Frühstück bei IKEA

Beinahe träumerisch schlenderte Lara, auf ihren leeren Einkaufswagen gestützt, durch die IKEA-Filiale und genoss es, sich die vielen Musterwohnzimmer anzusehen, an denen sie vorbeikam. Sie wusste, dass ihre Wohnung nie derart perfekt, ordentlich und sauber geputzt sein würde, dass sie niemals diesem Idealbild entsprechen würde. Doch man würde doch wohl noch träumen dürfen, an diesem nebligen Mittwochmorgen in dem momentan ziemlich ruhigen Möbelhaus. Sie würde sich einen neuen Schrank kaufen, so viel stand fest. Wie immer würde ihre Unentschlossenheit die armen Kundenberater in den Wahnsinn treiben, doch für diese verfluchten Schränke gab es einfach viel zu viele verschiedene Türvarianten. Und wenn man sich gleich zwei davon kaufte, sich für die verspiegelten Türen entschied und sie in einem Neunzig-Grad-Winkel aufstellte, würde es aussehen wie in einem Spiegelkabinett. Ein repräsentativer, großer Schrank wäre genau das richtige, um ihre notorische Eitelkeit, die sie in Bezug auf ihre Kleidung an den Tag zu legen pflegte, zu parodieren. Außerdem würden elegantere Kleiderschränke das erste Möbelstück sein, das die junge Doktorandin mit Spezialisierung auf Sexualforschung sich seit langem leistete. Vielleicht fühlte sie sich als Single einfach manchmal davon abgeschreckt den Laden, welchen sie als „Klein-Schweden“ bezeichnete, zu besuchen, immerhin schien dies in ihrem Kulturkreis als klassische Pärchen-Aktivität zu gelten. Doch sie hatte ohnehin oft Mühe damit, soziale Konventionen zu verstehen, sinnierte sie abwesend grinsend während ihr Einkaufswagen über einen auf den Boden gefallenen Bleistift fuhr und leicht holperte.

Mark saß mit verschränkten Armen auf dem Sessel und starrte gelangweilt seiner Freundin Sandra hinterher, die sich durch diverse Warenkörbe mit Aktionen wühlte, nur damit beschäftigt, das nächste Schnäppchen zu finden. „Du kannst auch noch alles davon in der Markthalle nehmen“, hatte er erklärt, aber nein, sie musste es sich natürlich so früh wie möglich ansehen und in die blöde gelbe Tasche packen, nur damit er sie dann durch die ganze verdammte IKEA-Filiale schleppen durfte. Für was brauchte sie nur hundert Plastikpflanzen, farbige LED-Lampen, bunte Bilder und Teppiche? Ihm reichte es völlig aus, wenn er einen guten Couchtisch, eine noch bessere Couch und einen Ort hatte, an dem er die Hantel versorgen konnte, alles andere war doch längst perfekt. Seit sie zusammengezogen waren, hatte sie seine ganze Wohnung neu dekoriert, alles mit diesem bunten, kitschigen Regenbogenkotze-Kram vollgestellt und ihm erklärt, dass es dabei ums Ambiente ging. Himmelarsch, er war ein einfacher, normaler Typ, der nur seinem Handwerk nachgehen wollte und es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass er an einem freien Tag nach einer Woche voller Nachtschichten früh aufstehen musste, um mit Sandra shoppen zu gehen! Klar, er liebte sie und natürlich würde er sich schon in kurzer Zeit wieder nicht über sie aufregen, aber jedes Mal, wenn er mit ihr ins Möbelhaus musste, nur weil sie ein Paar waren und er als einziger den Führerschein hatte, regte er sich grauenhaft auf. Seufzend beobachtete er, wie sie ein erfreutes Quetschen von sich gab, als sie etwas entdeckte, das ein von einem anderen Kunden in der falschen Abteilung liegengelassenes Kochbesteck in hellgrün sein musste. Wie würde es nur sein, wenn sie eines Tages Kinder hätten, fragte er sich und kramte in seiner Hosentasche nach einem Kaugummi.

Sasha musste lachen, während er sich Alexandra zuwandte – ihre Witze waren auch nach zehn Jahren Ehe noch kein Stückchen schlechter geworden, dachte er sich, während sie ihr langes, braunes Haar aus dem Gesicht strich. Sie wurde wieder ernst und deutete auf das farbige Schränkchen, das in einer Ecke der Kinderabteilung stand, und meinte: „Schatz, wäre das nicht was für den Kleinen?“
Skeptisch musterte er das Möbelstück aus Pappe, bevor er antwortete: „Ich denke schon, auch wenn es eher wie ein zu groß geratener Adventskalender aussieht.“
„Nehmen wir doch eines“, schlug sie vor und er griff bereitwillig in den überdimensionalen Karton, in welchem die flachen Pakete aufgestapelt waren. Ihr Familienglück währte zwar schon vier Jahre und trotz aller schwierigen Zeiten hatten sie immer zusammengehalten und waren einander beigestanden und er bereute nichts. Wie immer genoss er die Zeit im Möbelhaus, denn der Besuch bei IKEA war bei ihnen zu einem halbjährlichen Ritual geworden, das beinahe schon einer Meditationssitzung gleichzukommen schien. Man konnte sich in Ruhe alles ansehen, es auswählen, nur um es dann mit aller Freude und Begeisterung zusammenbauen zu dürfen. Wahrlich das Versprechen, dass das ruhige, bürgerliche Leben in dieser postmodernen Welt noch existierte und zugleich beruhigend wie auch abenteuerlich sein konnte. Außerdem wusste Sasha, dass sie schon sehr bald bei dem Restaurant anlangen würden und freute sich auf das wohlverdiente Frühstück und eine Tasse Kaffee.

