Mamas Liebhaber

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Es ist jetzt ziemlich genau achtzehn Jahre her, seit Papa Mama verlassen hat. Ich war damals in der dritten Klasse und habe mich gewundert, weswegen die beiden nicht zur Schulaufführung von „Schneewittchen“ gekommen sind. Der Grund, wie ich nach einem langen Fußmarsch nach Hause erfuhr, wäre vorherzusehen gewesen: Mama saß heulend auf dem Teppich vor der Badewanne und Papa war mitsamt Pete, unserem Hund, gegangen. Seit diesem verregneten, tränenreichen Abend, kann ich weder Theaterstücke noch Papa mehr leiden.
„Sind meine Haare okay?“, fragt Mama mich erneut, also nicke ich schief lächelnd. In Wahrheit ist ihre Frisur alles andere als in Ordnung, denn genauso wie das restliche Erscheinungsbild meiner lieben Mutter, wollen sie partout nicht zu ihrem Alter passen. „Bist du sicher? Ich habe das Gefühl, dass sie da hinten komisch abstehen.“
„Nein, Mama, keine Sorge“, versuche ich sie zu beruhigen, während sie weiter aufgeregt in ihren wasserstoffblond-toupierten Strähnen herumnestelt. „Jetzt hör schon auf, es ist alles bestens.“
„Ach Frettchen, wenn du wüsstest …“ Sie bemüht sich gar nicht erst darum, mir zu erklären, was ich wissen müsste, sondern zupft stattdessen hektisch einige Flusen von ihrem Mantel.
„Nun atme mal tief durch, Mama. Das ist ja nicht zum Mitansehen.“ Eigentlich wollte ich ihr sagen, sie würde mit ihrer Nervosität noch einen Schweißausbruch provozieren (ein Symptom der Wechseljahre, dem ich freudlos entgegensehe), ließ es aber bleiben.
„Das sagst du so. Für dich ist das alles ja noch ein Spiel. Warte nur, wenn du mal in meinem Alter bist, dann nimmst du es nicht mehr so leicht!“ Vermutlich hat sie recht, deswegen halte ich mich mit meiner Kritik so sehr Zaum, wie ich kann. Sie hat sich so lange nach einer Beziehung gesehnt, war sogar kurz davor, sich auf ein Abenteuer mit einer anderen Frau einzulassen (obwohl sie, ihren eigenen Worten zufolge, keinerlei Interesse daran hatte), um nicht alleine zu bleiben. Daher erstaunte es mich kaum, als sie vom Urlaub in Hurghada mit Herzchen in den Augen heimkehrte.
„Ich verstehe nur nicht, wieso du so aus dem Häuschen bist. Du hast ihn vor drei Wochen gerade erst gesehen.“ Ich hingegen habe Amsu noch nie getroffen, bloß unheimlich viel von ihm gehört. Er sei großgewachsen, habe dunkles, volles Haar, einen schönen Teint, einen markanten Kiefer und die höchsten Wangenknochen, die man sich vorstellen könnte. Ebenso sei seine Familie gut betucht, das behauptet er zumindest. Weshalb Mama seine Reisekosten übernimmt, konnte mir keiner der beiden begründen.
„Lass mich, Sandy. Geh dir dort drüben einen Kaffee oder ne Zeitschrift holen. Vielleicht haben die auch dein Kabel-Dings, das du gestern verloren hast.“ Mit Mama ist nicht zu spaßen, wenn sie von einer Sache überzeugt ist, also habe ich in den letzten drei Monaten kaum je Fragen gestellt. Lächelnd greife ich nach meiner Tasche auf dem Sitz nebenan und will zum Kiosk gehen, doch kaum habe ich mich einige Schritte von ihr entfernt, ruft sie mir nach: „Bring mir die New York Times mit, ich will einen klugen Eindruck auf meinen Liebsten machen.“ Ein bitterböser Kommentar bleibt mir im Hals stecken und ich strecke zur Bestätigung einen Daumen nach oben, während ich mich von der Achtundfünzigjährigen im grellpinken Outfit entferne.

