Innenleben

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Heute war wieder einer dieser regnerischen Tage, die selbst einen gut beleuchteten Raum in eine unheilvolle Atmosphäre tauchten und das leise Pochen der Regentropfen auf dem Flachdach der Gefängniskantine füllte meinen Geist mit Schwermut, so dass es mir bitter erschien, aufmerksam bleiben zu müssen. Ich ließ meinen trägen Blick durch die unzähligen Bankreihen schweifen und ließ zu, dass meine Gedanken abdrifteten, während ich mich gegen die kalte Wand, direkt neben der schweren Durchgangstür zum Westflügel, lehnte.
Dieses Gefängnis war in den letzten Jahren zu meinem Zuhause, meinem Biotop geworden und wie alle Biotope der Welt, verfügte auch diese geschlossene Lebensgemeinschaft über ihre ureigenen Regeln. Ich hatte mir schon oft gedacht, dass das Leben hier viel simpler, geradliniger war und das nicht nur, weil der Tagesablauf aller Bewohner bis ins kleinste Detail durchgeplant und geführt wurde, sondern vor allem, weil die soziale Hierarchie – ungleich jener der Außenwelt – eindeutig und allen Bewohnern klar war.
Da waren zum Beispiel die Wirtschaftskriminellen, die sich hier, ganz gegenteilig zu ihrer früheren Stellung, am untersten Ende der Hackordnung wiederfanden. Eine Tatsache, die nicht für jeden Insassen leicht zu akzeptieren war und so kam es in den erlesenen Kreisen der Ex-Banker und Manager des Öfteren zu selbst zugefügten Todesfällen – wie man den feigen Ausweg aus dem Gefängnis euphemistisch zu nennen pflegt. Ein wenig besser ging es den Dieben und Räubern, denen zwar oft misstraut wurde, die aber wegen ihrer Fähigkeit, verbotene Gegenstände zu beschaffen, dennoch geschätzt wurden. Im Pool der harten Gewalttäter gingen sie jedoch oft unter, wurden zu leichten Zielobjekten der willkürlichen Brutalität und meist blieb ihnen lediglich übrig, hinter den Farben des Regenbogens Schutz zu suchen.

Ich seufzte tief und musste leer schlucken. Manchmal übermannte mich die trübe Stimmung, die schwer über den weitläufigen und geschäftigen Gefängnisfluren und Hallen lag und ich fragte mich, ob sich das jemals ändern würde, ob ich dieses Gefühl des Heimwehs, das sich im eigenen Zuhause an dich heranschleicht, jemals vergessen würde. Ich fixierte einen kleinen roten Fleck auf dem Fußboden vor mir und erinnerte mich – zugegebenermaßen leicht amüsiert – daran, wie er entstanden war. Es war eines der Bandenmitglieder, das hier, genau über dieser Bodenfliese, seinen rechten Ringfinger verloren hatte. Die Mitglieder traten meist geschlossen auf und waren stets darum besorgt, einen möglichst harten, maskulinen Eindruck zu erwecken, obschon jeder wusste, dass diese Fassade schnell bröckeln konnte. Es war schwer diese Menschen als Individuen kennen zu lernen und über die meist sehr strikte Gruppenmentalität hinwegzusehen und ich bin stolz darauf, dass mir das dennoch ab und an gelungen war. Viele der Bandenmitglieder waren wegen Kapitalverbrechen hier und doch wurden sie nicht wie die anderen Gewaltverbrecher und Mörder behandelt, welche es meist vorzogen, ihre Zeit hier als Einzelgänger abzusitzen und den stummen, meist unbegründeten, Respekt ihrer Mithäftlinge genossen. Ganz im Gegenteil dazu wurden Sexualstraftäter aus Prinzip abgelehnt, ausgegrenzt und teilweise so heftig angefeindet, dass sie in Schutzhaft genommen werden mussten; eine Praxis, die ich persönlich schon immer abgelehnt hatte, da ich nie eingesehen habe, warum man diese Bestien schützen sollte.

