Menschenskinder

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Als sie vor einer Stunden aufgewacht war, hatten noch einige orangefarbene Sonnenstrahlen die Fensterfront, die beinahe gänzlich mit schwerem Samtstoff abgedunkelt war, durchdrungen, doch jetzt war eine kleine antike Leselampe in dem, mit Backsteinmauern umrahmten Zimmer die einzige Lichtquelle. Jenna setzte sich in den fahlen Schein der durch den Lampenschirm sickerte, kämmte ihr noch nasses Haar mit den Fingern aus dem  Gesicht und nippte schläfrig an ihrem viel zu heißen Kaffee. Als sie ihren Blick flüchtig durch das Loft gleiten ließ, zuckte sie etwas zusammen und schob den Gedanken beiseite, dass sie dieses Chaos irgendwann doch würde aufräumen müssen, denn inmitten ihres stets ordentlichen und minimalistisch eingerichteten Wohnraums waren unzählige Comicbücher auf dem Boden verstreut worden, die Küche sah noch immer so aus, als hätten sich dort Waschbären eingenistet und sie war sich noch nicht sicher, wie sie die Schokoladenflecken aus ihren weißen Textilien würde entfernen können. Resigniert seufzend, drückte sie den Einschaltknopf ihres Laptops, welchen sie erst beim dritten Anlauf erwischte und griff gedankenverloren nach einem der Taschentücher, die in einer metallenen Box neben dem Gerät lagen.
In den letzten beiden Tagen hatte sie sich selbst immer wieder diejenige Frage stellen müssen, welche sie seit ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag immer häufiger zu hören bekam und deren Tonfall immer bemitleidender wurde, je älter sie geworden war; bereute sie es, sich gegen eigene Kinder entschieden zu haben?
Sie nippte nochmals etwas lustlos an der schwarzen Brühe in ihrer Werbetasse, welche ihr während einer Ausstellung hingeschoben worden war, öffnete ihre übliche Formatvorlage und starrte dann versteinert auf die abgegriffene Tastatur ihres silbergrauen Computers. Die Geschehnisse der letzten Tage spukten noch immer hartnäckig durch ihre Gedankenwelt und hinderten sie daran, sich auf die bevorstehende und lange herausgeschobene Arbeit zu konzentrieren.

Alles hatte mit einem harmlosen Anruf ihrer langjährigen und besten Freundin begonnen. Jenna hatte sich anfänglich wirklich sehr gefreut, als sie die vertraute Stimme nach längerer Zeit wieder einmal durch den alten Telefonapparat scheppern hörte, denn seit ihre Freundin ihr ganz persönliches Familienprojekt in Angriff genommen hatte, wurde die Zeit für Jenna immer knapper. Doch die Euphorie legte sich rasch, als sie um den klitzekleinen Gefallen gebeten wurde, auf das fünfjährige Kind ihrer alten Weggefährtin aufzupassen, während diese ihre Mutter im Spital besuchen würde. Jenna war es schon immer sehr schwer gefallen, einen Draht zu diesen kleinen Kreaturen zu finden, war oftmals verwundert, warum Kinderhände immer, aber auch wirklich immer, klebrig zu sein schienen und wieso die lieben Kleinen dachten, dass man Botschaften durch Lautstärke Nachdruck verleihen müsste. Jenna war sich sicher, dass ihre Freundin ihr Zögern richtig gedeutet hatte und es absichtlich ignorierte, da sie wahrscheinlich keine andere Wahl hatte, als sie um den Gefallen zu bitten. So war es schließlich dazu gekommen, dass ein kleiner Junge mitsamt Plüschente vor ihrer Haustür abgestellt wurde und kaum war das Geräusch der mütterlichen Absätze auf dem steinernen Boden des Hausflurs verklungen, hätte Jenna sich am liebsten unter ihrer Bettdecke versteckt.
Um ihre neue Rolle als führsorgliche Patentante bemüht, hatte sie den Schlafplatz des Jungen zurechtgemacht, die Küche mit kinderfreundlichen Speisen gefüllt und ihre geliebte Horrorfilmsammlung in einen der hochgelegenen Schränke verstaut. Sie hatte den Jungen sogar dazu überreden können, sich von seiner Stoffente zu trennen und ihr beim Kochen zu helfen. Kurz darauf hatte der Kleine sie frech gefragt, warum sie denn so viele Videospiele hätte und ob sie denn nicht schon viel zu alt dafür wäre, was zu einer kurzen, aber hitzigen Diskussion geführt hatte, ab wann man denn nun alt sei und damit endete, dass der Junge während eines digitalen Karatekampfes friedlich eingeschlafen war. Jenna hatte ihn dann behutsam in das Gästebett getragen, sich danach mit einem Glas Rotwein an die verdreckte Küchentheke gesetzt und mit Entsetzen festgestellt, dass ihr die Gesellschaft des kleinen Rabauken doch tatsächlich viel Spaß bereitet hatte.

