Special zum vierjährigen Jubiläum | Jahr Eins

Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Vier Jahre“.

„Miiiiika“, drängelt Nadine, indem sie meinen Namen in die Länge zieht und mich in die Seite kneift. Vor einem Jahr wäre es für mich unvorstellbar gewesen, mich so bereitwillig von ihr anfassen zu lassen. Zugegebenermaßen bleibt es bis heute etwas unangenehm, gleichwohl weiche ich weder aus, noch würde ich ihre Anhänglichkeit mit einem ungehaltenen Blick. „Mach vorwärts!“ Sie hatte sich vorhin mit Kathrin getroffen, um sich für die Party zurechtzumachen und, so wie es aussieht, vorzuglühen.
„Was erwartest du von mir, Nadine? Soll ich die Schlange wegzaubern?“, erwidere ich auf die Leute vor mir deutend.
Anton klopft mir daraufhin grinsend auf den Rücken. „Tja, Mikael, da wirst du dir was einfallen lassen müssen. Die Geduld einer Dame darf unter gar keinen Umständen strapaziert werden.“ Nadine und Kathrin nicken heftig, ehe sie in heiteres Gekicher verfallen.
„Hey“, stößt Kathrin glucksend aus. „Das ist unser Jubiläum, ist euch das überhaupt klar?“ Das Gelächter verebbt. Anton und Nadine starren nachdenklich vor sich hin, während ich auf mein Handy schiele.
„Tatsächlich.“ Ich bin unsicher, was mich mehr erstaunt; schon wieder zwölf Monate überlebt zu haben, oder dass ausgerechnet Kathrin sich ein Datum gemerkt hat.
„Also ich bin froh, euch nach der Vorlesung aufgesammelt zu haben.“ Naja, ich wurde weniger aufgesammelt, als mitgeschleppt, sinniere ich vor mich hin und erinnere mich an die absurde Szene unseres ersten Zusammenkommens. Meine drei Freunde hatten sich bei einer Gesprächsrunde zur Philosophie von Immanuel Kant kennengelernt, ich wohl schlichtweg zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Ich tippte in der Cafeteria auf meinem Notebook, da kamen sie lachend herein, setzten sich an meinen Tisch, gestikulierten bedrohlich wild mit dem Besteck herum, bevor sie mich kurzerhand in eine Konversation über irgendein sozialwissenschaftliches Zeugs verwickelten. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.
„Spannend, der Club kommt langsam ins Rollen“, gebe ich schließlich zu bedenken. Auch im letzten Sommer haben wir im „The Clue“ das Ende unserer gemeinsamen Ferien mit Alkohol begossen. Der Nachtclub hatte gerade erst seine Pforten geöffnet und war trotz großer Eröffnungsfeier schlecht besucht. Ich fand das eigentlich ganz gut, immerhin musste man nirgends anstehen, wurde ohne Umschweife bedient, ja, sogar die Toiletten blieben die ganze Nacht über sauber. Die anderen Drei waren allerdings enttäuscht, hatten sich mehr Action gewünscht, deswegen überraschte es mich, dass sie heute bereitwillig hierhin mitgekommen waren.
„Ja, kein Vergleich zum Trauerspiel beim letzten Mal“, meinte Anton erfreut. „Das wird unser Abend!“
„Wenn wir denn endlich reinkommen“, nörgelt Nadine. Sie ist eines dieser Mädchen, das alle aus den falschen Gründen bezaubernd finden. In meinen Augen ist es eine Verschwendung, sie wegen ihres hübschen Äußeren zu bewundern, obschon die Faszination mit ihrer zierlichen Silhouette, den langen, goldblonden Haaren und dem strahlenden Lächeln nachvollziehbar ist. Nadine hat jedoch wesentlich mehr zu bieten als eine ansprechende Gestalt, sie ist nämlich so ziemlich der loyalste Kumpel, den man sich vorstellen kann.

