Der Mörder von Morville

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der siebten Clue Writing Challenge.

Madame Mimi Moffat war eine typische alte Dame, nun ja, zumindest sah sie selbst das so. Allerdings fiel sie in dem kleinen Dörfchen Morville dank einiger Eigenarten auf. Sie wurde gemeinhin als die „schrullige Französin“ bezeichnet, die in einer zerfallenden Villa auf dem bewaldeten Osthügel lebte. Eigentlich war sie bloß zu einem Achtel Französin, nichtsdestotrotz bestand sie darauf, mit „Madame“ angesprochen zu werden, man sollte ihr schließlich den gebührlichen Respekt zollen.
Mit einer Zigarette in der Hand trat die über achtzigjährige Kettenraucherin auf die Veranda und genoss das Gelb des Sonnenuntergangs, der die Ortschaft unter ihr erhellte. Sie hatte sich gar nicht erst Mühe gegeben, den Morgenmantel gegen passende Kleidung auszutauschen, wieso auch? Zufrieden seufzend machte sie es sich auf dem rustikalen Schaukelstuhl bequem, der trotz ihres Fliegengewichts ein alarmierendes Knarzen von sich gab. „Also“, murmelte sie mit zusammengekniffenen Augen das schottische Kaff musternd, „wenn ich zig Leute umgebracht habe, wo verstecke ich mich?“ Für eine Weile schwieg sie, fixierte Haus um Haus, in der Hoffnung, mit der Konzentration käme die Offenbarung. Madame Mimi Moffat hatte sich schon vor Jahren daran gewöhnt, dass gefühlt drei Viertel aller Morde in Schottland in ihrem Dorf geschahen und aus der Not eine Tugend gemacht. In der Tradition englischer Krimis hatte sich die Dame mit der kuriosen Frisur als Detektivin versucht und bereits mehr als ein Dutzend kaltblütige Killer überführt. Abwesend schnippte sie die Kippe in einen Metalleimer, den sie als Aschenbecher nutzte. Anstatt einer Erleuchtung fand sie in ihren Furchen den Drang, gleich noch einen Glimmstängel anzuzünden, also fischte sie in der Tasche ihrer Robe nach dem Päckchen; rauchen mochte Krebs verursachen, doch es half der Madame dabei, fokussiert zu bleiben, daher war es ihr das Risiko wert. „Ich werde auch dich kriegen“, schmollte sie auf das Städtchen stierend. Bislang war ihr noch kein Mörder durch die Lappen gegangen und sie sollte verflucht sein, wenn es dem Serienkiller, der momentan in Morville sein Unwesen trieb, gelang. Fünf Opfer hatte er schon grauenhaft entstellt im Wald zurückgelassen und das ganze Kaff, inklusive dem Bürgermeister, war in regem Aufruhr.
Mit einigen unverständlichen Verwünschungen auf den Lippen erhob sich die Dame und schlurfte in ihren Flauschpantoffeln ins Wohnzimmer, wo prasselndes Kaminfeuer auf sie wartete. Im morbiden Kontrast zu der gemütlichen Couch und den fröhlich geblümten Lampenschirmen waren die Wände mit Tatortfotos, Karten der Gegend, Polizei- und Zeitungsberichten behängt. „Wer bist du?“, brummte Madame Mimi Moffat frustriert und ließ sich äußerst ungrazil auf das Sofa plumpsen. Wenn sie offen mit sich sein wollte, ging ihr dieser Killer auf den Geist. Bislang hatte sie noch jeden Kontrahenten innert Kürze dingfest gemacht, egal, ob es ein Räuber, ein gekränkter Ehemann oder sogar (wie hätte es anders sein können?) der Gärtner oder Butler war. Nur dieses Monster, das ihre Nachbarn abschlachtete, machte ihr die Oberhand streitig. Inspektor Burberry, der lokale Polizeichef, tappte ebenfalls im Dunkeln und das, obwohl ihn Madame Moffat für ein durchaus helles Köpfchen hielt.
