Konrads Macht über Leben und Tod

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Meine Erinnerung an den Tag, an dem ich hierher gebracht wurde ist noch frisch, ganz so als wäre es gestern gewesen. Der mit Jahrhundertwendehäusern gesäumte Hof ist seit jeher meine Aussicht vom dritten Stockwerk über der Einfahrt. Links das gelbliche Gebäude, graue Ecksteine als Abschluss einer ungepflegten Fassade, welche im Laufe der Zeit schäbiger geworden ist. Mir gegenüber die Zwillinge, grau und hellblau verputzt, Fremdkörper neueren Datums. Links drei rostrote Backsteinbauten mit großen Bogenfenstern, bis vor kurzem heruntergekommen, nun vor lauter Rennovationen glänzend. Und schließlich mein Haus, grau, ursprünglich weiß, Holzbalken als Fensterrahmen, gerade so bewohnbar, wohl das nächste auf der Liste zur Rennovation.
Wo war ich? Ach, stimmt, in der Vergangenheit, genauer noch am 18. März 1965. Es war ein kalter, nebliger Montagmorgen, als sie mich hergebrachten, zum dritten Stockwerk, beim Fenster ganz links über der dank Kopfsteinpflaster verschönerten Einfahrt – oder rechts, wenn man von außen auf das Haus schaut. Ich war noch ganz jung, habe nicht begriffen, was meine Aufgabe war, wieso ich hierhin kam. Rasch habe ich gelernt, mich damit angefreundet, dass ich Nacht für Nacht über die Einfahrt wache, die mein Zuhause geworden ist – auf immer und ewig. Andere hätten vielleicht ein Problem damit, stets am selben Ort, ab vom Schuss doch von der Geräuschkulisse der Großstadt begleitet zu sein, an einen Platz gebunden – mit gefällt es hier. Manchmal, dann wenn es mir schlecht geht, kommen uniformierte Männer in schweren Autos vorbei und statten mir einen kurzen Besuch ab, teils fluchen sie, meistens sind sie nett. Ich mag sie, denn jedes Mal, wenn der Funke erloschen ist, mein Lichtlein ausgebrannt, entfachen sie die Lebensfreude in mir von neuem. Sie haben sich immer um mich gekümmert, lange warten musste ich nie.
Meistens hingegen bin ich topfit, wache Nacht für Nacht über die Einfahrt, durch die Anwohner in den Hinterhof gelangen. Viele bevorzugen den Vordereingang, trotzdem gibt es sie, die Hinterhofeingangsbenutzer, vor allem, weil die Türen der beiden Zwillingshäuser, dem grauen und dem hellblauen, zum Hof führen.
Vieles hat sich verändert, Epochen sind an mir vorbeigezogen, neue Bewohner ein- und ausgezogen, ich dagegen blieb da, das ruhige Auge des Sturms. Man mag mir Gelassenheit als Persönlichkeitsmerkmal andichten, in Wirklichkeit steckt etwas viel Grundlegenderes hinter meiner Ruhe, nämlich meine Physiologie. Wenn wir ehrlich sein wollen, brauche ich keine besonderen Merkmale – ich bin einfach, hier und jetzt, unbewegt, ruhig. Alle nehmen mich für selbstverständlich hin, ja ignorieren mich, bis auf die uniformierten Männer. Der Hinterhof zu meiner Linken ist eine regelrechte Oase geworden, vollgestellt mit unzähligen Blumentöpfen und farbigen Lämpchen – Sonnenschirme braucht es keine, da der Hof so eng ist, dass sich kaum je ein Sonnenstrahl hinein verirrt. Die Büsche, Farne, Rosen und gar die Distel in den rötlichen, moosbewachsenen Tontöpfen scheint das kein Bisschen zu stören.
Eigentlich ist die Gegend ganz hübsch geworden, nachdem die Dealer im vertrieben worden sind, die offene Drogenszene längst verschwunden ist und die Anarchisten sich ein anderes Viertel zum Randalieren aussuchten. Ja, ich habe es gut, hier oben über dem urbanen Treiben, das sich scheinbar unberührt von mir abspielt. Die Straßenbahnen sind leiser geworden, die Autos ebenfalls, die Leute haben aufgehört Hüte zu tragen, nur um nun wieder damit anzufangen und die tagsüber spielenden Kinder sind aufgewachsen, von neuem Nachwuchs abgelöst worden. Die Zeit tröpfelt so dahin, Minute für Minute, Stunde für Stunde, Monat für Monat, gemächlich.