Nach einer knappen halben Stunde haben wir es vom Vorplatz ins Innere des „The Clue“ geschafft und hängen, wie zu erwarten war, bei der Bar ab. Verändert hat sich im vergangenen Jahr, außer den Besucherzahlen, bloß wenig. Die Tanzflächen sind heute sorgfältiger beleuchtet, hinter dem Tresen gibt es eine größere Alkoholauswahl und die Barkeeper tragen eine schlichte Uniform, ansonsten bleibt alles beim Alten. Die Atmosphäre ist beinahe heimelig, oder aber ich habe es mit einem Fall von überstürzter Nostalgie zu tun, schließlich befinde ich mich momentan in der wahren Geburtsstätte unserer Freundschaft, der Bar, wo wir uns zu den vier Musketieren schlugen.
„Bier!“, kreischt mir Kathrin ausgelassen ins Ohr. „Bier für alle!“
„Beruhige dich.“ Anton legt seinen Arm um sie und entreißt ihr das Bier. Sein Interesse an ihr ist offensichtlich, nur Kathrin bemerkt es nicht. „Komm, lass uns tanzen.“ Begeistert lässt sie sich mitreißen, zu schade für Anton, dass sie später genauso begeistert zu ihrem Freund zurückkehren wird.
„Wähle dein Gift“, schreit mich Nadine über die dröhnenden Beats an. In der einen Hand hält sie einen Whiskey, in der anderen einen bleistiftgelben Drink hoch. Ohne zu zögern wähle ich das bunte Getränk und nippe an der klebrigen Flüssigkeit. Ich habe seit jeher eine Vorliebe für Süßes, könnte mich, wenn ich denn dürfte, von Schokolade, Gebäck und Zuckerwürfel ernähren. Nadine betrachtet mich eine Weile schweigend und trägt dabei einen entspannten Ausdruck. Plötzlich verwandelt sich ihre Miene innert Sekunden von zufrieden über schockiert bis zu entnervt. Sie wendet sich mir ab und keift rau: „Verpiss dich!“ Angespannt verfolge ich das Geschehen, das sich gefühlt zum tausendsten Mal vor mir abspielt; ein schmieriger Typ versucht meine beste Freundin zu begrabschen und erhält dafür einen ordentlichen Rüffel. Erneut bin ich beeindruckt, wie es Nadine gelingt eine unmissverständliche Forderung dennoch besonnen klingen zu lassen. Sowieso habe ich sie noch nie um Fassung ringen erlebt, selbst damals, als sie in der Bahn von einem Betrunkenen belästigt wurde, dominierte sie die Situation mit ruhiger Bestimmtheit.
„Danke, so ist’s brav“, ruft sie dem Typen nach, der geknickt davonzottelt, dann sieht sie mich schmunzelnd an und sagt: „Du darfst dich entspannen, die Katastrophe wurde aufgehalten.“ Schon seltsam, denke ich mir, wie rasch man sich an einige Menschen gewöhnt. Es ist kaum Zeit verflogen seit diesem Nachmittag in der Cafeteria, nichtsdestoweniger ist Nadine zu einem Teil meiner Freundesfamilie geworden, die ich um jeden Preis verteidigen würde.
Bevor ich auf ihre Stichelei eingehen kann, packt sie mich bei den Schultern und dreht mich zur Tanzfläche. „Schau mal!“ Vor uns können wir die Komödie des Abends beobachten; Anton hat sich einen freien Platz in der Menge erkämpft und führt vor Kathrins Augen seine besten Tanzmoves auf. Naja, zumindest scheint er zu glauben, so etwas wie Moves draufzuhaben, in Wirklichkeit fuchtelt er unkoordiniert herum, was die umstehenden Leute sowie Nadine und mich zum Lachen bringt. Wir sollten es vermutlich besser wissen und die Tragödie einer unerwiderten Liebe hinter seinen spastischen Bewegungen erkennen. „Ach, der Ärmste“, gluckst Nadine amüsiert. „Ob Kathrin jema-ahahaha!“
Verwirrt blinzle ich. „Ist das jetzt ernsthaft geschehen?“ Die unerträglich laute Club-Musik, die ich übrigens nur ab eins Promille ertrage, wird von Lachsalven der feiernden Maße übertönt. „Das ist ernsthaft geschehen …“, wiederhole ich verdattert, während Anton sich nach seinem Fall geschwind wieder aufrappelt und von der Tanzfläche stürmt.
„Seine …“, beginnt Nadine Worte zu formen, die ich lediglich von ihren Lippen ablesen kann. „Seine Hosen sind aufgeplatzt.“

Autorin: Rahel
Setting: Nachtclub „The Clue“
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