Mathematik und die Liebe

„Wieso ist eigentlich niemand hier?“, fragte Phil nach einer Weile, ohne sich zu ihr umzudrehen. Valencia zögerte einen Augenblick, ehe sie mit unsicherer Stimme knapp erklärte, dass der Garten bereits seit einigen Jahren für die Öffentlichkeit geschlossen war. Schließlich räusperte sie sich sichtlich beschämt und fügte an: „Mein Vater sagt, die Besucher hätten zu viele Probleme verursacht.“
„Oh“, war Phils einzige Antwort darauf, danach schwiegen sie wieder.
Er hatte sie vor nur drei Monaten kennengelernt, als er mit einem seiner alten Kumpels um die Häuser gezogen war. Sie war ihm sofort aufgefallen, jedoch nicht wegen ihren kurzen blauen Haaren oder dem zerrissenen AC/DC-Shirt, welches den Großteil ihres Outfits ausgemacht hatte. Es war die Art gewesen, wie sie sich auf der Tanzfläche bewegt hatte, die sofort seine Aufmerksamkeit auf Valencia gezogen hatte. Sie hatte offensichtlich kein Taktgefühl, war über ihre eigenen Füße gestolpert und hätte mit ihren ungelenken Armbewegungen beinahe einen anderen Clubbesucher geohrfeigt. Valencia konnte definitiv nicht tanzen, war so grazil wie ein Albatros bei der Landung, dennoch lachte sie ausgelassen. Sie tat einfach das, was ihr Spaß machte, ungeachtet der schiefen Blicke und das imponierte ihm nicht bloß, sondern inspirierte ihn spontan dazu, es ihr gleich zu tun und sie anzusprechen. Nach diesem Abend hatten sie sich beinahe jeden Tag getroffen, hatten zusammen die Stadt erkundet und waren sogar bei seinen Eltern beim Abendessen gewesen.
„Meinst du, er wird mich mögen?“ Endlich gelang es ihm, sich von der Aussicht über das das Wolkenmeer unter ihnen zu lösen und sie anzusehen. Diese Frage hatte schon eine ganze Zeit lang auf ihm gelastet, nur hatte er sich nie getraut, sie ihr zu stellen. Und währendem er beobachtete, wie sie nervös ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte, wünschte er sich, er hätte es nie getan. Gerade als er die angespannte Stille brechen wollte, meinte sie: „Ich glaube nicht.“
„Okay“, reagierte er prompt, bevor er sich darüber hätte Gedanken machen können. Er hatte nichts anderes erwartet, immerhin gehörte er nicht in Valencias Welt, war ein Fremdling, nichts weiter als ein Insekt auf der Picknickdecke. Er war froh, dass sie nichts weiter sagte, lehnte sich neben ihr an die Brüstung und legte seinen Arm um ihre Schulter. Valencias Stammbaum war beeindruckend, um nicht zu sagen einschüchternd. Ihrer Familie gehörte ein beachtliches Immobilienimperium und es gab Gerüchte, dass ihr Urgroßvater seinerzeit enge Verbindungen zum Regierungsapparat gepflegt hatte, die bis heute bestanden. Einige meinten sogar, die Di Vitis wären die eigentlichen Herrscher von Megatropolis. All das hatte ihn nicht interessiert, bis heute.
„Macht dir keine Sorgen“, flüsterte sie ihm ins Ohr und gab ihm dann einen Kuss auf die Stirn. „Er wird dich ja nicht auffressen.“ Sie war eindeutig besorgt, das konnte er an der kleinen Falte sehen, die neben ihrem Mundwinkel zuckte, trotzdem nickte er lächelnd.
„Wie hoch ist das Ding eigentlich?“, erkundigte er sich um das Thema zu wechseln und deutete dabei mit einer ausladenden Geste auf den Garten.
„Die Plattform liegt auf neunhunderteinundneunzig Metern über dem Straßenniveau. Neunhunderteinundneunzig ist die größte bekannte permutierbare Primzahl, die keine Einserfolge ist, deswegen diese Höhe.“ Valencia drehte sich um und deutete auf eine der überdimensionalen, gläsernen Lotusblüten, die im Zentrum des Gartens stand und einen kleinen See beherbergte. „Die Spitze der Blüte liegt achtundneunzig Meter höher. Wenn man aus einer dreistelligen Zahl die Spiegelzahl bildet, dann die kleinere von der größeren subtrahiert und dann zum Ergebnis die Umkehrzahl des Resultats addiert, erhält man immer Tausendneunundachtzig.“
Phil blinzelte anstelle davon, etwas zu erwidern. Vermutlich spiegelte sein Gesichtsausdruck seine blanke Verwirrung, denn Valencia erläuterte rasch: „Natürlich nur, wenn der Ausgangswert kein Zahlenpalindrom ist.“ Sie grinste zufrieden, als hätte sie das Gefühl, dass dieser Fakt alles hinreichend erklärt haben musste. Erst nachdem Phil seine Augenbrauen zusammenzog und den Kopf schief legte, fügte sie kleinlaut hinzu: „Mathematik ist für unsere Familie wichtig. Deswegen auch die Spiralen.“
Phil hatte nicht viel Ahnung davon, aber selbst er erkannte die Fibonacci-Spiralen, die in sich verwoben den hohen Turm zum Garten bildeten, der die Oase wie ein gigantischer Baumstamm zum Himmel streckte. In der Hoffnung, sich nicht vollkommen fehl am Platz zu fühlen, rezitierte er das einzige, was er darüber wusste: „Die drei Kriterien der klassischen Fibonacci-Folge sind die lineare Iteration, die beide vorangehenden Folgenglieder einbezieht, die Linearkombination dieser Folgeglieder, die den Koeffizienten plus Eins tragen und die beiden Startglieder, die gleich plus Eins sind.“
