Nukleare Nachtschicht

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Müde lasse ich mich auf den Bürostuhl fallen, zum werweißwievielten Mal heute. Der ewige Kreislauf von auf den Bildschirm starren, Kaffee trinken und Zigaretten rauchen zollt seinen Tribut in der Form einer leichten Magenverstimmung und weniger leichten Kopfschmerzen. Ob der Pizzakurier wohl auch zu einem Kernkraftwerk liefert, das mitten im Nirgendwo steht? Ich könnte argumentieren, der Verwaltungssitz von unserem Energiekonzern liege im selben Gebäude. Vermutlich würde die Furcht, einen Großkunden zu verlieren, den Manager ausreichend anspornen, einen Teenager auf einem Moped mitten in der Nacht durch die Dunkelheit tuckern zu lassen. Voller Vorfreude wähle ich die Nummer und gebe meine Bestellung auf.

Ein Blick auf mein Handy neben der nunmehr leeren Pizzaschachtel verrät mir, dass ich bereits seit vierzehn Stunden und zwei Minuten hier sitze und langsam aber sicher überkommt mich die Erschöpfung. Ich muss nur noch ein kleines Bisschen länger durchhalten, dann ist mein Tageswerk getan – gottseidank ist Freitag! Vor meinem geistigen Auge latsche ich bereits in meine Wohnung, kicke die unbequemen Schuhe von den wunden Füßen, mache mir ein Müsli und werfe mich in die Badewanne. Ich werde unsanft aus meiner erfreulichen Zukunftsvision gerissen, als plötzlich die Beleuchtung erlischt und nur noch die grüne Notleuchte einen diffusen Schimmer verbreitet. „Fuck!“, wettere ich los, als die Tür geöffnet wird und Bernard, ein weiterer Mitarbeiter, das Kontrollzentrum betritt.
„Abend! Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, du würdest dich über etwas Gesellschaft freuen.“
„Du meinst wohl eher, du willst nicht zugeben, wie hochgradig illegal es ist, während deiner Schicht einfach zu verschwinden?“, frotzelte ich halb erst, halb scherzhaft. „Denk bloß an Tschernobyl.“
„Ach, lass mal. Eine Geschichtslektion kann ich jetzt wirklich kaum gebrauchen, außerdem führen wir ja derzeit keinen Test durch.“
„Stimmt auch wieder“, seufze ich versöhnlicher. „Sag mal, wieso hast du das Licht ausgemacht?“
Verwirrt zögert Bernard. „Ich? Ich dachte, das warst du? Magst du dir die Sicherungen ansehen, unsere Schicht geht bald zu Ende. Du weißt schon, die Ablösung soll nichts zum Nörgeln haben.“
„Klar, etwas Bewegung wird mir gut tun.“ Ich schnappe mir demotiviert meine Taschenlampe und füge trotz der ernsten Thematik scherzend hinzu: „Jag nichts hoch, während ich weg bin, ja? Nuklearer Völkermord steht erst morgen auf dem Programm.“

