Wir waren Helden

Lizzie konnte kaum atmen, schloss die Augen, umfasste die Knie mit den Armen, begann zu zählen; null, eins, zwei, drei … Langsam wurde es besser, die sortierte, numerische brachte Struktur, eine Illusion von Ordnung in ihr durcheinandergewirbeltes Leben. Sie begann im Takt zu den Zahlen mit dem Knöchel ihres linken Mittelfingers auf den Holzdielenboden zu pochen, ganz leise nur, vierzehn, fünfzehn, sechzehn …
Wohl wissend, wie unangebracht es in ihrem Alter von siebenunddreißig Jahren war, hatte Lizzie sich nichtsdestotrotz vor diesem neuerlichen Zerwürfnis ihrer Familie in das Poolhäuschen geflüchtet. Gewöhnlich bevorzugte sie es, sich aufs Klo zu setzen, hin- und herwippend zu pinkeln, ihre Atemübungen dazu machend, obschon jeder wusste, es wäre Suizid durch Vergasung, die Toiletten kurz nach Großvater aufzusuchen. „Dreiunddreißig“, flüsterte sie, in den Abendhimmel über den Hollywood Hills starrend. Dies war weder ihre Stadt, noch ihr Leben, zu heiß, zu viel Botox, zu viel Silikon und zu verdammt viele Angeber. Sie lebte lieber auf dem Land, fütterte ihr Huhn, das bald Artgenossen als Kameraden bekam, und ging so abgeschottet wie möglich ihrer Arbeit nach. „Aber das ist deine Familie“, erinnerte sie Mom mit ihren wasserstoffblonden Haaren bei jedem Treffen. „Das sind die Leute, die du lieb hast, kannst du nicht etwas mehr Zuneigung zeigen statt ständig so verschlossen zu sein?“
Lizzie erklärte jeweils: „Im Grunde genommen habe ich außer dir, Trent und Dad niemanden lieb. Mit den anderem muss man halt irgendwie auskommen, weil es soziale Etikette ist.“ Eigentlich hätte sie gelernt haben sollen, solche Dinge unter keinen Umständen zu sagen, zumindest war ihr das von klein auf beigebracht worden. Bloß, wie soll man sich all die abstrusen Regelwerke überhaupt merken, Baupläne und Bedienungsanleitungen für eine Boeing 747-800 zusammengenommen waren bedeutend simpler als soziale Etikette. Und so vermochte es wenig zu verwundern, dass sie Mom auch dieses Thanksgiving zu dem berühmten „Ich verstehe nicht wieso du so schwierig sein musst“-Schniefen gebracht hatte. Mom schniefte jedes Mal auf ihre vermeintlich subtile, passiv-aggressive Art, wenn ihre Tochter kein Verständnis dafür zeigte, was von ihr erwartet wurde. Dies war bei weitem nicht das Einzige, das die Familie aus Lizzies Perspektive verrückt erscheinen ließ: Nahezu all ihre Familienmitglieder bemühten gern die Analogie, Blut sei dicker als Wasser. Das war zwar physikalisch korrekt, dennoch erwiesen die Fans dieses Spruchs dem intendierten Gleichnis gerade keine Ehre, da sie sich derzeit wieder einmal wegen einer Belanglosigkeit die Köpfe abrissen.
Als Kind hatte Lizzie stets die Hände über die Ohren gehalten, monoton vor sich hinzusummen begonnen und war auf- und abgeschaukelt, wenn ihre Mitmenschen in Streit ausgebrochen waren. Nun hatte sie ihre Strategien optimieren müssen, immerhin hätte sie, wenn sie als erwachsene Frau bei ihrer ursprünglichen Methode geblieben wäre, ziemlich sicher nahegelegt bekommen, einen Psychiater aufzusuchen.

