Ach wie gut, dass niemand weiss …

„Ich denke, Sie haben einen Softwarefehler“, sagte Lea mit einem selbstgefälligen Grinsen in ihr Headset, bevor sie die Eingabetaste drückte. Auf dem Display ihres Laptops konnte sie beobachten, wie die Stapelverarbeitungsdatei ausgeführt wurde und Kommandozeilen schneller erschienen und über den Bildschirm rollten, als sie ein normaler Mensch hätte lesen können.
„Nein, bei uns ist alles in Ordnung“, begann die Stimme am anderen Ende der Leitung, bevor sie sich mit einem erstaunten Ausruf unterbrach: „Scheiße, was ist das denn?“
Lea fuhr in ihrem überheblichen Tonfall fort: „Das passiert, wenn man seine Firewall nicht aktualisiert. Eine Hackerin knackt das Passwort für Ihr Bankkonto auf den Cayman Islands und räumt es leer.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie hinzufügte: „Aber wie gesagt, bei Ihnen schaut es nur wie ein Softwarefehler aus, also werden Sie das niemals beweisen können.“ Damit unterbrach sie die Verbindung und klappte ihr Notebook zu, das sie zur Tarnung in einer großen Bentobox verbaut hatte.

Lea hatte nie sehr viel Interesse an Menschen gehabt. Zugegeben, sie hatte ihre paar Freunde, mit denen sie sich ab und an umgab, darüber hinaus waren Leute für sie eher wie Computersysteme. Man musste sie knacken und überlisten können, um sein Ziel zu erreichen, jedoch hatte sie mit den Feinheiten des menschlichen Benehmens so ihre liebe Mühe. Insbesondere das Paarungsverhalten, dass man bei den alkoholisierten Maßen im Ausgehviertel, durch das sie nun nach Hause ging, beobachten konnte, erschien ihr wie eine skurrile Performance aus der modernen Kunst, deren Sinn nicht einmal die Darsteller verstanden. Sie senkte den Kopf und spannte ihren Regenschirm mit dem Karomuster auf, der zwar gut zu ihren Netzstrümpfen und abgetragenen Doc Martens passte, ihr aber ein wenig den Anschein eines Punks verlieh, vielleicht auch einer etwas schrulligen Außenseiterin, die für ihr Alter unpassend angezogen war.
Sie hatte ein Geheimnis: Diese schöne, neue Welt war ihre Welt, ein einziges gigantisches Netzwerk. Ihre Waffe war ein Laptop mit einem guten Prozessor und ihr Gehirn. Die Bomben der Zukunft wurden nicht mit Sprengstoffen, sondern mit Logik geschaffen und waren weitaus verheerender, als man es sich je zu denken gewagt hätte. Hätten ihre Freunde von Leas Doppelleben gewusst, hätten sie wohl gedacht, es ginge ihr um Geld, doch das stimmte nicht. Worum es ihr wirklich ging, waren Macht und Kontrolle; den Kick zu erleben, wenn man ein System nicht nur schlagen, sondern kontrollieren konnte.
Und heute hatte sie wieder ein kleines Meisterwerk vollbracht, etwas das man feiern musste. Kurz entschlossen hielt sie an und wäre dabei fast von einem Betrunkenen über den Haufen gerannt worden, der eine unverständliche Entschuldigung lallte und weitertorkelte. Ihr Blick fiel auf eine Bar, aus der Indie-Rock auf die nass glänzende Straße dröhnte und sie trat ein.

