Special zur vierhundertsten Story | Höhenflüge

Sie war durch üppige von Vogelgezwitscher erfüllte Wälder gegangen, hatten den kühlen Schatten genossen, die Feuchtigkeit auf ihrer Haut gleichmütig als Zeichen der wohligen Erschöpfung hingenommen, bis das Nadeldach sich lichtete. Ihr Weg hatte sie den Windungen eines Flusses entlanggeführt, immer höher, dem unerreichbaren Himmel entgegen, hinweg über die sich stetig verändernde Berglandschaft. Sie schritt über knirschenden Kies, Felsen, Geröll und die Baumgrenze war unbemerkt an ihr vorbeigezogen, hinter ihr zurückgeblieben. Die Anstrengung machte ihr wenig aus, berührte sie kaum, hier draußen verloren Sorgen, Stress, ja der ganze Alltag ihre Bedeutung, wichen einer alles einnehmenden Leichtigkeit. Selbst wenn diese bloß flüchtig war, nach ein, zwei, im Glücksfall drei Tagen wieder verschwand, so trauerte sie der Freiheit nicht hinterher, sondern kostete sie mit jeder Faser ihres Geistes aus. In der Wildnis war sie losgelöst, unabhängig von allem, das Müßiggang in ihr Leben brachte. Ihre Wanderschuhe berührten den harten Untergrund, brachen kleine Steine los, die hinfortrollten und ohne hörbaren Aufprall in die Tiefe entschwanden. Eine einsame, junge Fichte ragte von Disteln gesäumt aus dem schiefrigen Gestein, brachte die Wanderin zum Lächeln, als sie innehielt und sich das knorrige Stämmchen besah. Die Zukunft des zarten Pflänzchens war ungewiss, ob es jemals zum Baum erwachen könnte, fraglich. Es existierte im Hier und Jetzt, trotz seiner geringen Größe hielt es Wind, Wetter und Abgrund stand – bemerkenswert. Der letzte Sonnenstrahl kitzelte ihre Nase, die nächste Rast war zum Greifen nahe, wartete am Ende ihrer Route mit dem Versprechen, den bleiernen Rucksack ablegen zu können. Rasch verglühte die Tageshitze und ihr begann zu frösteln.
Es konnte nicht mehr weit sein, befand die Rothaarige, einige Stufen, vielleicht hundert Meter, womöglich vierhundert, bis zum Etappenziel. Die erwanderte Kraftlosigkeit fiel von ihr ab, wurde abgelöst von Vorfreude. Nahezu beschwingt trat sie den Endspurt an, um wie die Fichte in die Gegenwart zu treten.