Bald schon war die kurze Essenszeit abgelaufen und der grösste Teil der Häftlinge würde sich im Hof etwas die Beine vertreten können. Einige, so wie Alex, würden wegen schlechten Benehmens wieder in ihre Zellen zurückkehren und dort einen weiteren einsamen Nachmittag verbringen. Was für ein dummer Junge er doch war und hier hatte es schon immer viele von seiner Sorte gegeben. Vielleicht wäre er ein guter, anständiger Mensch geworden, wäre er in einem anderen Umfeld aufgewachsen, vielleicht aber wäre ihm auch dort seine unermessliche Dummheit im Weg gewesen; wer kann das schon wissen? Ich scharrte ziellos mit meinem Fuß und musste daran denken, wie leicht es war, sich von den Geschichten der Männer hier vereinnahmen zu lassen, sie als Opfer ihrer eigenen Taten zu sehen und in einigen Fällen mochte dies sogar zutreffen. Denn es gab sie tatsächlich, diejenigen die hier ein trostloses Leben fristen, obwohl sich beinahe jeder Betrachter zugestehen müsste, dass sie hier nicht hingehören. So wie Ali, Vater zweier Töchter, der den Mörder seiner Jüngsten mit einem Vorschlaghammer niederstreckte oder Gunnar, der vor über zwanzig Jahren im Drogenrausch jemanden erschlagen hatte und es, trotz des brutalen Umfelds in dem er sich befand, geschafft hatte, ein aufrichtiger, freundlicher und herzensguter Zeitgenosse zu werden. Niemand von uns glaubte, dass es der Gerechtigkeit diente, diese beiden Männer hier einzusperren und damit all die Dinge wegzuwerfen, die sie der Gesellschaft zurückgeben könnten. Wir alle, selbst die unnachgiebigsten unter uns, behandelten sie mit Aufgeschlossenheit, schenkten ihnen zum Gruß ein seltenes Lächeln und erlaubten ihnen, abends das übriggebliebene Brot in den Hof zu werfen, so dass sie des Nachts die Dachse durch die vergitterten Fenster beobachten konnten, die diese Mahlzeit gerne verschlangen. Andere hingegen waren zwar eindeutig zu Recht hier und dennoch konnte man nicht umhin, ein gewisses Maß an Empathie für sie zu empfinden wenn man sah, wie verloren sie in dieser Anstalt waren.
Aber natürlich gab es hier auch diejenigen, die niemand in seiner Nähe wissen wollte. Josh, der hier von allen Reaver genannt wurde, war eine dem Nihilismus verschriebene Bestie, ein Sadist, dem selbst die härtesten Männer möglichst aus dem Weg gingen. Wir sprachen nie davon, was er getan hatte – es reichte aus zu wissen, dass die anderen es auch wussten um in seiner Gegenwart jeglichen Blickkontakt zu scheuen. Ich bemerkte etwas erschrocken, dass mein Körper automatisch eine Kampfhaltung einnahm und meine Arme sich beim schieren Gedanken an Reaver verkrampften und ich war unendlich froh, dass ich heute nur die Aufsichtsschicht in der Kantine hatte und ihm daher nicht begegnen würde. Ich zwang mich, meinen Gedankengang zu unterbrechen, sah auf die große Wanduhr, die mahnend über unseren Köpfen tickte und grausam an die verlorene Zeit erinnerte, die alle hier zu vergessen wünschten, und stieß mich lustlos von der kalten Betonwand ab.

„So Jungs!“ Meine Stimme donnerte unnatürlich laut durch den vollen Saal und ich bemerkte nur beiläufig, dass sich gefährlich wirkende Gestalten zu mir umdrehten, so sehr hatte ich mich bereits an den Anblick gewöhnt. „Essenszeit ist vorbei. Wer nicht in fünf Minuten seinen Tisch abgeräumt hat, den verarbeite ich höchstpersönlich zu Konfetti.“ Ich sah zu, wie langsam Bewegung in die exklusive Gefängnisgesellschaft kam und lauschte dem beruhigendem Summen des Durcheinanders. Als Gunnar schlurfend an mir vorbeischlich lächelte ich, so wie ich es immer tat und obwohl dies mein Zuhause geworden war, so freute ich mich doch darauf, dass ich in wenigen Minuten die Statue des Institutionsgründers würde hinter mir lassen können, um in mein kleines Einzimmerapartment hinter dem Hügel zurückkehren zu können.
Ich war stolz darauf, dass ich diese Arbeit mit Strenge und Autorität, aber auch mit Menschlichkeit und Güte verrichten konnte, ohne in Bitterkeit zu verfallen und doch hätte ich mich heute nicht so sehr in meinen Gedanken verfangen sollen. Ich entdeckte das aus Klopapierrollen gebastelte Messer viel zu spät und mein Verstand hatte sich bereits so sehr an das ungewöhnliche und erbarmungslose Milieu gewöhnt, dass er nicht mehr auf die Signale meines ängstlichen Körpers reagieren wollte, sodass ich zu spät reagierte und mein Ausweichmanöver erfolgslos blieb; vielleicht, aber nur vielleicht, hatte ich das auch nicht gewollt und vielleicht, nur vielleicht, war mein Geist längst schon in der bitteren Realität ertrunken.

Autorin: Rahel
Setting: Gefängnis
Clues: Regenbogen, Konfetti, Dachs, Nihilismus, Statue
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