Jenna lehnte sich, noch immer lustlos am Kaffee nippend, etwas zurück und konnte sich das stumme Grinsen nicht verkneifen, als sie daran dachte, wie erschöpfend die gemeinsame Zeit mit dem kleinen Quälgeist gewesen war. Sie hatte ihm am gestrigen Morgen, direkt nach dem Frühstück, einen Regenschirm in die Finger gedrückt und sich mit ihm auf den Weg in den nahegelegenen Stadtpark gemacht und kaum waren sie dort angekommen, war der Junge fest dazu entschlossen, in den dichten Büschen hinter den Parkbänken nach jungen Stockenten zu suchen; er schein sich ein wenig zu sehr für dieses Federvieh zu begeistern. Doch anstelle davon, sich mit wildem Geflügel anzufreunden, hatte er sich einen teuflischen Giftsumachausschlag zugezogen und war dermaßen erschüttert über die roten Pusteln, dass er sich geweigert hatte, das Gestrüpp zu verlassen. Also hatte Jenna keine andere Wahl gehabt, als ihm mit ihren hochhackigen Schuhen ins Unterholz zu folgen und ihn, nicht ohne lauten Protest seinerseits, rauszuziehen. Es dauerte beinahe zwanzig Minuten und das Versprechen, dass er sich einige Comicbücher werde aussuchen dürfen, bis der Junge sich endlich etwas erholt hatte und weitere vierzig, bis sie endlich wieder das Loft erreicht hatten.
Und natürlich war ihre Hoffnung, der Kleine würde sich nun etwas ruhiger verhalten, zerstört worden, als ihr neuer Hausgast sich mit einer Packung Kondome – welche er beim Durchwühlen ihrer Schränke gefunden hatte – vor sie gestellt hatte und fragte, ob er damit später die Kaulquappen im Park füttern dürfte.
Jenna konnte sich das Lachen nun doch nicht mehr verkneifen, als sie die zerknüllte Kondompackung mit den darauf abgebildeten Spermien ansah, welche sie nach dem Zwischenfall vorsichtshalber auf dem obersten Brett ihres Büroregals versteckt hatte. Sie hatte wirklich aus erster Hand erfahren können, warum die Mütter und Väter in ihrem Umfeld es nie versäumten, ihr mitzuteilen wie hart es sein kann ein Kind aufzuziehen. Während des gesamten Nachmittags gab es für Jenna keine einzige ruhige Minute und sie konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so sehr nach der Gestalt ihrer besten Freundin in ihrer Eingangstür gesehnt zu haben.
Während sie versucht hatte dem Sprecher der Tagesschau zu folgen, hatte es der Kleine für notwendig gehalten, ihr jedes Bild in seinem Comic bis ins Detail zu erläutern und währenddessen sie verzweifelt versucht hatte die Küche wenigstens einigermaßen aufzuräumen, hatte er sich klamm und heimlich mit einer Tafel Schokolade davongestohlen und versucht, damit die Einrichtung aufzuwerten. Als Jenna etwas später den Kühlschrank geöffnet hatte, wäre sie vor Schreck beinahe über eines der Spielzeuge am Boden gestolpert; der gesamte Innenraum des Gemüsefachs war voller Schleimspuren, und als sie den Jungen nach all den Schnecken fragte, meinte dieser nur trocken: „Ach, die sind mir aus dem Park hier hin gefolgt und ich dachte, dass sie eine Abkühlung brauchen.“

Als Jenna vom Surren ihres Druckers aus den Gedanken gerissen wurde, rieb sie sich etwas zu heftig über die Augen und dachte erneut an all die höflichen und weniger höflichen Menschen, die sie mit einem immer trauriger klingenden Tonfall fragten, ob sie es bereue, keine Kinder zu haben. Und heute wie gestern, wäre ihre Antwort dieselbe gewesen. Doch würde man sie heute, an diesem verregneten Tag, nochmals fragen, wäre ihre Antwort weder entnervt noch beleidigt und sie hätte nicht mehr das Gefühl, sich für ihre Entscheidung rechtfertigen zu müssen, sie würde einfach nur lächeln und sagen: „Nein, ich bereue es nicht.“ Und insgeheim würde sie sich denken, dass sie die eigenen Kinder zwar tatsächlich nicht vermisste, jedoch jederzeit wieder bereit wäre, den kleinen Tyrannen ihrer Freundin bei sich als Hausgast aufzunehmen, trotz, oder vielmehr gerade wegen all den kindlichen Unmöglichkeiten und besonders weil sie wusste, dass sie ihn bald wieder würde zurückgeben können.
Jenna seufzte laut und entschied, dass sie erst ihre Wohnung würde aufräumen müssen, bevor sie sich der Arbeit widmen konnte. Als sie neben ihrem alten Telefon vorbeilief, hielt sie kurz inne und wählte die Nummer ihrer Mutter. Heute war der richtige Tag, um ihr für all die Geduld und Liebe zu danken, die sie ihr geschenkt hatte.

Autorin: Rahel
Setting: Loft
Clues: Giftsumach, Stockente, Tagesschau, Drucker, Taschentuch
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