Das gute Leben

Irgendjemand hatte mir mal gesagt, dass das gute Leben, das wir führen, nur dazu diene, uns vom Schmerz abzulenken. Ich bin mir nie sicher gewesen, ob das stimmte, doch heute war ich mir sicher. Mit gesenktem Haupt trat ich in die Suppenküche für Obdachlose und zwang mich dann, mich umzusehen. Ja, dachte ich mir, als ich all die gescheiterten Existenzen beobachtete, es stimmte wohl tatsächlich. Jetzt wäre ich wirklich froh gewesen, wäre Dr. Who aufgetaucht und hätte mich in seiner Tardis irgendwo und irgendwann hin mitgenommen, doch natürlich würde er nicht kommen.
Ich hatte Angst, irgendwie war für mich das Überschreiten der Schwelle zur Suppenküche ein offizielles Eingeständnis meines Abstiegs. Ich mochte vielleicht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten leben, doch was viele vergaßen war, dass das Spektrum dieser Möglichkeiten auch nach unten hin offen war. Mein Gewicht in den abgewetzten Lederstiefeln, die ich vor kurzem aus einem Schuhspendecontainer stibitzt hatte, brachte die schmutzigen Bodendielen zum Knarren. Lieber würde ich klauen als von der Wohlfahrt zu leben, vor allem mit der Heilsarmee wollte ich nichts zu tun zu haben, so lange die nicht änderten, wie sie über moderne Wissenschaft, Homosexualität und die Herkunft der Menschheit dachten. Ein letztes Bisschen Würde musste man doch noch erhalten können, oder?
Ich vermisste es, das gute Leben, mir fehlte der Komfort meines Lofts und die verpflichtungsfreien Tage, die ich mit Schwimmen oder Lesen zugebracht hatte. Auch die Arbeit im Büro und die Gegend der Wall Street, die Meetings und den Latte Macchiato, das alles fehlte mir, hatte ein tieferes Loch in mein Leben gerissen, als ich jemals hätte erahnen können. Meine Geschichte war jene vom amerikanischen Traum, nur rückwärts erzählt. Wie genau das alles passiert war, war für mich selbst schwer zu erklären, denn es schien mir, als hätte ich noch gestern in der Business Class gesessen und die Beine ausgestreckt, während jemand von der Kabinenpersonal mir ein Gals Single Malt gebracht hatte. Doch das war mittlerweile mehr als ein halbes Jahr her und irgendwann würde vielleicht die Matratze mit der herausstehenden Sprungfeder, die ich unter eine Brücke geschleppt hatte, die Erinnerung an einen Interkontinentalflug tilgen können.
Eine demotiviert dreinblickende Volontärin kippte mir einige Kellen Suppe in meinen Teller, bevor sie „Der Nächste“ rief. Brav ging ich zu einem freien Platz an einem der schmuddeligen Holztische und begann damit, meine Suppe zu löffeln. Die Suppe, die ich mir nicht einmal selbst eingebrockt hatte, fiel es mir ein und ich ließ mich zu einem trockenen Lachen hinreißen. Wer weiß, vielleicht würde ich mit meiner Penner-Comedy eines Tages noch zum Internetstar werden, alles war möglich in dieser schönen neuen Welt. In Wahrheit jedoch, auch wenn ich mir das nie eingestehen würde, so begriff ich, dass ich mich nicht mehr dazu würde aufraffen können, einen neuen Versuch nach oben zu kommen zu starten. Ich war noch sie sonderlich gut darin gewesen, mich zu beweisen, ich hatte nur das Glück gehabt, dass ich die Ressourcen und die Möglichkeiten gehabt hatte, dahin zu kommen, wo ich gewesen war. Eigentlich hatte ich auch nie viel dafür getan.
Und wieder kam mir der dumme Spruch in den Sinn, der mich immer wieder beschäftigte, seit ich in die Suppenküche getreten war. Ich vermisste nicht so sehr die Annehmlichkeiten meines früheren Lebens, wie ich den Luxus vermisste, den sie mir als Ganzes geboten hatten: Ständig beschäftigt zu sein, viele Freunde zu haben, das war es, was mich davon abgehalten hatte darüber nachzudenken, was alles nicht gut war. Dass ich schwach war, faul und feige, dass ich meinen Platz im Leben nicht verdient hatte. Diese Dinge hatten mich tatsächlich vom Schmerz abgelenkt und die für mich bisher leer und bedeutungslos klingende Floskel hatte tatsächlich einen wahren Kern gehabt.
Doch eines hatte ich auf meinem erstaunlich kurzen Weg nach unten gelernt: Auch wenn die Wirtschaftskrise, die offenbar an allem Unheil der letzten fünf Jahre schuld sein soll, ihre Opfer gefordert hat, so gab es unter ihnen doch auch die wie ich, die eigentlich nichts getan hatten. Denn auch wenn ich verglichen mit vielen anderen auf meiner Gehaltsstufe ein fauler Taugenichts gewesen war, so hatte ich gerade deswegen weniger zu der Krise beigetragen als jeder einzelne meiner hart arbeitenden Kollegen in der Firma.