Heute ist etwas anders, als die Männer in den orangen Uniformen kommen und mir langsam entgegenschweben. Einerseits ist mit mir zweifelsfrei alles, was einen Besuch von ihnen rechtfertigen würde, in bester Ordnung. Andererseits tragen sie ein junges Ding bei sich, das auf seinen eigenen Platz, seine eigene Aufgabe wartet. Der eine, der von seinen Kollegen Hans genannt wird, ruft dem anderen, den ich bisher nie traf, zu: „Sag mal, Konrad, wie war der Spa-Urlaub mit deiner Frau?“
„Na wie wohl?“, entgegnete Konrad lachend und zündete eine Kippe an. „Entspannend.“
Zwar bin ich gut darin, mich an Gesichter zu erinnern, dagegen bedeutend weniger geübt in Sarkasmus, also bin ich mir gerade unsicher, ob Konrad sich tatsächlich entspannt hat. Hallo Konrad. Ich weiß, du kannst mich niemals verstehen, aber ich denke, wir werden Freunde sein. Konrad schaut mich kurz an, meint dann zu Hans, während die Hebebühne nahe unter mir zum Halten kommt: „Irgendwie schade, ich mochte diese alten Funzeln.“
Plötzlich dämmert mir etwas – das junge Ding ist keineswegs dabei, um mir Gesellschaft zu leisten, sondern mich zu ersetzen! Sie wollen mich wegbringen! Panik macht sich in meinem Knochenmark breit (mal abgesehen, von der Tatsache, dass ich kein solches habe) und zu allem Übel bestätigt Hans meine Befürchtung: „Ja, die neuen LED-Paneele sind quasi wartungsfrei, ergo weniger Gekraxel für uns, eine billigere Stromrechnung für die Stadt, kein giftiges Quecksilber mehr in der Deponie. Eine gute Sache!“
Hans freute sich gar nie, mich zu sehen?! Das ist unmöglich! Er grinste zufrieden, wenn er meine Lampe auswechselte, ich weiß es doch genau – das muss ein Albtraum sein!
Konrad nickt, mustert mich mit leichter Wehmut. „Tja. Na ja, vielleicht behalte ich die ja für meinen Gartenweg, da steht ein Mast, der …“
„Komm schon, wir müssen sieben weitere Straßenlaternen ersetzen heute“, wettert Hans, dem offenbar kalt ist. „Du kannst auch nachher überlegen, welchen Schrott du klauen willst.“
„Okay, okay, mach dir nicht gleich vor Aufregung in die Hose“, schmollt Konrad eine Kabelzange aus der Tasche kramend. Ich kann mich kaum beschweren, im Grunde genommen hatte ich ein gutes Leben – meine Kollegen auf den Hauptstraßen sind zweifellos schon früher den Weg alles Irdischen gegangen. Außerdem hatte ich hier hinten meine Ruhe vor Wind und Wetter, sodass mir vielleicht Konrad noch ein zweites Leben, eine neue Aufgabe schenkt, wenn er meinen guten Zustand sieht und sich traut, Elektroschrott von seinem Arbeitgeber zu entwenden.
„Ey, denk an die Sicherung“, ermahnt ihn Hans, was Konrad zum Glucksen bringt. „Keine Sorge, ich bin nicht blöd!“ Damit beginnt er, die alte Schmelzsicherung herauszudrehen, die wie ein angerosteter, aus Keramik bestehender Schleifstein klingt, ein grauenhaftes Geräusch, Krii-Krii-Krii, Melodie meines Untergangs. Konrad sieht verbissen aus, bevor er sprichwörtlich meinen Stecker zieht, mir den Lebenssaft abdreht. Ich fürchte mich etwas, ein klein wenig. „Warte, ich hab’s gl…“

Autorin: Sarah
Setting: Einfahrt
Clues: Distel, Persönlichkeitsmerkmal, Schleifstein, Knochenmark, Geräuschkulisse
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