Wo warst du?

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Wo bist du am elften September 2001 gewesen?“, hatten mich alle meine Freunde gefragt und auch jetzt flackerten die Bilder wieder vor meinen geschlossenen Augenlidern, während ich mich krampfhaft von der Welt aus Schmerzen abzulenken versuchte. Es war die Frage, die wohl fast jedem Amerikaner früher oder später gestellt worden war, die gemeinschaftliche Erinnerung einer Nation an den einen Tag, an dem sich scheinbar alles verändert hatte. Und jeder konnte sagen, wo er vom Einsturz der Twin Towers erfahren hatte, was er dabei getan hatte. Vielleicht war er bei der Arbeit gewesen, vielleicht zuhause, in der Küche, beim Einkauf … Die Möglichkeiten waren so unbegrenzt, wie es in unserem Land zu erwarten war. Ich biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen schmerzerfüllten Aufschrei, bevor ich wieder an mein Mantra dachte: Ich war hier wegen dem, was ich in New York erlebt hatte, jedes Ereignis hatte eine Ursache und meine war zweifellos der elfte September.
Als der Südturm einstürzte, um 9:59 Uhr Ortszeit, war ich auf der Straße gestanden und hatte sozusagen einen Platz in der ersten Reihe für das grausige Schauspiel gehabt. Ich konnte mich nicht mehr an jedes Detail erinnern, aber ich würde nie vergessen, dass ich in der Papiertüte, die ich auf den Asphalt fallengelassen hatte, Toast, eine Packung gelber Bleistifte und Dänische Remoulade getragen hatte. Und ich hätte mir in diesem Moment nie träumen lassen, dass dieses apokalyptische Ereignis nicht das Ende, sondern der Anfang von allem Schmerz gewesen war. Ich schrie gepeinigt auf und kämpfte gegen die Fesseln an, doch wie immer war es hoffnungslos.

