Postapokalyptischer Läufer

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Das Geräusch, das seine etwas in die Jahre gekommenen Laufschuhe bei jedem seiner Schritte machten, wurde vom Rascheln der Büsche hinter den weißen Lattenzäunen beinahe ganz verschluckt. Er rannte schon seit einiger Zeit und seine Beine waren müde, sein Gesichtsausdruck erschöpft geworden, doch er konnte es sich nicht erlauben, langsamer zu werden und so trieb er seinen Körper stetig vorwärts. Wenn alles gut laufen würde, würde er die kleine Arztpraxis in einigen Minuten erreichen können, aber Daniel vermied es davon auszugehen und bemühte sich sehr, trotz seiner erschlagenden Müdigkeit wachsam zu bleiben.

Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an jenem die süße blonde Nachrichtensprecherin den Unfall zum ersten Mal erwähnt hatte. Er hatte an damals gerade einen heftigen Streit mit seinem Vater hinter sich, weil er sein Hauptstudienfach zum wiederholten Male wechseln wollte, und hatte den Nachrichten keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wer hätte schon ahnen können, dass ein kleines Leck in einem Chemietanker solche Auswirkungen haben könnte, schließlich war es nicht der erste Unfall dieser Art. Ohnehin waren die Menschen immer abgestumpfter geworden und weigerten sich, dem Geschehen in ihrer Umwelt große Bedeutung zuzugestehen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Man konnte sich keine Unachtsamkeit oder Ignoranz mehr leisten und sah sich gezwungen jedem Detail, jeder noch so kleinen Veränderung skeptisch gegenüberzustehen.

Instinktiv, noch bevor er es gedanklich hätte erfassen können, sprang Daniel kraftvoll vom Bürgersteig, jede Muskelfaser angespannt und zur schnellen Flucht bereit, als er das Scheppern hörte, welches aus einem der mintgrün gestrichenen Reihenhäuser zu kommen schien. In den ersten Tagen nach dem Unfall, hätte er sich vielleicht noch dazu verleiten lassen nachzusehen, ob jemand seine Hilfe bräuchte und wäre auf die Suche nach dem Ursprung des Geräusches gegangen. Doch seit jenem verhängnisvollen Tag waren bereits Monate verstrichen – genau konnte das niemand mehr wissen – und es war unwahrscheinlich geworden, dass noch weitere Überlebende in den Häusern zu finden wären und so trabte Daniel keuchend weiter, ohne sich nochmal umzusehen. Als er an dem kleinen verwitterten Spielplatz vorbeikam, wurde er von einer Welle von wehmütigen Gedanken gepackt und musste leer schlucken um sich davon nicht überwältigen zu lassen. Die Straßen der Vorstadtsiedlung hatten sich kaum verändert, seit er hier seine Kindheit verbracht hatte und man hätte beinahe glauben können, dass man hinter der nächsten Ecke spazierende Senioren, geschäftige Eltern und lachende Kinder antreffen würde.

Bald hätte er die Arztpraxis erreicht und wenn er Glück hatte, würde er dort in dem begehbaren Wandschrank hinter dem Untersuchungszimmer Schmerzmittel, Verbandsmaterial und vielleicht einige Ampullen Penicillin finden – Medikamente, die sie dringend benötigten um sich um die Verletzten zu kümmern, die im alten Werkraum der Grundschule untergebracht waren. Sein Vater hatte Recht behalten; hätte er sein Medizinstudium nicht abgebrochen, hätte man ihn kaum in diese unwirkliche Welt geschickt um Vorräte zu besorgen, sondern hätte ihn in Sicherheit wissen wollen, damit er den anderen helfen konnte. Aber eine postapokalyptische Gesellschaft hatte nur wenig Nutzen für die sarkastischen Bemerkungen eines Studenten der Ethnologie und so wurde er mit einem Jagdmesser in der Hand und Laufschuhen an den Füssen vor die schwere Eisentür geschubst, in der Hoffnung, er würde den aggressiven Biestern entkommen, die früher einmal ihre Freunde, Nachbarn oder gar Kinder gewesen waren. Die wenigen Überlebenden hatten diesen Dingern bereits viele Namen gegeben; Zombies, Dämonen, Kranke, aber wie auch immer man sie nennen wollte, sie hatten die Essenz ihrer Menschlichkeit in dem Augenblick verloren, in dem sie das verseuchte Wasser getrunken hatten und von dem unerbittlichen Drang erfüllt worden waren, ihre Opfer wie Raubkatzen zu reißen und deren lebendiges Fleisch zu fressen.

