei kam kein vernünftiger Mensch auf die Idee, ein Casino zu überfallen, nur weil das im Kino klappte oder Superheld zu werden, weil er es in einem Marvel-Comic gelesen hatten. Und Kinder, die noch von solchen Dingen träumten, wurden rasch genug erwachsen, um diese Pläne zu begraben.
Mit einem Mal hielt er inne, erstarrte regelrecht und machte dann rasch einen großen Schritt aus der Schlange, um andere vorzulassen. Noch würde er die Sache retten können, alles was er dazu tun musste war das Ticket zu zerreißen. Seine Zukunft wäre dann alles andere als gewiss, doch das war das Abenteuer, von dem er geschwärmt hatte; mit einem Rest Geld, der ihm nicht weit reichen würde und ohne eine weitere Möglichkeit, nach Hause zu kommen in einem Land, das er noch kaum kennengelernt hatte. „Hast du den Mut dazu oder bist du ein zu großer Feigling?“, murmelte er und setzte dazu an, das Stück Papier in seinen Händen zu zerreißen, hielt sich jedoch zurück. Er konnte es einfach nicht tun, das war der letzte Ausweg zurück in ein sicheres Leben. Und schon so würde er die Trümmer aufsammeln müssen, eine Wohnung finden, zum Sozialamt gehen, bis er wieder einen Job hatte … Andererseits wollte er doch kein Feigling sein, wollte nicht von der Herausforderung weglaufen, nur weil er über seine eigene Dummheit gestolpert war. Und plötzlich dämmerte ihm etwas, das er sich nicht ein einziges Mal überlegt hatte: Er hatte immer nur an sich gedacht, genau wie diese eingebildete, selbstsüchtige Zicke in „Eat, Prey, Love“. Ihm hatte etwas nicht gepasst und er war einfach abgehauen, ohne Telefon, ohne sich während seiner Reise bei jemandem zu melden und seine einzige Begründung dafür war gewesen: „Ich brauche das jetzt.“ Er hatte nur sein Ding durchgezogen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was das für seine Freunde bedeutet hatte. Er war ein verfluchter Egoist gewesen! Doch er war nicht alleine, es ging bei der Sache nicht nur um ihn. Er musste zurück und alles daran setzen, den Schaden wiedergutzumachen, den er Zuhause angerichtet hatte. Mit verbissener Entschlossenheit stellte er sich wieder hinten an und hielt das Ticket wieder so fest wie zuvor. Vielleicht würde er eines Tages nach Myanmar zurückkehren, dann jedoch hoffentlich mit einem Plan, was genau er eigentlich tun wollte.

Autorin: Sarah
Setting: Myanmar
Clues: Humbug, Schiffsbug, Auszug, Rückflug, Aufzug
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