Keuchend lehnte ich mich an den Metallträger, an dem ich festgebunden war, als die dicke Tür hinter ihm ins Schloss fiel und sich die auf dem Steinboden hallenden Schritte entfernten. Alles war wieder so wie zuvor, die abblätternde grünbraune Farbe an den Wänden, die man nur in dem kleinen Rechteck erkennen konnte, wo das Sonnenlicht durch das vergitterte Fenster fiel, erinnerte mich an Erbrochenes. Ich konzentrierte mich auf das Muster aus Rissen, das sich über den ganzen Verputz zog und versuchte sie zu zählen. Ich wollte, nein durfte jetzt nicht ohnmächtig werden und würde dagegen ankämpfen. Für einen kurzen Moment fiel mein Blick auf den Boden vor mir und ich konnte den abgerissenen, blutigen Fußnagel von meinem rechten großen Zeh erkennen, es musste einer der letzten gewesen sein, den mir die Wahnsinnigen in der Folterkammer ausgerissen hatten. Sie schienen sich je länger desto weniger die Mühe zu machen, mich gesund zu halten, es schien nur noch um ihre Rache und meinen möglichst schmerzvollen und würdelosen Tod zu gehen. Die bisher unerträglichen Schmerzen ebbten langsam ab und ich gewann die Überzeugung, dass ich dieses Mal nicht das Bewusstsein verlieren würde.
Obwohl ich durch das kleine Fenster nicht mehr als ein Stückchen Himmel ausmachen konnte, war an der Lichtfarbe der Sonnenstrahlen zu erkennen, dass es Abend war. Ich wusste, dass sie mich bald holen und für die Nacht in meiner Zelle einschließen würden, weil sie das jeden Tag taten; für heute waren meine Torturen überstanden. Durch die Tatsache, dass ihre Bemühungen, sich mit mir zu unterhalten halbherzig blieben, war mir schnell klar geworden, dass es ihnen nicht darum ging, zu erfahren was ich wusste. Es schien ihnen nur um Rache zu gehen. Rache dafür, dass unsere Armee sie gezwungen hatte, in die Berge zu flüchten und Rache dafür, dass eine Spezialeinheit ihren ideologischen Anführer zur Strecke gebracht hatte.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon hier war, doch es war mehr als ein paar Wochen, vielleicht Monate, vielleicht auch schon länger als ein Jahr. Alles was mich noch davon abhielt wahnsinnig zu werden, waren meine Gedanken und Erinnerungen, in die ich mich immer wieder flüchten konnte. Doch langsam aber sicher hatte ich das Gefühl, dass auch dieser letzte Rückzugsort für meinen Verstand bröckelig wurde und ich fragte mich, was mit mir passieren würde, wenn er wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Bevor ich weiter darüber grübeln konnte, dachte ich rasch an Pepito, das Kätzchen aus meiner Kindheit. Ich hatte viel Zeit mit ihm verbracht und es war kurz vor dem elften September gewesen, als Pepito, mein erster wahrer Freund, als altersschwacher Kater friedlich eingeschlafen war. Und das Leben war irgendwie weitergegangen, weil es das immer tat, ganz egal was geschah. So lange wir da waren, machten wir uns vor, dass wir eine Rolle spielten, ganz so als hätte sich die Welt mit unserer Geburt zu drehen begonnen und wir hegten den Gedanken, dass sie das nur für uns tat, ganz so, als würde sie im selben Moment sterben, in dem wir es taten. Doch insgeheim wussten wir, dass jeder früher oder später den Löffel abgeben musste, dass es unvermeidlich war. Trotzdem gingen wir jeden Tag auf die Straße, machten unsere Einkäufe und taten so, als würde alles weitergehen, vergeudeten unsere Lebenszeit damit, vor der Glotze zu sitzen und uns verblödete Gameshows anzusehen, bis irgendwas unsere Welt erschütterte und uns aufweckte.
Für mich war dieses Erlebnis gewesen, mitanzusehen wie unzählige Tonnen Beton und Stahl auf die Straßen von Manhattan prasselten, zu sehen, wie ein Wahrzeichen der Stadt zu Staub zerfiel und tausende Menschen dabei umkamen. Natürlich wusste ich, dass jede Woche viel mehr Leute im Krieg oder an Hunger und Krankheiten starben, doch eine solche Katastrophe vor der eigenen Türschwelle zu erleben war mir auf eine ganz andere Art unter die Haut gegangen und ich war überzeugt, dass ich damit nicht alleine gewesen war. Und dieses Gefühl der Erschütterung war auch der Grund, wieso man allen die Frage stellen konnte: „Wo warst du?“
Dieser Tag hatte uns geformt und wie wir damit umgingen war zu einem Teil unserer kollektiven Identität geworden. Ich, der nichts mehr hatte, das ihn zurückhielt, war in den Krieg gezogen. Alles andere war mir damals so surreal, so unbedeutend vorgekommen, dass ich mir sicher gewesen war, das Richtige zu tun.