Valencias Augen leuchteten auf vor Freude und er bereute sofort, dass er mit den kläglichen Resten seines Schulwissens so angegeben hatte. Jetzt würde sie sicher erwarten, dass er zumindest Grundkenntnisse der Mathematik hatte und er hasste es, sie enttäuschen zu müssen. Trotzdem sagte er nichts dazu und nahm die herzliche Umarmung an.
„Vielleicht kannst du Daddy doch noch auf deine Seite ziehen“, schlussfolgerte sie glücklich und gab ihm damit einen Stich ins Herz. Seit ihrem dritten Treffen wusste er, wer das außergewöhnliche Mädchen wirklich war, Valencia Di Viti, einzige Tochter des wohl reichsten Mannes der neuen Welt. Als sie es ihm gesagt hatte, war er lediglich ein wenig verblüfft gewesen, denn wer hätte damit rechnen können, dass man in einem versifften Club in Seven Points jemanden mit so hohem Status kennenlernen würde. Als Problem hatte er es damals noch nicht betrachtet. Aber als die flüchtige Liebelei zwischen ihnen beiden ernster wurde, wurden auch seine Bedenken geweckt.
„Das wage ich zu bezweifeln.“ Phil lachte lauf auf um ihr zu signalisieren, dass er die Ablehnung ihres Vaters würde verkraften können, obwohl er sich da selbst nicht so sicher war. Er vertraute Valencia, glaubte an ihre Unabhängigkeit und ihren unerschütterlichen Willen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie das wollte, gegen den Rhythmus zu tanzen. Aber was wenn er sich täuschte? Er konnte unmöglich nachvollziehen, wie sie aufgewachsen war, welchen Einfluss ihr Vater auf sie hatte.
Bedacht darauf, nicht laut zu seufzten, stieß er sich vom Geländer ab und machte einige Schritte auf den hübsch getrimmten Rasen. Es war ein seltsames Gefühl hier oben auf den Kelchblättern des Lotus zu stehen, nachdem er ihn seit seiner Kindheit bloß aus der Ferne betrachtet hatte. Phil war noch nicht einmal in dem Teil von Megatropolis gewesen, wo das Ungetüm aus drei hohen Stängeln stand. Auf Fotos hatten die Blüten viel kleiner gewirkt, eher wie ein Pavillon, doch das war nur eine Illusion, hervorgerufen von der unglaublichen Größe des ganzen Komplexes.
Er drehte sich mit ausgestreckten Armen dreimal im Kreis, um sich etwas weniger winzig vorzukommen und meinte dann: „Das hier ist ein wirklich cooler Ort. Es muss toll gewesen sein, hier aufzuwachsen.“ Weil er seinen Blick auf die gigantischen Blütenblätter aus hellem Kupfer und verspiegelten Glas gerichtet hatte, bemerkte er nicht, dass Valencia traurig zu Boden sah.
„Ich denke schon“, entgegnete sie leise.
Ein warmes Klingeln bedeutete die Ankunft des Aufzugs und Phil zuckte jäh zusammen. Die beiden waren noch immer an der äußersten Spitze eines der Kelchblätter, es würde also noch einige Minuten dauern, bis Phil Alessandro Di Viti gegenüberstand. Er begann aufgeregt an seiner billigen Krawatte zu nesteln, und sich selbst gut zuzureden.
„Beruhige dich“, ermahnte ihn Valencia, bevor sie ihre Hand zwischen seine Schulterblätter legte und ihn zum Gehen drängte.
Als er unter dem Bogen der geschlossenen Lotusblume eine Gestalt ausmachen konnte, ging Phil erst davon aus, dass es sich um einen Bediensteten handeln musste. Der Mann war relativ klein und schlenderte mit lockeren Schritten auf sie zu, in seiner Hand ein sperriger Koffer.
„Hallo Daddy“, rief Valencia fröhlich und sprintete dem verblüfften Phil vorweg. Mit einem überschwänglichen Kichern begrüßte sie ihren Vater, nahm ihm den Holzkasten ab und schob ihn dann in Phils Richtung. „Das ist er, Daddy. Sei lieb, er hat Angst vor dir.“
Phil schluckte leer und war dermaßen überfordert mit der Situation, dass ihm Valencias unvorteilhafte Vorstellung gar nicht aufgefallen war. Mit einer raschen Bewegung wischte er seine schweißnassen Handflächen am Polyesterstoff seiner Hose ab und streckte sie dann aus.
„Es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir.“ Der Angesprochene sah ihn verdutzt an und machte keine Anstalten, den Gruß zu erwidern. Phils Augen sprangen mehrmals von Alessandro Di Viti zu seiner Tochter und wieder zurück, bis er schließlich unter dem Druck nachgab.
„Ich verstehe, dass sie nicht glücklich über unsere Beziehung sind. Ich wurde mit dem Plastiklöffel im Mund geboren und habe in ihren Kreisen sicher nichts verloren. Aber mit allem Respekt, Sir, ich liebe ihre Tochter und werde mich von Ihnen nicht vertreiben lassen!“, sprudelte es aus ihm heraus. Hatte er Valencia gerade eben ein Liebesgeständnis gemacht und das auch noch in der peinlichsten Manier, die er sich vorstellen konnte? Nun endgültig panisch begann er etwas Unverständliches zu stottern und fuhr sich durch seine rotblonden Haare, doch noch bevor er einen klaren Satz sagen konnte, unterbrach der gedrungene Mann ihn mit schallendem Gelächter.
„Gut zu wissen“, prustete Alessandro Di Viti. „Mein Name ist übrigens Alessandro und nicht Sir. So, und jetzt helft mal damit, meine Pastellfarben und die Staffelei auszupacken.“