Eine geschlagene halbe Stunde später kicherte die Gute plötzlich heiter und stand umständlich auf. „Na dann, sehen wir uns ein paar Leichenteile an, das hebt die Stimmung.“ Die Opfer waren wahrlich kein angenehmer Anblick, grauslich entstellt, der Alten machte das zum Glück nichts aus; für sie waren Morde mehr Puzzles als menschliche Tragödien.
Nach einigen erfolglosen Minuten beschloss Madame Mimi Moffat, sich eine Auszeit zu gönnen. „Das ist ja nicht zum Aushalten“, wetterte sie und tippelte in Richtung Küche, um sich einen Earl Grey zu brauen. Es war ein Ding, an einer Herausforderung zu kauen zu haben, etwas anderes, sich daran die Zähne auszubeißen. Dieser Fall schien schier unlösbar; die Opfer hatten keinerlei Gemeinsamkeiten, sie waren einzig alle nachts im Wald gewesen. Während das Wasser zu brodeln begann, linste sie zum Kalender, der am Küchenschrank hing. Bald wäre Wochenende, sie müsste ihren Morgenmantel gegen ein Kleid tauschen und ihre Frisur (wie es sich für eine Französin gehörte) mit einem Beret zähmen, um sich im Dorf zeigen zu können. Ihrer Einkaufsliste hinterherstudierend, starrte sie weiter auf die Daten. Da dämmerte es ihr, ein Muster kristallisierte sich heraus; na also!
Schlagartig war ihr Tee vergessen und so rasch sie ihre Beine trugen watschelte die Mordaufklärerin Madame Mimi Moffat mit einem Grinsen auf dem Gesicht zum Telefon. Ihre Finger zitterten beim Drehen der Wählscheibe, nahezu hätte sie sich verwählt, dermaßen aufgebracht war sie.
„Inspektor Burberry“, meldete sich eine entnervte, schmatzende Stimme nach langem Klingeln. „Ich bin beim Abendessen.“
„Ich habe herausgefunden, wer der Mörder ist“, rief Madame Moffat aufgeregt. „Es ergibt alles einen Sinn.“
„Was, wie, wer?“, wollte der Inspektor sogleich wissen und schluckte runter, was auch immer von seinem Besteck in seinem Mund gelandet war.
„Alle Opfer starben bei Vollmond im Wald.“ Sie pausierte, ehe sie das offensichtliche aussprach. „Es ist ein Werwolf, Inspektor.“
Stille herrschte in der Leitung, bevor der Inspektor überraschenderweise zustimmte: „Das ergibt in der Tat Sinn. Ich trommle sofort meine Männer zusammen, heute Nacht ist ja …“
Den Rest verstand Madame Mimi Moffat nicht mehr, denn eine Idee flammte in ihr auf. „M-hm“, Sich so weit es die Telefonschnur erlaubte streckend, öffnete sie ein Schränkchen und griff nach ihrer Schrotflinte. „Inspektor Burberry“, holte sie schnaubend aus, ihre Arthritis machte es ihr schwer, sich weiter zu verrenken. „Ich gehe auf die Veranda, um mir das genauer anzuschauen.“ Werweisend, woher sie um diese Uhrzeit Silberkugeln herbekommen sollte, ignorierte sie die Einwände des Inspektors und legte auf. Ihr Blick fiel auf das Schmuckkästchen. „Es tut mir leid, Achibald, aber es muss sein.“ Sie nahm sich die hölzerne Box, kramte den Silberschmuck, den sie von ihrem verstorbenen Gatten geschenkt bekommen hatte, heraus und stopfte damit ihre Flinte. „Dann wollen wir mal eine Monstervisage schmücken!“ Natürlich war Madame Mimi Moffat alles andere als erfreut darüber, nachts in den Wald zu gehen, jedoch war ihr ein Kampf mit einem Werwolf allemal lieber, als mit einem unabgeschlossenen Mordfall leben zu müssen.

Autorin: Sarah
Clues: Frisur, Grinsen, Zigarette, Robe, Gelb
Diese Kurzgeschichte wurde nach einem vorgegebenen Charakterdesign verfasst:

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