Brigitte nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und sah sich im IKEA-Restaurant um. Sie hasste es zwar, am Morgen früh aufzustehen und schon rein der Hinweg hatte sie mehr als anderthalb Stunden durch den dichten Pendlerverkehr gekostet, doch sie freute sich zu fest auf ihre Bücherregale, um sich daran groß zu stören. Ihr Blick schweifte von dem Nebel, der dicht vor den Fenstern zu liegen schien hinüber zu ihrer guten Freundin Marie, die extra wegen ihr heute mitgekommen war, weil sie einen größeren Wagen hatte. Marie, der geborene Morgenmensch, löffelte enthusiastisch ihr Birchermüsli und schien gar nicht schnell genug voranzukommen, während Brigitte noch immer etwas lustlos auf ihr Brötchen starrte und sich sehnlichst eine Zigarette wünschte. Doch trotz allem wusste sie, dass Marie wusste, dass sie wusste… Nein, umgekehrt! Sie hätte unbedingt mehr schlafen sollen. Also, nochmal von vorn: Trotzdem wusste sie, dass Marie wusste, dass sie ihr dankbar war, immerhin würde sie ihr zum Abendessen Glasnudeln mit Curry kochen und außerdem war Marie sowieso die treuste Seele einer besten Freundin, die man sich vorstellen konnte. Sie tat ihr nicht nur den Gefallen mitzukommen sondern ertrug auch noch ihre morgendliche Einsilbigkeit mit stoischer Ruhe. Nach Jahren der Freundschaft gewöhnte man sich eben an alles, überlegte sie etwas amüsiert, während sie Marie ansehen konnte, dass sie aufbrechen wollte. Sogar in ihrem verschlafenen Zustand machte es ihr Spaß, sich neue Möbel auszusuchen, denn dies bedeutete auch immer wieder, dass ihre Wohnung ein bisschen besser aussehen würde und Brigitte war ihr Zuhause fast genauso wichtig wie ihre Freundschaft mit Marie. Im Kopf überschlug sie noch einmal die Kosten für ihre Einkaufsliste, denn sie würde an der Kasse bar bezahlen wollen. Dann steckte sie das Brötchen etwas beschämt in ihre Handtasche und nickte ihrer Freundin zu, dass sie bereit wäre, weiterzugehen.

Martin scannte eben den Abholbeleg für den Kleiderschrank, dann sagte er der Kundin gelassen den Preis. Heute fühlte er sich wie der einzige Ruhepunkt, denn mittlerweile wuselten die Kunden nur so durcheinander und das geschäftige Treiben glich einem großen, schwedisch gestylten Ameisenhaufen. Nur er saß ruhig an seiner Kasse, hielt die Stellung, nahm das Geld entgegen, erlaubte sich hier und da einen harmlosen Scherz und beobachtete insgeheim, was sich in seiner Filiale so alles abspielte. Da war zum Beispiel die Frau, welche gerade ihre Bankkarte in das Lesegerät an seiner Kasse steckte und dann die Kennzahl eingab, was ihr erst beim zweiten Anlauf gelang. Sie hatte nur einen leeren Einkaufswagen und nur den Beleg, um einen großen Kleiderschrank beim Warenlager abzuholen. Sie wirkte abwesend, vielleicht war sie eine Träumerin, vielleicht auch nur etwas introvertiert. Hinter ihr stand ein junges Paar in der Schlange, wie man es in diesem Möbelhaus dutzendfach beobachten konnte; sie überglücklich, er genervt. Dann kam ein etwas älteres Paar, Eheringe an den Fingern, beide sehr entspannt; die große bürgerliche Harmonie, es schien sie also doch noch zu geben. Eben kamen zwei jüngere Frauen hinzu und stellten sich hinten an, ihr Wagen war mit mehreren Billy-Regalen beladen und sie schleppten eine schwere, gelbe Tasche, die voller Gelegenheitskäufen zu sein schien; WG-Partnerinnen? So viele Leben, die unbeachtet an seiner Kasse vorbeizogen, sich nur flüchtig kreuzten, ohne einander mehr als einen zufälligen Blick zu schenken, um dann wieder ihren eigenen Weg zu gehen und für immer in der Maße der unzähligen Kunden zu verschwinden. Ja, es war ein nicht enden wollender Sturm, in dessen ruhigem Auge Martin saß.

Autorin: Sarah
Setting: IKEA
Clues: Hantel, Sexualforschung, Birchermüsli, Eitelkeit, Spiegelkabinett
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2 Gedanken zu „Frühstück bei IKEA“

  1. Hallo werter Ede Peter,

    das freut mich, dass mein Besuch in „Kleinschweden“, wie ich den Möbelmarkt zu nennen pflege, dir gefallen hat ;) Bei mir ist es jetzt auch schon fast ein Jahr her, dass ich länger in IKEA war – was schon fast eine Erwähnung wert ist, da meine Wohnung wie eine Mischung aus Möbelhauskatalog und Elektronikfachgeschäft aussieht ;)

    Alles gute aus der Clue Writing Redaktion wünscht
    Natürlich mit dem obligaten Knicks
    Sarah

  2. Nett erzählt … eine Geschichte zum entspannen.
    Leider ist mein letzter IKEA Besuch schon mindestens wenn nicht schon länger her „smile“-Emoticon . Daher weiß ich überhaupt nicht, wie es heut zu Tage da so abläuft. Aber will ich es denn wirklich wissen ? Nö !
    Die Geschichte hat mir sehr gefallen, wegen dem letzten Abschnitt besonders. Eine Zusammenführung der verschiedenen Begegnungen , die eigentlich keine waren. Nur ein zufälliges Treffen an der Kasse.
    Daumen hoch.

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