Zufrieden bemerkte Lea, dass noch ein Barhocker ganz am Rand frei war, an dem sie verhältnismäßig ungestört sein würde. Sie schloss den Schirm, schlug die Kapuze zurück und machte es sich auf dem roten Leder bequem, so gut es eben ging. Der Barkeeper war beinahe sofort da und sie gab ihm über den Lärm weg zu verstehen, dass sie gerne einen Long Island Iced Tea hätte, was er erstaunlicherweise ziemlich gut zu hören schien. Auch wenn Lea sehr gerne in Ruhe mit sich selbst angestoßen hätte, so spürte sie doch bald das kribbelnde Verlangen, dass sie jedes Mal überkam, wenn sie unter Menschen war. Sondierend sah sie sich um und ihr fiel eine stark überschminkte junge Frau mit hohen Absätzen auf, die nicht weit von ihr entfernt stand und das neueste iPhone in der Hand hielt. „Okay, du bist es“, murmelte Lea in Vorfreude, als der Barkeeper ihr den Drink hinstellte, sie zu seiner Überraschung mit einem Fünfziger bezahlte und ihm zurief, dass er den Rest behalten könne. Nein, um Geld ging es ihr wirklich nicht.
Kaum hatte sie seinen Dank mit einem höflichen Lächeln abgetan, wandte sie sich wieder der Fremden zu und kramte dazu ihr Handy aus der Laptoptasche. Mit einer App, die sie vor nicht allzu langer Zeit selbst geschrieben hatte und um die sie wohl sogar einige Geheimdienste beneiden würden, war er ihr ein Leichtes, in das Betriebssystem des Telefons einzudringen und die Kurzmitteilungen zu lesen. Eine der kleinen Basteleien, mit denen sie sich die Zeit vertrieb. „Du betrügst also deinen Verlobten?“, murmelte sie nach kurzer Zeit und entschied sich spontan, den ganzen Nachrichtenverlauf an den künftigen Ex-Verlobten der schrägen Tusse zu schicken, den sie problemlos in ihrem Adressbuch fand. „Und das, meine Liebe, war der dümmste Softwarefehler in deinem Leben“, lachte Lea wegen der lauten Musik kaum hörbar und nahm einen sehr großen Schluck von ihrem Drink. „Auf mich.“

Lea war schon ziemlich angetrunken, als sie weiter nach Hause schlenderte und sie genoss das Gefühl. Eine kleine, rationale Stimme in ihrem Verstand versuchte ihr einzureden, dass Alkohol für die Selbstkontrolle nicht gerade förderlich war, doch sie war der Überzeugung, dass auch die Besten etwas Spaß verdient hatten. Sie bog in eine dunklere Gasse ein und rümpfte angewidert die Nase, als sie einen Junkie mit Keuchhusten sehen konnte, der in einem Hauseingang neben einer Pfütze aus Erbrochenem saß. „Na, so viel Spaß aber nicht“, murmelte sie. Wann sich Lea die Selbstgespräche angewohnt hatte, in denen sie ihre eigenen Gedankengänge mal mehr und mal weniger sarkastisch kommentierte, wusste sie nicht mehr, musste irgendwann in ihrer Jugend gewesen sein.
Rumpelstilzchen?“, riss sie eine fremde, tiefe Stimme hinter ihr aus ihrem Tritt und sie fuhr herum.
„Was?!“ Ihre Reaktion war viel heftiger, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Es verstörte sie, den Namen zu hören, den sie schon seit Jahren nicht mehr gebraucht hatte, niemand hätte ihn noch kennen sollen. Ihr Gegenüber war ein stämmig gebauter und ziemlich gut gekleideter Mann, der sie überheblich musterte: „Ich habe mir immer gedacht, du würdest ein ernstzunehmender Gegner sein, nicht ein alternder Punk. Naja, das spielt jetzt keine Rolle mehr.“
Lea hatte keine Ahnung, wie er sie gefunden hatte, sie wechselte ihr Alias alle paar Monate, um nirgendwo lange aufzufallen. Wer auch immer er sein mochte, er musste in seinem Job verdammt gut sein. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen und sie erstarrte, als sie etwas Stählernes im Dämmerlicht aufblitzen sah, das sie für eine Waffe hielt. Ihr Mund wurde trocken und sie wollte laut aufschreien, brachte aber nur ein Krächzen zustande: „Nein, wer ist das Rumpelstilzchen?“
„Zu spät“, erklärte er ruhig. „Du musst es nicht versuchen, ich weiß, wer du bist.“
Gehetzt sah sich Lea um, konnte aber bis auf den Junkie niemanden erkennen und dieser wirkte nicht so, als würde er ihr zu Hilfe eilen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und fragte: „Wer sind Sie?“
„Ich arbeite für die Familie“, erklärte der Fremde mit einem gruseligen Lächeln und fügte dann hinzu: „Die Familie, der ein Hacker vor einigen Jahren ein paar Millionen geklaut hat. Und wir wissen ja alle, wie das Märchen von Rumpelstilzchen ausgeht, oder?“
Lea hatte verstanden, worauf die Sache hinauslaufen würde, denn die Familie ließ nicht mit sich spaßen. Das ist meine Welt, zuckte es ihr verzweifelt durch den Kopf. Und doch, diesmal hatte sie keine Kontrolle, diesmal gab es keine Optionen mehr für sie, begriff sie, als der schwarze Lieferwagen um die Ecke bog und auf sie zuhielt, während sie nahe an ihrem Ohr das Klicken der Waffe hören konnte.

Autorin: Sarah
Setting: Ausgehviertel
Clues: Rumpelstilzchen, Bentobox (Luchbox), Bastelei, Softwarefehler, Keuchhusten
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