Dunkelheit umgibt mich, meine Schritte auf dem metallenen Steg hallen laut durch die Halle, während der Lichtkegel meiner Taschenlampe über die von Jahren gezeichneten Betonwände wandert. Wo zum Teufel finde ich nur in einem Kernkraftwerk den Sicherungskasten, verfluche ich meinen Job, insgeheim an meiner Ausbildung zweifelnd, die mir zwar im Fall einer Kernschmelze viele nützliche Tipps beschert, ohne mir zu verraten, wo der Elektriker die Steuerung der Beleuchtung verbaut hat.
Mein Fuß stößt gegen ein Hindernis, ich verliere die Balance und falle vornüber auf meine Handflächen, was auf dem Metallsteg äußerst schmerzhaft ist. „Scheiße!“, verhallt mein Ruf ungehört in dem Gebäude, während ich mich frage, welcher Trottel seinen Müll hier herumliegen lässt. Mühsam und mit weiteren Flüchen auf den Lippen drehe ich mich um und zünde mit der Taschenlampe auf das Ding, welches mir den Weg versperrt hat. Mein Schreckensschrei, als ich in das entstellte Gesicht von Jaques starre, übertönt meine Schimpftirade problemlos. Seine Augen wirken eingefallen, sein Haar fehlt und er liegt in einer Pfütze aus seinem eigenen Erbrochenen. Im Schein meiner Taschenlampe starren seine weißen Augen mich leblos an und in muss gegen den Würgereiz ankämpfen, der meine Eingeweide zusammenzieht, mich in Panik versetzt. Mit zitternden Fingern greife ich nach meinem Funkgerät, in der Hast entgleitet es mir nahezu, ehe ich den richtigen Knopf ertaste. „Bernard? Bernard! Wir haben ein Problem, Jaques ist tot!“
Die vielleicht zwei Sekunden, bis der Kamerad sich meldet, erscheinen mir wie Ewigkeiten. „Was? Ist das dein Ernst?“
„Ja, was denkst du denn? Ich mache sicher keine Witze, wenn es um sowas geht!“ Meine Stimme kippt nahezu in ein panisches Kreischen, ich kann sie nur mit größter Mühe unter Kontrolle bringen. Mir ist klar, dass es mit etwas Pech auch für mich schon zu spät ist, das Kontrollzentrum grenzt an das Gebäude der Reaktoren 3 sowie 4.
„Okay, ich rufe einen Krankenwagen“, erklärt Bernard relativ ruhig, er ist gut darin, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Was ist mit ihm passiert?“
„Es ist Strahlung! Sperr alles ab, lass niemanden herein und fahre alle Reaktoren herunter, ich suche einen Geigerzähler!“ Ich vergesse alles an Protokoll, jegliche Regeln, meine Haut fühlt sich komisch, kribbelnd an und ein schwerer, bleierner Geschmack macht sich in meinem Mund breit. „Bitte, sei psychosomatisch“, flehe ich leise und stolpere zurück in Richtung des Kontrollzentrums, wo ich meinen Geigerzähler vergessen habe. Wie kann so etwas passieren? Ich taumle, muss mich übergeben und zwinge mich, nicht in meine Haare zu fassen. Wie lange war ich der Strahlung ausgesetzt? Normalerweise verläuft doch Strahlenkrankheit weniger rapide, oder? Ich kenne die Bücher und Dokus über Tschernobyl, wir haben ein bedeutend moderneres Kernkraftwerk, es hätte längst ein Alarm ertönen sollen, lange bevor irgendwas Schlimmes passieren konnte. Ich muss zurück in den Kontrollraum und Bernard helfen, alle Systeme herunterzufahren … Ich taumle, stürze erneut hin und verliere das Bewusstsein.

Das erste, was ich sehen kann, ist der besorgte Ausdruck auf Bernards Gesicht vor mir, er muss mich ins Kontrollzentrum geschleift haben. „Hey, bist du okay?“
„Was …?“, mache ich, verwirrt und schwach. Erst danach fallen mit die Anzeigen hinter ihm auf: Alle Reaktoren laufen noch. „Bist du wahnsinnig?! Macht das Ding aus!“ Ich springe auf und haue mit aller Wucht auf die Not-Aus-Taste, die sämtliche Kontrollstäbe in den Reaktorkern fallen lässt und die Systeme kontrolliert herunterfährt.
„Was zum …?“, setzt Bernard an und versucht, mich zu packen, es gelingt ihm aber erst, nachdem ich den Schalter für den letzten Reaktor erwischt habe. „Spinnst du?!“
„Das Leck …“, stottere ich und lasse mich erschöpft auf dem Bürostuhl nieder. „Wir sind alle verstrahlt.“
„Vor was zur Hölle redest du für einen Scheiß?“ fährt mich Bernard an. „Du bist auf der Arbeit eingeschlafen, hast dann zu schreien begonnen und …“
„Halt!“ unterbreche ich ihn und bemerke im selben Moment, dass die Sparlampe in meiner Büroleuchte ihr warmweißes Licht verbreitet, als wäre nie etwas gewesen. „Dann gab es gar keinen Stromausfall?“
Bernard starrt mich ungläubig an. „Du hast gerade sechs Reaktoren ausgeschaltet, du Spinner! Jetzt haben wir einen – in der ganzen Präfektur!“

Autorin: Sarah
Setting: Energiekonzern
Clues: Thematik, Geschichtslektion, Müsli, Sparlampe, Vögelchen
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