Ich fragte mich, wieso sie mich noch nicht abgeholt hatten, normalerweise wäre ich längst wieder in meine Zelle gebracht worden. Irgendwas stimme nicht und auch wenn ich keine Ahnung hatte, um was es dabei ging, wurde ich unruhig. Vielleicht war es endlich so weit, vielleicht würden sie mich heute hinrichten. Ich hatte lange gebraucht, um mich damit abfinden zu können, mich auf diesen Tag vorzubereiten und ich hatte irgendwann geglaubt, ich hätte meinen Frieden damit geschlossen. Doch nun, da es soweit sein könnte, hatte ich trotzdem Angst.
Rasch versuchte ich mich abzulenken, dachte an mein altes Leben zurück. Zuerst fiel mir wieder Pepito ein, dann wanderten meine Gedanken zu dem kleinen Plüsch-Pinguin namens Tux, der auf meinem Computerbildschirm gesessen hatte. Er war zu meinem Gesprächspartner geworden, dem ich all meine Träume, Sorgen und Geheimnisse erzählt hatte, wann immer mir danach gewesen war. Dass ich dabei wohl etwas verrückt gewirkt haben musste, hatte mich nie groß gekümmert. Wer führte schon keine Selbstgespräche? Außerdem war der kleine Tux war ein genauso guter Zuhörer, wie es jeder andere imaginäre Freund sein könnte. Als ich auf der Rekrutierungsseite der Army gewesen war, überkam mich das gruselige Gefühl, dass Tux mich vorwurfsvoll anstarrte. In seinen schwarzen Knopfaugen konnte ich den schockierten Ausdruck einer Mutter erkennen, deren Sohn in den Krieg ziehen wollte und obwohl ich mir das nur eingebildet hatte, war ein kalter Schauer meinen Rücken hinuntergekrochen.
Möglicherweise war ich im Unrecht gewesen, doch wann man wo war konnte so rasch darüber entscheiden, was man als nächstes tat. Es konnte Leben beenden und verändern, selbst wenn es purer Zufall war. Vielleicht sollte die Frage gar nicht lauten, wo jemand am elften September gewesen war, sondern von was er geformt worden war. Doch ich glaubte, dass es keine Rolle spielte was man fragte, die Leute verstanden so oder so, was die eigentliche Bedeutung dieser Frage war. Durstig und erschöpft ließ ich den Kopf hängen und fiel, ohne es zu merken, in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Das Hämmern in meinem Kopf war unerträglich und langsam schlug ich die Augen auf. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bevor ich begriff was vor sich ging. Draußen war es dunkel, also musste ich in der Nacht aufgewacht sein. Während ich klarer wurde, realisierte ich, dass das Geräusch, das ich hörte nicht meine Kopfschmerzen, sondern Maschinengewehrfeuer war. Sie musste gekommen sein, um mich zu retten! Unter den Kampflärm mischte sich das Knattern von Rotoren, nach Jahren im Militär konnte ich einen Black Hawk von jedem anderen Helikopter unterscheiden. Es waren tatsächlich meine Leute! Ich vergaß in der Aufregung des Moments meinen Durst und meine Schwäche und begann mir in neu gefundener Hoffnung auszumalen, wie mein Leben nun weitergehen könnte. Mir fielen alle grauenhaften Erlebnisse wieder ein, ich dachte an jedes einzelne von ihnen und mir dämmerte, dass es nicht so einfach werden würde. Schlaflose Nächte, Albträume, das Zittern … Nein, befahl ich mir stumm, eines nach dem anderen!
Wahrscheinlich hätte ich meinen inneren Kampf weitergeführt, wenn ich nicht laute Schritte aus dem Gang vernommen hätte. Ich hatte keine Ahnung, ob gleich ein Trupp Soldaten die Tür aufreißen und mich retten würde oder ob meine Peiniger zurückkehrten, um ihren Job zu Ende zu bringen. Und während ich auf das Unausweichliche wartete, von dem ich noch nicht wusste, was es sein würde, fragte ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich am Morgen des elften September 2001 nicht Einkaufen gewesen wäre.

Autorin: Sarah
Setting: Folterkammer
Clues: Kätzchen, Löffel, Dänische Remoulade, Fußnagel, Pinguin
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Petra Arentzen. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Wo warst du?“

  1. Wichtig ist nicht wo wir waren und ob wir uns erinnern. Wichtig ist, das wir beginnen zu verstehen das wir an diesem Tag begonnen wurden für einen neuen Krieg manipuliert zu werden und diese Geschichte dauer noch immer an. Für jeden Krieg, welchen die USA seit 1945 begannen, nutzten sie im Vorfeld Lügen um den Waffengang als „alternativlos“ darzustellen. Es ist Zeit, sich über die wirklichen Hintergründe des 11. September zu informieren, am besten fangen wir an mit WTC 7 und dem BBC-Bericht dazu, welcher 20 Minuten auf Sendung ging, bevor eigentlich das Ereignis eintraf und wie das alles im offiziellen Regierungsreport erklärt wird. Das kann erhellend sein. Und seit dem Verschwinden der MH-Maschine wissen wir auch das es möglich ist, Flugzeuge spurlos verschwinden zu lassen. Und seither, beim Anblick der Videos vom Pentagon an 911, frage ich mich, ob es wirklich ein Jumobjet war, welcher da in diesem Gebäude einschlug oder nicht einfach nur ein Marschflugkörper. Vielleicht sind meine Gedanken fehlgeleitet, aber vielleicht stimmt auch die offzielle Version nicht. Bevor man sich hier einer bestimmten Version blind anschließt ist es besser kritisch zu sein, nachzufragen und das eigene Gehirn zu nutzen. Viele Dinge zeigen sich dann anders wie sie auf den ersten Blick schienen.

    1. Lieber Andreas,
      Mir persönlich ging es jetzt mit dem Text nicht darum, eine politische Aussage zu machen, sondern die Motivation, Gedanken, Assoziationen und Erlebnisse einer Figur zu erzählen. Darum freut es mich natürlich sehr, mit dieser Story gleich eine politische Diskussion anzuregen :)

      Liebe Grüsse,
      Sarah

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