Auf der Mauer, auf der Lauer – das postikonische Vampirtagebuch

Diese Story ist auch als Hörgeschichte in Klaus Neubauers Podcast erschienen.

Eigentlich hätten wir uns kaum bewegen, sicherlich nicht sprechen dürfen, doch es fiel mir unglaublich schwer. Das hier war spannender als jeder Krimi, den man für fünf Euro in der Wühlkiste fand, der wohl einzige Lesestoff, mit dem ich mir die Zeit vertrieb. Die Friedhofsmauer, auf der wir ausgestreckt und miteinander zugewandten Gesichtern lagen, war kalt, immerhin war es schon fast Halloween. Ich ergriff seine eisigen Hände, sah tief in seine wundersam blauen Augen, in denen ich mich sowas von komplett verlieren könnte … Ich war verliebt, mit Leib und Seele. Wieso nur konnte ich dieses intensive Blau im Zwielicht so gut erspähen, nachts auf dem alten Friedhof, wo Nebel über die schräg stehenden Grabsteine waberte, ein Käuzchen auf den scherenschnittartigen Ästen saß und sich der zerfallende Kirchturm gegen die vom Mond erhellten Wolken abzeichnete? Die Romantik zwischen uns war etwas ganz Besonderes, so anders als all das, was man vom Schulhof kannte – ich war dem zwei Jahre älteren, mysteriösen Wesen ganz und gar verfallen. Dieser schweigsame, introvertierte Junge mit dem schwarzen Haar, den nichts zu kümmern schien und der mich leicht an die eleganten, zeitgenössischen Vampire erinnerte. Nicht dieses rudimentäre, blutige, grauenerfüllte Gedöns von früher, sondern wahre Schönheit, feingezeichnet, geairbrusht. Sasha hieß er, zumindest hatte er mir das gesagt – ich zweifelte noch daran, dass das mehr als bloß sein irdischer Name war. Er musste einfach ein jahrhundertealter Vampir sein, es war die einzige Erklärung für alles!
Mit einem glücklichen Seufzer beobachtete ich verträumt das Rascheln der Blätter in dem großen Baum. Mir fröstelte, also setzte mich auf, rückte etwas näher an meinen Freund, er tat es mir gleich und nahm mich in seinen starken, zugleich kaum muskulösen Arm. Gott, war dieser Junge perfekt! Seit zwei Wochen waren wir nun ein Paar, er hatte sich tatsächlich für mich entschieden, ich konnte es noch immer nicht fassen! „Atemlos“ war wohl das beste Wort, um meinen aktuellen Gefühlszustand zu beschreiben. Ich würde ihm in den Tod folgen, wenn es darauf ankommen sollte, wie in einer Liebes-Novelle
„Was machen wir hier?“, wagte ich es, die andächtige Stille zu unterbrechen, als meine Neugier zuletzt siegte.
„Warten“, flüsterte er geheimnisvoll. Seine Aura, sein unglaublicher Geruch. Ich legte meine Hände auf die Knie und war froh, dass ich trotz der Kälte den hübschen, karierten Rock angezogen hatte, denn er war ziemlich kurz – wer weiß, wie die Nacht enden würde … Nein, ich hielt das nicht länger aus! Zwei Wochen hatte ich geschwiegen, egal, wie fest ich mich dazu zwingen musste. „Sasha, Süßer …“, wisperte ich, nahm sogleich all meinen Mut zusammen und umklammerte seine Hand fester, „ich weiß, was du bist. Und es macht mir nichts aus.“
Erstaunt wandte er den Kopf um, damit hatte er nicht gerechnet. Mein Herz machte einen Sprung: Ha, ich hatte einen Vampir überrascht! „Wieso sollte es dir was ausmachen?“, erkundigte er sich. „Ich weiß, auf was für verrückte Dinge du stehst.“
Ich hätte es mir damals nie eingestanden – ich war keineswegs nur brüskiert, sondern auch geschmeichelt. Wie konnte er es wagen, unsere wundervolle Liebe mit verrückten Dingen gleichzusetzen? Trotzdem, er wusste, wer ich wirklich war, dass ich nicht wie alle anderen war …
Sashas Muskeln spannten sich an. „Pst, da sind sie!“ Ich folgte seinem Fingerzeig und erkannte die beiden Mädchen von meiner Schule, die auf den Friedhof schlichen. Cynthia und Bethany, die Zicken, die immer über mich herzogen – was hatten die hier verloren? Rasch wandte ich mich zu meinem Schönling um und fragte etwas verunsichert: „Wieso warten wir auf sie?“
„Ich will dir ein Geschenk machen“, entgegnete er lächelnd, küsste mich auf die Wange. „Ich habe heute belauscht, dass sie hierher kommen wollen, um Geister zu beschwören.“
Ich schwieg, begriff nicht, auf was er hinauswollte. Er strich kurz über meine Schulter, ein zuversichtsspendender Druck. „Ich bin gleich wieder da.“ Mit einer Leichtigkeit, die einem Vampir eigen war, schwang er sich von der Friedhofsmauer und huschte durchs Dickicht auf die beiden Zicken zu. Gebannt beobachtete ich, was geschah, als es mir endlich dämmerte. Er würde doch nicht …?
Bethany schrie zuerst auf, als Sasha sie anfiel, seine Zähne in ihren Hals grub. Obwohl ich entfernt saß, konnte ich in dem Mondlicht alles genauestens beobachten, sah sogar, wie seine Augen aufblitzten. Sie verstummte, röchelte, schlug, trat und kratzte wild um sich, hatte aber keine Chance. Schon nach kurzer Zeit erschlaffte ihr Körper und er ließ sie wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden fallen. Ich war eingefroren, starrte wie gebannt auf das Schauspiel – so hatte ich mir die Nacht, in der Sasha sich mir offenbarte, nicht vorgestellt. Etwas in mir verkrampfte sich, ich bekam es mit der Angst zu tun – das hier war sein Geschenk für mich, seine Art, mir zu zeigen, dass alles okay war …
Aly Cynthia nur wenige Meter vor mir aus dem Gebüsch auftauchte und mich entdeckte, unterdrückte sie in letzter Sekunde einen spitzen Schrei. Ihr gehetzter Ausdruck, ihre zerrissenen Kleider, der Horror stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Hilf mir“, wisperte sie, als sie mich erkannt hatte, dann war auch schon Sasha zur Stelle, packte sie vom hinten und biss zu. Dieses Mal sah ich jedes Detail, jede Zuckung ihres Überlebenskampfs, das Blut, das ihren Hals hinunter rann. Er zerfleischte sie, riss sie regelrecht in Stücke, schälte ihre Haut ab, als wäre es ein Kinderspiel … Diese Grazie, diese Macht und zugleich dieses grauenvolle Bild! Cynthia war verloren, sie wand sich noch einige Sekunden lang, unsere Blicke trafen sich ein letztes Mal. Ihrer flehend, schmerzerfüllt, meiner fasziniert, erregt, gleichzeitig verängstigt.
Sasha ließ von ihr ab, gelangte mit einem einzigen, großen Sprung zu mir, ergriff mich und hielt mich fest. „Diese Beiden waren nur für dich. Ich liebe dich und werde dich in alle Ewigkeit lieben.“
Ich zitterte noch immer, nur war es nicht mehr die Kälte, die mich dazu brachte. Was hatte ich mir bloß gedacht, auf was hatte ich mich da eingelassen? Die Welt um mich herum drehte sich, mir war schwindlig und speiübel … War das ein Traum, ein Albtraum, ich wusste es nicht! Seine eiskalte Hand schob mein schwarzes Haar zur Seite, strich über meinen Hals … „Du wirst nie wieder frieren müssen, Süße“, hauchte er. „Ich schenke dir das, was du dir am meisten wünschst.“ Ich hatte „Nein!“ schreien wollen – natürlich war es bereits zu spät. Seine spitzen Zähne gruben sich in meine Haut, er umklammerte mich und ich ergab mich meinem Schicksal.