Höhenflüge

Hier oben scheint die Sonne länger, wenn auch nie ewig. Eine Stunde müsste die klargewaschene, reine Luft noch vom Dämmerlicht durchflutet bleiben, die abendliche Kälte kriecht bereits unter ihren Mantel – sie riecht nach Schnee, Wolken und tiefgreifender Ruhe. Welch wundervoller Ausblick, der Lohn für den herausfordernden Marsch, die blasenbildenden Strapazen des Aufstiegs. Sie tut die letzten Schritte zur Klippe, will die Rundumsicht in sich aufsaugen, sie in lebendige Erinnerung meisseln. Nebel bedeckt das Tal, kriecht seitlich den Steilhängen durch die Talsenke, langsam aber stetig auf sie zu, der Schrei eines Vogels hallt unter ihr und ein Bussard steigt flink empor.
Vorsichtig widmet sie ihre Aufmerksamkeit der abfallenden Klippe zu ihren Füssen. Sie will nicht taumeln, verweilt unter Spannung in sicherer Entfernung. Unter ihr tut sich die Kluft auf, die Felsen fallen kaskadenartig ab, grenzen an ein quer verlaufendes Plateau, bis sie schlussendlich in den breiten Strom des Flusses münden. Haben die Felsen das Wasser gezähmt, oder hat sich ein Rinnsal durch den Berg gekämpft, wie viele Meter trennen sie vom sanften Wellengang und welch Wandel hat das Gestein über Äonen hinweg beobachtet? Es sind Fragen, deren Antworten sie lediglich erraten, jedoch heute nicht mit Gewissheit kennen kann. Leichter Schwindel und ein flaues Gefühl im Magen machen sich breit, kaum bedrohlich, eher ungewohnt. Die Wanderin lehnt sich ein kleines Bisschen vor, überlegt, ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben Höhenangst verspürt. Der komische Zustand verstärkt sich, macht zugleich einer neuen Sinneswahrnehmung Platz, die alles dominiert: Sie hat den drängenden Impuls, einen Schritt nach vorn, ins Leere zu tun!
Erschrocken macht sie einen Sprung zurück. Es muss schon Jahre, Jahrzehnte zurückliegen, seit sie dieses beunruhigende Phänomen das letzte Mal erlebt hat. In ihrer Jungend, auf einer hohen Brücke, da muss es gewesen sein. Schwer atmend blickt sie auf die friedlich dahinziehenden Himmelsfetzen, versichert sich selbst, auf keinen Fall springen zu wollen. Geheime Todeswünsche hegt sie nicht, weder hier auf der Weltenspitze, noch da unten im Strom des täglichen Vorwärtswühlens. Nein, dahinter steckt etwas anderes, ein dreister Streich ihres Verstandes, der verzweifelte Versuch ihres Gehirns, die Diskrepanz zwischen dem Erleben und Denken zu überbrücken. Das Neuronengebilde sucht Erklärungen für den Schritt zum Abgrund, missinterpretiert den Sinn ihres Handelns und will sie von der eigenen Perspektive überzeugen. „Kognitive Dissonanz“, murmelt sie, erlöst vom Zweifel. Ein Flug in den Tod ist nicht ihr Begehren, der Zug, den sie auf dem Klippenrand verspür ist nichts weiter als ein Symptom, die Überforderung ihres Gehirns.
Ihre Neugier ist geweckt und mir beinahe kindlicher Faszination schiebt sie einen Fuß sachte vor, verlagert das Gewicht. Wie nahe muss sie dem Tod kommen, damit dieser seltsame Effekt wiederkehrt? Von der Erwartung gefesselt, ist es ihr unmöglich sich abzuwenden, geschweige denn aufzuhören. Den zweiten Wanderschuh nachziehend, findet sie die Grenze. Erneut schießen elektrische Signale durch ihre Synapsen, der Kampf zwischen wiederstreitenden Impulsen zündet wie ein Feuerwerk, sie will leben und stürzen zugleich. Konzentriert sie sich nur genug auf den Drang zu springen, glaubt sie bereits den freien Fall erahnen zu können, den Wind, der ihr Haar bauscht … Der Adrenalinschub lässt nicht auf sich warten, der Todesrausch vermischt sich mit ihrer Freude, den Berg bezwungen zu haben und dem Staunen, das mit der Betrachtung der Szenerie einhergeht. Diese unsere Erde brilliert in Schönheit, so gewaltig, so befreit vom Sinn und seiner Last, niemals gäbe sie ihre Zeit darin freiwillig auf.

Als das Hochgefühl abgeebbt war, zog sie sich vom Abgrund zurück. Gewissenhaft errichtete sie ihr schlichtes Lager, breitete seufzend ihren Schlafsack auf dem kargen Fels aus und nun legt sie sich nieder, streckt ihre vom Wandern starren Gelenke. Die Müdigkeit überkommt sie, spült den letzten hartnäckigen Kummer weg und sie lauscht der leisen Geräuschkulisse der Bergwelt. Nach dem langen Marsch sowie dem unverhofften, innerlichen Abenteuer, welches ihr das Stehen am Abgrund verschafft hat, legt sich die Entspannung umso wärmer, wohlverdienter um ihren Körper. Sie liebt ihre Ausflüge in die Einsamkeit, geben sie ihr doch Gelegenheit, mit ihren Gedanken allein zu sein, neue Dinge zu entdecken, sich der unendlich scheinenden Komplexität der Welt zu erfreuen. Sukzessive wird das Blau über ihr vom Flimmern der Sterne, der Milchstraße abgelöst, ungetrübt durch Licht, vollkommen nackt flirren die Himmelskörper vor ihren Augen. Zahllose Sonnen enthüllen sich in der irdischen Dunkelheit, sie sind unfassbar, unergründbar gigantisch und dennoch nur Staubkörner am Firmament des Universums. Es hätte kein perfekterer Tag sein können.

Illustration: Rahel
Text: Rahel und Sarah
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