„Verzeihung“, murmelte jemand mit einer ruhigen männlichen Stimme hinter mir und ich wandte mich um. Zu meinem Erstaunen war der Fremde viel zu gut angezogen, um in dieser Suppenküche ein- und auszugehen, er wirkte wie ein Fremdkörper mit seinem unauffällig durchschnittlichen Anzug und seiner langweiligen Krawatte.
„Ja?“, antwortete ich schlicht, denn meine Büromanieren hatte ich nach einigen Wochen auf der Straße noch nicht ganz verloren. Als er meinen Namen nannte und dann tatsächlich fragte, ob ich das sei, erstarrte ich und begriff: Er musste ein Regierungsagent sein, von irgendeiner Behörde mit drei oder vier Buchstaben, gesandt, um mich zu verhaften. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis meine Mitarbeiter einen Sündenbock für das Debakel in unserer Firma gefunden hätten und meine frühere Position war der ideale Ort, um danach zu suchen. Viele der giftigen Papiere waren über meinen Tisch gewandert und ich hatte sie weitergegeben, oft ohne sie wirklich anzusehen. Nun war es so weit, ich würde für meine Naivität und Faulheit hinter Gitter wandern.
Bis zum Tag, an dem ich auf der Straße gestanden und verstanden hatte, dass ich niemals alle meine Schulden würde zurückzahlen können, hatte ich nie realisiert, was ich eigentlich gehabt hatte. Wäre nicht die Wirtschaftskrise gekommen, hätte ich meine ganze Karriere damit verbracht, nur so zu tun, als würde ich mich um meinen Job kümmern und hätte dafür große Schecks eingestrichen. Ich war bloß ein fauler Trottel, der selbst nicht begriff, wie er als Trottel zu seinem Posten gekommen war. Vielleicht war es mein, ehemals bedeutender, Familienname gewesen, oder die Bekanntschaft mit meinem früheren Boss. Doch dann war das Kartenhaus in sich zusammengebrochen und während ich noch dabei gewesen war, zu erfassen unter was alles ich meine Unterschrift gesetzt hatte, war es auch schon zu spät gewesen. Erst einige Tage nach meiner Entlassung hatte mir eine frühere Mitarbeiterin, die ich per Zufall in der U-Bahn getroffen hatte, erzählt, dass sie alle ihre risikoreichen und weniger sauberen Verträge von mir hatten absegnen lassen, weil ich zu allem ja und amen gesagt hatte.
„Wir haben gedacht, wir würden Sie nie finden, Sir“, sagte der Agent und machte dabei keine Anstalten, sich hinzusetzen. Ich konnte es ihm nicht wirklich verübeln, denn die Bank sah nicht besonders einladend aus. Rasch, steckte ich den letzten Löffel Suppe in den Mund, so würde ich immerhin mit vollem Magen in der Arrestzelle enden. Egoistisch bis zum Letzten, dachte ich mir, bevor ich mich vorsichtig erkundigte: „Was wollen Sie?“
„Wir ermöglichen Ihnen einen Neuanfang, wenn Sie aussagen“, erwiderte der Agent. „Wir werden Ihnen einen neuen Job besorgen, ein neues Leben, alles im Austausch dafür, dass Sie die Verantwortlichen belasten. Angeblich wissen Sie eine ganze Menge über viele Leute, die mit dem Untergang Ihrer Firma in Verbindung stehen.“
Ich erstarrte für einen kurzen Augenblick, bevor ich verstand. Ich war derjenige, der alle Dokumente gesehen hatte, alle Namen gelesen hatte. Ich wusste, wer in meiner alten Firma was ausgefressen hatte. Na ja, zumindest theoretisch gesehen, denn wenn ich ganz ehrlich sein sollte, hatte ich wahrscheinlich den Großteil überlesen oder vergessen.
„Ja, natürlich, das ist meine Bürgerpflicht“, antwortete ich und konnte unendliche Dankbarkeit für die Chance verspüren, die mir zuteilwurde. Eine Rückkehr in meinen früheren Lebensstandard, zu einem sehr kleinen Preis. Ich musste, wie immer, nicht einmal wirklich etwas dafür tun, auch diesmal wurde mir die Gelegenheit auf dem Silbertablett präsentiert. Und da, in diesem Moment, in dieser schmuddeligen Suppenküche, begann mir zu dämmern, dass ich auf meine ganz faule und egoistische Art der größte Betrüger von ihnen allen gewesen sein musste. Und ich hatte meine Zweifel, dass diesmal das gute Leben reichen würde, um mich von dieser Tatsache abzulenken.

Autorin: Sarah
Setting: Suppenküche
Clues: Dr. Who, Lederstiefel, Internetstar, Homosexualität, Sprungfeder
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