Die Hölle, das sind die anderen

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Mohammeds Frau, Aisha, streichelte ihm über den Unterarm und redete ruhig auf ihn ein. „Keine Angst, bald geht es los und du wirst sehen, alles geht prima.“ Es war sein erster Flug, bisher hatte er stets, wenn es darum ging, in ein Flugzeug zu steigen, irgendeine Ausrede parat gehabt. Danach hatte er letzte Woche leider vergeblich gesucht, ihm wollte blöderweise kein Grund einfallen, weshalb eine dreitägige Fahrt in seinem uralten Ford besser sein sollte, als wenige Stunden in der Luft. Zumindest saß er am Gang, was ihm die Illusion vermittelte, im Notfall flüchten zu können, ihn allerdings ebenfalls den Blicken der anderen Passagiere aussetze, welche sich sicher darüber wunderten, weshalb er so aufgeregt war. Ein beklemmendes Gefühl für einen eindeutig arabischstämmigen Mann in seinen späten Zwanzigern, der sehr wohl wusste, welche voreiligen Schlüsse manche zogen.

Brigitte schnaubte leicht genervt, bevor sie ihren Verlobten anstupste, aber Peter ließ sich davon nicht stören. Er war ein tiefer Schläfer, so auch heute Morgen, als sie zwei geschlagene Stunden gebraucht hatte, ihn aus dem Bett zum Tisch und danach ins Taxi zu bugsieren. Na, der Urlaub fing ja toll an, sinnierte sie grantig und kramte schlussendlich ihre Zeitschrift aus der Handtasche. Von der Sitzreihe vor ihr wehte ihr der Duft fremder Gewürze entgegen, sie war noch unentschieden, ob sie den Geruch mochte oder er ihr zu muffig war. Auf jeden Fall war sie froh, dass die beiden vor ihr nicht nach hinten guckten und Peter mit offenem Mund schnarchen und sabbern sahen, sie hatte nämlich die Nase voll davon, von seinem unleidlichen Verhalten bloßgestellt zu werden.

„Gewonnen!“, plärrte Safia fröhlich und hielt Tom mit rausgestreckter Zunge ihre Karten unter die Nase. Die geröteten Wangen verdankte sie dem Wein vom vergangenen Abend, die Haarfarbe einer Tinktur aus Wasserstoff. „Blä!“
„Schon gut, Saf, krieg dich ein.“ Mit Freude nahm sie sein Lächeln zur Kenntnis, dieses hatte sie in den letzten Tagen vermisst. Ihr Freund stand unter Strom, da war zum einen die Zankerei mit seiner Mutter gewesen, zum anderen die Situation mit seinem Doktorvater, der umfangreiche Änderungen an seiner Arbeit wünschte. Da kamen die Ferien wirklich gelegen und sie hoffte inständig, Toms Laune würde sich mit Hilfe von Sonne, Strand und Meer ordentlich aufhellen. Ganz uneigennützig war das nicht, direkt im Anschluss an ihren Trip ging es auf Besuch zu ihren Eltern und bei denen wollte sie als ehemals ewiger Single mit ihrem Neuen einen guten Eindruck hinterlassen.

Seine Füße unter den Sitz vor sich schiebend streckte sich Janosch und rückte so dezent wie möglich ein weiteres Stück von der Frau weg, die neben ihm hockte und fasziniert auf ein Rezept für Minestrone schaute. Sie war als letzte an Bord gegangen, hatte sich ihm als Rita vorgestellt, das Buch aufgeschlagen und saß seither bockstill da. „Da bekommt man richtig Hunger“, versuchte er eine Unterhaltung zu beginnen, erntete dafür lediglich ein leicht irritiertes Brummen und den Vorschlag, die Flugbegleiterin zu rufen, wenn er etwas essen möchte. Danach starrte Rita wieder auf das Bild der Suppe, ignorierte ihn und er fühlte sich hängengelassen, wie damals, als er die Hand zu einem High Five gehoben hatte, das sein Chef unabgeschlagen hatte stehen lassen.

„Blöde Kacke, wann können wir endlich vom Flugfeld runter und ab in Richtung Sonne?“, jammerte Robert abermals. Paul schielte hin und her, um auszumachen, ob jemand zuhörte. Schlimm genug, dachte er, dass sein Partner in den auffälligsten Klamotten seiner Garderobe reiste, da könnte er wenigstens sein weichliches Gezeter lassen. „Bitte, Rob, ist ja nicht so tragisch“, spielte er die unfassbar lange Wartezeit herunter und achtete darauf, einen männlichen Tonfall zu treffen. Das Unbehagen mit seiner sexuellen Orientierung hätte vor Jahren verfliegen müssen, immerhin wurde er von seiner gesamte Familie, seinen Freunden sowie seinem beruflichen Umfeld genau so akzeptiert, wie er war, dennoch war ihm Roberts klischeehaft tuntiges Auftreten zuweilen wahnsinnig peinlich. Was sagte das eigentlich über ihn aus, schließlich hatte er sich für Robert entschieden.