Schnitt. Zehn Jahre später. Verdammt, was bin ich damals naiv gewesen! Die große Liebe, nette Vampire … Bitte, was für eine Komödie! Was für eine gequirlte Scheiße! Jedes Kind weiß, dass Vampire sich von Blut ernähren, nächtliche Jäger sind. Unerbittlich. Unsterblich? Ja, wenn man sie nicht in die verdammte Sonne stellt. Will man einen loswerden, muss man schon verflucht kreativ, ja richtiggehend gerissen sein. Zum Glück hatte ich irgendwann begriffen, dass ich nur Sashas Wecker falsch stellen und seinen Schlafsarg von UPS an einen sonnigen Ort liefern lassen musste – Problem gelöst. Hey, was wollt ihr? Der Scheißer hat mich gebissen, ohne mich zu fragen, verdammt, er war fällig!
Ich bin jetzt eine echte Vampirin, nicht wie in diesen Teenie-Romanen, sondern wie in den alten Dracula-Filmen. Das Töten macht mir Spaß, ist besser, als alles, war ihr Sterblichen je kennen werdet. Kein noch so teures Auto, nicht der beste Sex der Welt und sicherlich nicht Liebe reichen an das Gefühl der Vollständigkeit heran, dass ich verspüre, wenn ich zubeiße. Ich bin ein Monster, das sie mit Fackeln und Heugabeln aus dem Dorf jagen würden, wenn sie denn wüssten, wo man heutzutage Fackeln und Heugabeln herbekommt. Ein Monster, das wie ein Teenagermädchen aussieht – perfekt, was? Langsam erhebe ich mich von dem noch warmen Körper des zehnjährigen Pfadfinders, der vom Weg abgekommen war, lecke die letzten Blutstropfen von meinen Lippen. Der wird jedenfalls nie wieder unbescholtenen Bürgern Kekse aufschwatzen, soviel ist klar. Trick or Treat, Motherf…

Autorin: Sarah
Setting: Friedhofmauer
Clues: Krimi, Komödie, Horror, Romantik, Novelle
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