Daniel kämpfte gegen den Schmerz, ausgelöst durch die Säure in seinen Muskeln und versuchte seinen Schritt zu beschleunigen, als er am erst kürzlich renovierten Haus seiner Eltern vorbeirannte. Er wusste, dass er nicht vor seinen Erinnerungen würde davonrennen können, aber der Anblick des friedlich scheinenden Elternhauses schmerzte zu heftig, als dass er ihn noch länger hätte ertragen können.
Es schien ihm erst gestern gewesen zu sein, als er zugesehen hatte, wie seine Mutter sich vergeblich mit einer Bratpfanne gegen ihren geliebten Ehemann zur Wehr zu setzen versuchte. Er selbst war in eine fassungslose Starre verfallen und hatte sich erst dann wieder in Bewegung setzten können, als sein Vater von den zerfleischten Überresten abgelassen hatte, ihn mit blutunterlaufenen Augen gierig ansah und sich auf ihn stürzen wollte.

Daniel war froh, als sein Körper ihn dazu zwang tief durchzuatmen und bemühte sich, sich auf seinen Laufrhythmus zu konzentrieren und hoffte verzweifelt, dass ihn das davon abhalten würde sich weiter zu erinnern. Sein Herz raste inzwischen und er war sich sicher, dass dies nicht nur ein Zeichen von physischer Anstrengung war, wollte sich aber seine panische Angst nicht eingestehen. Einer der Männer, die schwer verletzt von der letzten Mission zurückgekehrt waren, hatte ihm gesagt, dass es nur einen Weg gäbe zu überleben; Man soll die Angst anerkennen und sie nutzen um stets aufmerksam zu bleiben. Man darf jedoch nie vergessen, dass es die Angst selbst ist, die zum grössten Feind werden kann, wenn sie die Überhand gewinnt. Daniel wusste nicht, ob der Mann noch leben würde wenn er wieder in das verbarrikadierte Schulhaus zurückkehren würde. Genaugenommen wusste er nicht, ob er es überhaupt wieder zurück schaffen würde, war aber fest entschlossen, bis aufs Letzte für sein Leben zu kämpfen. Ein lautloses und erstauntes Lächeln glitt über Daniels verschwitztes Gesicht, als er diesen, so selbstverständlich scheinenden, Gedanken bewusst wahrnahm und er wollte ihn für immer festhalten. Er wollte leben! Zum ersten Mal seit Monaten wurde ihm klar, wie sehr er sich nach dem Leben verzehrte und er genoss das wohlig warme Gefühl, das dieser eine flüchtige Moment in ihm auslöse so sehr, dass seine Schritte leichter zu sein schienen.

Als Daniel die nächste Straße erreichte, stolperte er erschrocken über einige achtlos hingeworfene Müllsäcke, verhakte sich im Kabel eines weggeworfenen DVD-Players und wäre hingefallen, hätte er sich nicht in letzter Sekunde an einer Straßenlaterne festhalten können. Daniel fluchte keuchend und blickte sich ängstlich um, noch nicht bereit seinen Lauf fortzusetzen und entdeckte eine gebückt gehende Gestalt in der frisch geteerten Auffahrt zu seiner Rechten. Die ältere Dame mit den verworrenen Haaren kam langsam auf ihn zu und streckte ihre knochige Hand in seine Richtung aus, als würde sie ihm helfen wollen, wieder auf die Beine zu kommen. „Ach Daniel, du läufst wieder wie ein Verrückter.“ Sie grinste so breit, dass das unnatürliche Zahnfleisch ihrer Prothese hervorblitzte und bückte sich danach umständlich um das Kabel von seinen Füssen wegzuziehen. „Du musst entschuldigen, mein Mann räumt gerade die Garage auf, deswegen liegt hier so viel Müll.“ Nun zauberte auch Daniel ein Lächeln auf sein Gesicht, etwas wiederwillig aber er mochte die Alte sehr und wollte ihr eine Freude machen. „Das macht doch nichts. Soll ich ihnen helfen, die Säcke wegzubringen?“

Er verbrachte den restlichen Abend damit, seinen Nachbarn beim Entrümpeln zu helfen und der Ärger darüber, dass er aus seinen Phantasien gerissen wurde, die die ihn beim alltäglichen Lauftraining unterhielten und von der Langeweile der immer gleichen Route ablenkten, war schnell vergessen. Danach bekam er ein Glas Milch und Kekse – obwohl er nun schon gut über zwanzig war – verabschiedete sich freundlich und lief nach Hause, um seinen Report über Gruppendynamik während Businessmeetings zu beenden.

Autorin: Rahel
Setting: Vorstadt
Clues: Unfall, Wandschrank, Bratpfanne, DVD-Player, Ethnologie
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