Tina konnte sich nicht über das Benehmen ihrer Tochter beschweren, im Gegenteil, Nina hatte sich vorbildlich aufgeführt und kein einziges Mal Theater gemacht. Eingehüllt in ihre mit Häschen und Enten bestickte Kuscheldecke, erinnerte die Kleine an eine Raupe, die aus ihrem Kokon brechen wollte und trotz der bislang reibungslos verlaufenen Reise, war Tina angespannt. Ninas Mundwinkel zuckten, ein unmissverständliches Zeichen, dass die Vierjährige bald aufwachen und, so befürchtete ihre Mutter, losschreien würde. Sie kannte ihren Pappenheimer und eben dieser Pappenheimer konnte es kaum erwarten, zu ihrem Papa heimzukommen. Toleranz für Wartezeiten war nicht drin, fragt sich bloß wie Tina darauf reagieren sollte.

Roberts Geduldsfaden war kurz vor dem Reißen und zwar einerseits mit der Fluggesellschaft und andererseits mit Paul, der tatsächlich mit den Augen rollte und, wieder mal, zuließ schlecht behandelt zu werden. Es sei nicht so tragisch, hatte er gemeint, nicht so tragisch am Arsch! Mehr als zwei vermaledeite Stunden saßen sie zusammengepfercht in dem Urlaubsflieger und die einzigen Informationen, die sie dazu erhielten waren schlecht verständliche Ansagen des Piloten. Es hatte wohl technische Probleme bei den Gates gegeben, was auch immer das heißen sollte. Pauls stoische Mine machte ihn noch zerknirschter, Robert war klar, wie verrückt er neben seinem Partner wirkte.

„Alles geht schief, einfach alles.“ Resignation troff aus Toms geflüsterten Worten. Er hatte versagt, so richtig und unwiderruflich versagt. Natürlich wusste er Safias Bemühungen, seine Stimmung zu heben, zu schätzen, doch sie blieben fruchtlos. Er musste seine ganze Arbeit umschreiben, nein, das komplette Konzept neu überdenken, denn Toms Doktorvater hatte die angeführte Kausalität dermaßen brutal kritisiert, dass es wahrscheinlich keine Möglichkeit gab, die fehlerhafte Logik zu vertuschen. Er sah die Beanstandung sogar ein, schämte sich dafür, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Hinzu kam die Kabbelei mit seiner Mutter. Safia hatte er gesagt, es wäre bloß ein typischer Streit, nur über seine Leiche gäbe er zu, wie viel tiefer als alle bisherigen dieses Zerwürfnis ging.

Aishas Kopftuch war ein wenig verrutscht, also nahm sie ihre Finger von Mohammeds Unterarm, um den Haaransatz mit dem geblümten Stoff zu verdecken. Es war ein mühseliger Morgen gewesen und leider versprach der Tag keine Besserung. Die Nervosität ihres Mannes machte es nun auch ihr schwer, die Startverzögerung mit engelsgleicher Beherrschung hinzunehmen, statt sich lautstark beim Flugpersonal zu beschweren. In ihrer Familie war man stolz auf das feurige Temperament ihrer Heimat, sie hingegen war zu sehr eingedeutscht, wie ihr Vater es nannte, um diese Eigenschaft positiv zu empfinden. „Aisha“, drängte Mohammed an ihrem Ärmel zupfend. „Aisha, komm, ich will hier raus!“ Unabsichtlich stieß sie ein Knurren aus und gerade als sie ihn böse anfunkelte, fiel ihr auf, wie die Frau hinter ihr sie beobachtete.

Während Mohammed sich Gedanken machte, ob ihn jemand für einen Terroristen hielt, Brigittes schlummernder Mann vermeintlich Schande über sie brachte, es Safia davor grauste, dass ihre Eltern ihre Partnerwahl nicht gutheißen könnten, Janosch sich von seiner missglückten Unterhaltung erholte, Paul sich nicht mit seinen eigenen Vorlieben anfreunden konnte, Tina sich über ihr Image als Mutter sorgte, Robert an seiner geistigen Gesundheit zweifelte, Tom in Scham und Gewissensbissen badete und Aisha der lebhafte Charakter ihrer Herkunft unangenehm war, lernte Rita wie man Minestrone zubereitet.

 

Autorin: Rahel
Setting: Flugfeld
Clues: Leiche, Wasserstoff, Kokon, Minestrone, Kausalität
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