Das Knarren auf der Treppe ließ Lizzie zusammenfahren und mit einer Ruckartigkeit, die sonst ausschließlich manchen Vogelarten eigen war, wandte sie den Kopf um. „Trent, bist du das?“
Ein bestätigendes Geräusch machend, trat ihr Bruder in das winzige Poolhäuschen, ließ sich neben ihr nieder und stellte eine Flasche vor sie hin. „Hey Sis. Ich habe dir ein Bier aus dem Kühlschrank geholt.“
„Danke“, murmelte sie und hob die Flasche zum Mund. Erst auf halben Weg erinnerte sie sich daran, mit ihm anzustoßen. „Auf eine verrückte Familie, die sich wegen der Konsistenz eines Truthahns zerlegt!“
Das Aneinanderklirren der Glasflaschen klang hell wie eine Glocke. „Na, wie hast du mich gefunden?“
Trent lachte, nicht aufgesetzt, soweit sie das beurteilen konnte, sondern einfach so. „Komm schon, du bist meine Schwester, ich wusste bereits, als du zehn warst, wo du dein Sparschwein versteckst. Außerdem hast du dich nicht auf dem Klo eingeschlossen, ergo musstest du an einem anderen stillen Örtchen sein.“ Er sah rasch auf die Kulisse der Stadt hinter dem erleuchteten Pool hinunter, bevor er sich nochmals ihr zuwandte. „Und, zählst du noch?“
„Zweihundertvierundsiebzig“, entgegnete Lizzie. „Wir ändern uns kaum im Erwachsensein, wie ich damals erwartete. Vielleicht ändert man sich nie, ich glaubte früher, ich werde mal sehr sozial und populär sein.“
Trent konnte nicht anders, er brach in Gelächter aus; Lizze war klar, er würde sich nicht dafür entschuldigen und genau das wusste sie an ihrem Bruder am meisten zu schätzen. Sie zog die Gesellschaft von jemandem, der sie auslachte, wenn es angemessen war, derjenigen von todernsten Leuten, die sich am Ende wie Kleinkinder in die Haare gerieten, eindeutig vor.
„Es tut mir ja leid, dich zu enttäuschen, Sis, aber du wirst niemals ein sozialer Mensch werden. Dafür schaffst du es, dass die Leute dich als halbwegs normal ansehen.“
„Ich habe da so meine Zweifel“, kicherte Lizzie, einen großen Schluck von ihrem Bier nehmend.
Trent zog die Augenbrauen zusammen, eine Bewegung, die sie im Halbdunkel, das bloß von dem im Wasser tanzenden Licht erhellt wurde, gerade so erahnen konnte. „Und was ist dein Argument?“
„Zweihundertsechsundneunzig?“, meinte sie mit einem demonstrativen Unterton in der Stimme, der wohl besagen sollte, dass die Zahl die Antwort darstellte.
„Du kannst mit dem Zählen aufhören, bin ich jetzt da“, brummte Trent. „Und du hast Bier, besser kann dein Leben nicht werden.“
„Moment! …achtundenunzig, zweihundertneunundneunzig, dreihundert.“ Lizzie atmete tief durch und lehnte sich zurück. „Okay, ich höre auf, es lässt mir nur Ruhe, wenn ich auf einem Hunderter ende, sonst bleibt es unvollständig.“
„Nein, du bist echt noch genau dieselbe, schaust sicher auch noch ununterbrochen auf die Pflastersteine, wenn du gehst, um auf jeden zu treten.“ Urplötzlich wandelte sich sein Gesicht zu einem Schmunzeln. „Ach, wünscht du unserer Verwandtschaft noch immer Chlamydien? Das hast du doch mal mit vierzehn getan, was war da schon wieder die Logik dahinter?“
„Na ja, wenn einem jemand auf den Keks geht und man ihm nicht wirklich wehtun will, dann wünscht man ihm angeblich, er solle auf einen Legostein stehen. Nun, ich habe da so meine Experimente durchgeführt und an neuralgischen Punkten im Haus Legosteine platziert, aber alle, die darauf gestanden sind, haben noch mehr herumgejammert als zuvor. Darum kam ich auf Chlamydien, da sind die Leute mit was beschäftigt, über das sie nicht öffentlich rumjammern und das sie vom Zanken abhält. Logisch und effizient.“
„Man muss dich mögen“, gluckste Trent, ehe er sich unterbrach. „Moment mal, dann bin ich eine Zeit lang in meiner Jugend wegen dir andauernd auf Legosteine gestanden?“ Seine Schwester sah beschämt weg, was Trent beinahe zu einem amüsierten Statement brachte, anscheinend fiel ihm stattdessen etwas anderes ein. „Ich muss mich korrigieren, wir haben uns geändert: Damals waren wir Helden!“
Nun war es an Lizzie, ihn verwirrt zu fixieren: „Wieso meinst du?“
„Denk nur an meine Superhelden-Comics, an deine Video-Games … Wir waren damals die Helden in unseren Leben, haben die Bösen bekämpft und wissenschaftliche Experimente an unseren Eltern durchgeführt. Heute sind wir schlichtweg komische Erwachsene, die auf unsere dysfunktionale Familie dysfunktional wirken.“
„Weißt du was, das ist es!“, rief Lizzie auf einmal freudig aus. „Wir schwören uns, wieder die Helden unserer Geschichte zu sein. Ich mache jede Wette mit dir, jetzt, da wir erwachsen sind, können wir wahrhaftig was bewirken, Chaos und Verwirrung stiften!“
„Und wie genau soll das gehen?“, erkundigte sich Trent.
„Na, ganz einfach.“ Lizzie hatte die Bierflasche abgestellt und grinste ihn begeistert an. „Ich hole die Legosteine aus dem Keller und verteile sie im Haus, solange noch alle da sind. Du arbeitest in einer Pharma-Firma, also musst du die Chlamydien besorgen.“

Autorin: Sarah
Setting: Poolhäuschen
Clues: Huhn, Zerwürfnis, Sparschwein, Chlamydien, Kühlschrank
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