Der Kiosk-Verkäufer hat mir ein Eis aufgeschwatzt (Eis kann man mir selbst im arktischen Winter andrehen) und die sahnig-süße Maße stimmt mich milder. Auf halben Weg zurück zu Mama bleibe ich stehen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sehr ich diese verschrobene Dame liebe. Sie kauert auf dem Stuhl der Flughafen Wartehalle wie ein verängstigtes Häschen, zerrt an ihrem Minirock, knetet auf den mit Modeschmuck verzierten Händen und schaut ständig hin und her. Die gebräunte Haut ihrer Oberschenkel beginnt langsam schlaff zu werden (mit ihrem Gesicht ist das schon längst passiert), es wird also nicht mehr allzu lange dauern, bis sie in horizontalen Lamellen gegen den Boden hängt. Ich muss zugeben, es fällt mir zuweilen schwer, ihre Spleens ernst zu nehmen, besonders weil diese meist darauf hinauslaufen, dass sie sich wie eine Fünfzehnjährige kleidet, ihre kleine Zweizimmerwohnung mit Postern von Schlagerstars tapeziert oder sich ellenlange Kunstnägel ankleben lässt. Amsu kann ich unmöglich ignorieren, auch wenn ich das zu gerne täte.
„Hier, bitte“, murmle ich ihr die Zeitung entgegenstreckend. Sie schreckt hoch und für einen Moment erinnert mich ihr Ausdruck an damals, als ich sie weinend auf dem Badezimmerteppich gefunden hatte. Eventuell ist das mit Amsu gar nicht so eine schlechte Sache, überlege ich mir. Er tut ihr gut, das ist eindeutig. Schon lange wurde sie nicht mehr so umworben, mit süßlichen Sprüchen und Plüschtieren bombardiert und sprichwörtlich auf Händen getragen. Für mich mochte das albern sein, aber sie wünschte sich genau das. Amsu war, wie sein Name schon sagte, die Personifikation all ihrer Sehnsüchte. Trotzdem bleibe ich innerlich zerrissen. Ich bin mitnichten stolz darauf, nur bringe ich diese Stimme in meinem Kopf nicht zu verstummen, die mir zuflüstert, dass er sie ausnutzen will.
„Oh, danke Frettchen. Hatten sie das Kabel?“ Der traurige Blick verschwindet, sie nimmt die New York Times entgegen und betrachtet sie flüchtig.
„Nein, keine für den Firewire-Port meiner Kamera, ich muss wohl später …“, hole ich aus und merke, Mama kann mir nicht folgen. „Ich hab mir ein Eis geholt.“
„Schön, schön“, nuschelt sie gedankenverloren, dann meint sie über beide Backen strahlend: „Noch eine halbe Stunde. Ich freu mich so! Du auch?“
„Klar“, lüge ich Mama an. „Ich bin schon gespannt auf ihn.“
„Oh, du wirst meinen Schatz bestimmt mögen. Er ist ein ganz Sympathischer.“ Schon wieder verkneife ich mir eine sarkastische Bemerkung. Gut so. Dennoch sage ich etwas, von dem ich weiß, dass sie es nicht hören will: „Mama, wollt ihr mit dem Heiraten nicht noch etwas warten? Ihr kennt euch erst seit zwei Monaten und …“
„Fängst du wieder damit an?“, unterbricht sie mich in diesem unmissverständlichen Tonfall, den alle Mütter beherrschen und der nur eines bedeutet: Gekränkte Enttäuschung. „Ich weiß, es ist grad‘ etwas viel für dich, Frettchen. Wir würden ja gerne warten, doch wie sollen wir unsere Beziehung genießen können, wenn er nicht hierbleiben darf?“ Für Mama ist diese Logik unumstößlich, genauso wie ihre Liebe zu dem Mann, der kaum älter ist als ihre Tochter. Ich bin mir unsicher, ob es ihre verzweifelte Einsamkeit ist, wegen der sie Amsu durch die rosa Brille sieht, oder ob sie schlicht und einfach ein unverbesserlicher Optimist blieb, ungeachtet ihrer schlechten Erfahrungen. Dass ich mit meinen Befürchtungen falschliegen könnte, kommt mir zwar in den Sinn, daran glauben kann ich allerdings nicht.
„Ihr könntet noch eine Weile telefonieren und euch besuchen.“ Mama reagiert mit Kopfschütteln auf meinen Vorschlag.
„Wie stellst du dir das vor? Die Flüge sind teuer und ich habe keinen Goldesel im Keller.“ Kein Wort von der angeblich reichen Familie. Er hatte ihr gesagt, seine Eltern verweigerten ihm den Zugang zum Vermögen, sie wären wenig begeistert von seiner Beziehung zu einer Deutschen. Mama klang niedergeschlagen, als sie mir davon erzählte, aber ich denke, ihr gefällt das ganz gut (für sie war das romantisch wie Romeo und Julia). Mich machte es bloß noch skeptischer.
„Ach, Mama“, seufze ich resigniert, „ich weiß auch nicht, was ich dir noch sagen soll. Ich drück‘ die Daumen.“ Das tue ich. Wirklich.

Autorin: Rahel
Setting: Flughafen-Wartehalle
Clues: Lamellen, Schweißausbruch, New York Times, Frettchen, Firewire-Port
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2 Gedanken zu „Mamas Liebhaber“

    1. Hallo liebe Jennifer,
      lustigerweise ist die, welche immer auf Twitter wegen Eis herumzetert, die Sarah ;) Aber ganz Unrecht hast du nicht, denn auch Rahel ist sehr für Eis zu begeistern! :D
      Es grüsst mit Hofknicks,
      Sarah

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