Autorin: Rahel
Setting: Ein wirklich cooler Ort
Clues: Pastellfarben, Insekt, Baumstamm, Stammbaum, Koeffizient
Die fiktive Stadt Megatropolis, sowie die Lotusblumen-Gebilde sind ein urbanes Designkonzept des Architekten Tsvetan Toshkov. Seine atemberaubenden 3-D-Visualisierungen zum Megatropolis-Projekt findet ihr hier.
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

9 Gedanken zu „Mathematik und die Liebe“

    1. Halli Hallo
      und herzlich willkommen auf Clue Writing!
      Wir freuen uns sehr über das Lob und hoffen, dass wir dich noch lange, lange, laaange mit Kurzgeschichten unterhalten können.

      Ausprobieren kannst du Clue Writing übrigens nicht nur bei dir im stillen Kämmerchen, sondern darfst dich gerne jederzeit als Gastautor bei uns versuchen. ;)

      Liebe Grüsse und die besten Wünsche
      Deine Clue Writer
      Rahel

    1. Hallo liebe Wunderwäldlerin (was im Übrigen ein genialer Superhelden-Name wäre),
      vielen Dank für den Reblog :)
      Eines nicht allzu fernen Tages werden wir Dich dazu bringen, deine eigene Gaststory zu rebloggen – Ja, das ist als Drohung zu verstehen ;)

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Deine Clue Writer
      Rahel

  1. Hallo Rahel,
    ob die ganze Mathematik nun stimmt oder nur gut erfunden ist, kann ich nicht beurteilen. Klingt aber atemberaubend :-) Und dein cooler Ort ist ein wirklich cooler Ort :-) Insgesamt eine tolle Geschichte.
    Viele Grüße
    Ann-Bettina

    1. Oh Ann-Bettina,
      du bist jede Woche wieder Balsam für mein Schreiberherz. Vielen lieben Dank dafür :)
      Ich darf dir sogar stolz berichten, dass die Mathematik in der Geschichte tatsächlich stimmt – Oder zumindest stimmen solle, wenn mich meine Bücher nicht dreist in die Irre geführt haben ;)

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
      Deine Clue Writer
      Rahel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing