Weihnachts-Special | Das NOVA-Signal – Ein postapokalyptisches Weihnachtsmärchen

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der alte Wohnwagen vom Typ „Mule“ rumpelte über die von unzähligen Schlaglöchern gespickte Landstraße in New Jersey. Ich mochte diese öde und deprimierende Gegend nicht besonders, doch wo gab es heutzutage noch schöne Orte, fragte ich mich während ich das Gefährt, das schon bessere Zeiten gesehen hatte durch die Einöde lenkte. Ein kurzer Blick auf den Chronometer am Armaturenbrett verriet mir, dass die Zeit wirklich langsamer abzulaufen schien, wenn man sich langweilte: Es war noch immer der 23. Dezember 2412 und die Minuten schienen nur schleppend zu vergehen. Die Luft war trocken und es war sicher fünfzehn Grad warm, also einigermaßen normale Wetterbedingungen für die Weihnachtszeit in dieser Gegend. Mein treuer Mule schaukelte heftig, als ich über einen Stein fuhr, den ich durch die verschmutzte Windschutzscheibe nicht gesehen hatte und ich stieß einen derben Fluch aus. Gerade, als ich mich wieder in den Dämmerzustand der Langeweile versinken lassen wollte, erkannte ich vor mir auf der Straße zwei Gestalten, die langsam durch den Staub schritten und unhandliche Rollkoffer hinter sich herzogen. Ich bremste den Wohnwagen etwas ab, denn der Weg war schmal und ich wollte die Reisenden nicht überfahren.
Nach wenigen Augenblicken konnte ich sehen, dass es ein Mann und eine hochschwangere Frau waren, die in dieselbe Richtung unterwegs zu sein schienen wie ich. Während ich ihnen hinterherfuhr, zögerte ich kurz – sollte ich sie mitnehmen? Sie sahen erschöpft aus von dem vermutlich langen Fußmarsch, andererseits könnten sie mich trotzdem überfallen, in dieser Gegend sollte man immer vorsichtig sein. Schließlich siegte das Mitleid doch und ich gab mir einen Ruck. Hupend hielt ich neben ihnen an, öffnete das Fenster und rief: „Hallo, wohin geht die Reise?“
„Bethelton“, entgegnete der Mann müde. „Können Sie uns ein Stück mitnehmen?“
„Klar, ist auch mein Ziel“, sagte ich und schaute rasch nach, ob der Beifahrersitz und die Bank dahinter einigermaßen ordentlich waren, dann öffnete ich die Tür. Während das Paar hereinkletterte, sagte der Mann: „Vielen Dank, es ist ein ziemlich weiter Weg. Ich bin übrigens John und das ist Mary.“
„Keine Ursache“, entgegnete ich. „Mein Name ist Asino.“

Die Dämmerung war über die eintönige Landschaft hereingebrochen und ich fuhr den Wohnwagen weiter über die Ladstraße, Kilometer für Kilometer. Mary hatte sich etwas hingelegt und schnarchte leise und ich fragte mich, weshalb die hochschwangere Frau unbedingt in diesem Zustand reisen musste. John saß neben mir und starrte stumm in den nur durch die Scheinwerfer erhellten Abend. Bisher hatten wir nicht besonders viele Worte gewechselt, doch langsam wurde mir die Stille zu langweilig und so fragte ich schließlich: „Warum müsst ihr denn nach Bethelton?“
John schien erschrocken und antwortete mir etwas verzögert: „Wir müssen zum jährlichen Test dorthin. Offenbar kann man den nicht einmal verschieben, wenn die Frau im neunten Monat ist.“
„Ja, die Zentralregierung versteht damit keinen Spaß“, entgegnete ich und versuchte dabei mitfühlend zu klingen. Seit vor mehreren hundert Jahren der mutierte Virus ausgebrochen war, hatte sich die Welt dramatisch verändert. Es hatte nicht lange gedauert, bis jeder Mensch infiziert gewesen war und obwohl man meistens einigermaßen gut damit leben konnte, musste man doch rasch handeln, wenn sich die Virenwerte verschlechterten. Und das Einzige, was die Regierung unternehmen konnte, waren die jährlichen Tests, welche die ganze Bevölkerung über sich ergehen zu lassen hatte und dazu musste jeder in die nächste Stadt reisen. Ich fragte mich aber trotzdem, wie sich die Leute aus der Administration das vorstellten, dass sie eine Frau kurz vor der Geburt ihres Kindes den ganzen beschwerlichen Weg nach Bethelton machen ließen und so fügte ich hinzu: „Ich hoffe, ihr seid rechtzeitig wieder zu Hause.“
„Danke“, erwiderte John und ich bot ihm schweigend einen Sojariegel an. Er schüttelte den Kopf und so biss ich herzhaft in meinen und lauschte kurz den Klängen aus dem Audioplayer des Mule, bevor ich fragte: „Und, freust du dich darauf, Vater zu werden?“
„Sieh dir diese Welt an“, murmelte John. „Alle sind krank, ohne Aussicht auf Heilung. Es hat überall Menschen, viel zu viele Menschen, und kaum genug Nahrung oder sauberes Wasser. Ich weiß nicht, ob es eine gute Sache ist, ein Kind in diese Welt zu stellen.“ Er zögerte kurz und fügte dann etwas leiser hinzu: „Außerdem bin ich nicht der Vater.“
Ich nickte zögerlich, denn ich war mir sicher, dass die beiden ein Paar waren. Dieser John musste ein sehr nobler Mensch sein, dass er trotz allem zu seiner Frau stand. Ich erkannte etwas in seinem Blick, das ich als Zweifel gedeutet hätte, versuchte mir das aber nicht anmerken zu lassen. Unsere kurze Unterhaltung ebbte schnell ab und als uns keine unverfänglichen Themen mehr einfallen wollten, kehrten wir zum Schweigen zurück, bis John eindöste und ich wieder in Einsamkeit auf die in Dunkelheit getauchte Straße starrte.

„Herzlich willkommen in Bethelton“, sagte ich in einem Tonfall, der selbst mir etwas zu sarkastisch erschein, während wir dem hohen Stacheldrahtzaun entlangfuhren und ich den Wohnwagen auf das Stadttor zu lenkte. Das rostige Ortsschild hing schief und war dermaßen abgeschossen, dass man die weiße Schrift darauf kaum noch lesen konnte. Bethelton war wie alle bewohnbaren Städte hoffnungslos überfüllt und bot für seine Bewohner kaum genügend Platz, um sich frei bewegen zu können. Reisende, Nomaden und die jährlichen Ströme von Zivilisten brachten das Fass nun endgültig zum Überlaufen, sodass die einst schöne Stadt mit ihrer jahrhundertealten Architektur einem lauten, stinkenden Hexenkessel glich. Die meisten waren hier, um sich im „Center Of Medical Evaluation And Testing“, dem COMET, testen zu lassen und würden bald darauf wieder verschwinden, doch selbst das würde die einstige Schönheit der Metropole nicht wieder aufblühen lassen. Dort wo nun Wellblechhütte an Wellblechhütte grenzte und sich überlaufende Müllbeutel stapelten, schien damals eine hübsche Parkanlage mit frischem Gras gelockt zu haben, überlegte ich, als ich einem ausgemergelten Jungen zusah, der einer alten Henne nachjagte. Mein, nun ja, nennen wir es mal „Beruf“, hat mich schon oft in die Stadtzentren unserer Zeit geführt, daran gewöhnt habe ich mich trotzdem nicht und jedes Mal, wenn ich durch die verschmierte Windschutzscheibe in die schmalen Gassen blickte, fragte ich mich, wie es wohl vorher gewesen sein mochte – vorher, als wir noch nicht alle verdammt gewesen waren.
Mary war in der Zwischenzeit von dem Geruckel und dem Geschrei auf der Straße geweckt worden, schien jedoch noch immer in einem erschöpften Dämmerzustand zu verweilen und bedeckte ihre blutunterlaufenen Augen mit zitternden Händen. „Wir sind bald da“, versuchte John beruhigend auf sie einzureden und ich konnte im Rückspiegel sehen, wie er ihr liebevoll eine verschwitze Strähne ihres dunklen Haars hinter ihr Ohr strich. Der gute Mann machte sich wirklich Sorgen um seine hochschwangere Frau und so langsam ging es selbst mir nicht anders, wenn ich in das von der Reise ausgelaugte Gesicht blickte, also trat ich etwas kräftiger aufs Pedal, um sie möglichst schnell in ein richtiges Bett bringen zu können. Ich erinnerte mich noch an einige Herbergen, die ich von meiner letzten Reise nach Bethelton kannte und plante sie alle abzuklappern. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst sein sollte, hatte ich kaum Hoffnung, dass wir ohne Reservierung einen freien Platz finden würden – diesen Gedanken würde ich aber vorerst für mich behalten.

John kam mit gesenktem Haupt zurück und sah mich hilflos an, als er seinen Beutel auf den Rücksitz warf und sagte: „Wieder kein Glück.“ Ohne zu diskutieren drehte ich den Schlüssel in der Zündung und begann den Wagen in der schmalen Einfahrt zu wenden. „Weiter im Osten gibt es noch einige Häuser“, begann John, der sich neben mich gesetzt hatte und sichtlich angespannt auf seiner Unterlippe kaute. Ich konnte trotz dem beißenden Gestank nach verbranntem Plastik, der von der Straße durch die offenen Fenster ins Innere drang, förmlich riechen wie unangenehm es ihm war, auf meine Hilfe zu angewiesen zu sein und unter anderen Umständen wären die beiden sicherlich zu Fuß weitergegangen. Ich konnte ihn verstehen; sich auf die Freundlichkeit Fremder zu verlassen war in dieser Welt keine gute Idee und ich war mir nicht sicher, ob es das jemals gewesen war.

Als ich noch klein gewesen war, hatte ich die Geschichten gerne gehört, die mir meine Mutter abends vor dem Küchenfeuer vorgelesen hatte. Ich hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt und es war mir leicht gefallen, mich in eine Zeit zurückzuversetzen, in der die Menschen zum Spaß rannten und reisten und sich den Luxus der Einsamkeit leisten konnten, bis sie schließlich jeden Aufwand in Kauf nahmen, um sich einander näher zu fühlen, ohne je das klimatisierte Haus verlassen zu müssen. Doch als ich älter wurde, zog mich meine Neugier weiter in den Lauf unserer Geschichte und meine unschuldige Sicht auf unsere Vorfahren wich blanker Wut. So sehr ich die Errungenschaften der antiken Menschen auch bewunderte, sie waren es, die beinahe unser Verderben besiegelt hatten. Wenn ich mich richtig entsinne, war es im Jahr 2028 gewesen, als das mutierte HI-Virus zum ersten Mal bei einem Zivilisten entdeckt worden war und da es sich von nun an über Tröpfcheninfektion und später gar über die Luft verbreiten konnte, war es zu spät gewesen, um es noch aufhalten zu können. Danach war gekommen, was hatte kommen müssen: Krieg, Zerstörung, Armut und eine noch nie dagewesene Bevölkerungsexplosion, die schlussendlich beinahe jede autonome Regierung in den Ruin gestürzt hatte.

Die Kupplung ächzte und verhakte sich kurz, als ich mich erneut in den zähfließenden Verkehr einreihte und hinter einem uralten, staubigen Ford gleich wieder zum Stehen kam. „Das könnte noch ein Weilchen dauern“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu John, der stoisch auf die verstopfte Straße vor uns blickte und beinahe ebenso abgekämpft wirkte wie Mary.
Mein implantiertes Cell-Com surrte kurz auf und ließ mich wissen, dass sich die Anzahl der HI-Viren in meinem Blut seit gestern nicht verändert hatte, also tastete ich fahrig auf meinem Arm herum, bis ich das Klicken fühlen konnte, dass den Alarm abstellte. Diese neuen Coms waren wirklich praktischer, dachte ich mir, was mich an das uralte Testgerät meines Großvaters erinnerte. Früher war das alles viel komplizierter und man hatte sich jeden Tag mit einer Kanüle Blut entnehmen müssen, was zur Verbreitung anderer Krankheiten beigetragen hatte, da sich kaum eine Familie mehr als eine Testkanüle hatte leisten können. Doch dank dem Fortschritt der Technologie würde es bald keine Hepatitis- oder Minerva-Kranken mehr geben, doch die Seuche, die unsere einst so glorreiche Zivilisation und unser aller Leben ins Unheil gestürzt hatte, konnte sich dennoch bis heute ungehindert verbreiten.
John war auf dem Beifahrersitz wieder eingenickt und hatte den rasanten Schlenker nicht bemerkt, als ich in die sandige Kiesstraße zur letzten Herberge einbog. Ich zog leise den Schlüssel ab und ließ die Tür offen stehen, bevor ich auf die alte Dame zutrottete, die mit verschränkten Armen auf einem Korbstuhl saß und schon den Kopf schüttelte, bevor ich sie nach einem Zimmer fragen konnte. Normalerweise wäre ich einfach weitergefahren, doch ich war müde, mehr als sonst, und mein ganzer Körper klebte vom Schweiß, also ließ ich nicht locker und trat noch einen Schritt auf sie zu, bevor ich sagte: „Bitte, sie müssen doch irgendwas für uns haben.“ Die gute Dame verneinte kaltschnäuzig und wollte sich schon abwenden und in die warme Stube verschwinden, als mir einfiel zu erwähnen, dass wir eine hochschwangere Frau bei uns haben. Widerwillig ließ sie sich erweichen und deutete mit einer hastigen Geste zu einem Wellblechschuppen, welcher zwischen zwei maroden Gebäuden, wahrscheinlich früheren Bürokomplexen, errichtet worden war. „Wenn es euch nichts ausmacht“, begann sie mit ihrer krächzenden Raucherstimme, „könnt ihr im Schuppen übernachten.“ Ich bedankte mich mit aller Überschwänglichkeit, die meine Übermüdung noch zuließ und versprach ihr, dass wir gleich nach dem Test abreisen würden.

Ich stand vor der Tür des schäbigen Schuppens mit dem löchrigen Wellblechdach, beobachtete das Treiben auf der nächtlichen Straße und versuchte möglichst unauffällig, die lose Tür so zuzuhalten, dass Marys Schreie nicht zu weit gehört wurden. Auch wenn in Bethelton die Leute so nahe aufeinander lebten, dass sie nie wirklich Ruhe hatten, so fand ich doch, dass die beiden Reisenden zumindest in dieser Situation ein wenig Privatsphäre verdient hätten. Es hatte ihnen nicht mehr gereicht, nach New Jersey zurückzukehren und nun gebar Mary ihr Kind in dieser lottrigen Bruchbude inmitten des Großstadttrubels. Ich beobachtete, wie sich zwei Jugendliche um ein Bier zankten und dabei beinahe handgreiflich wurden, als mir auffiel, dass ich Mary schon lange nicht mehr schreien gehört hatte. Ich hätte gerne nachgefragt, ob bei der Geburt alles gut lief und ob ich etwas für die beiden hätte tun können, doch mein Körper weigerte sich, sich der blutigen Szene freiwillig zuzuwenden und so entschied ich mich, das Paar in diesem Augenblick nicht zu stören.
Die Tür hinter mir wurde plötzlich aufgemacht und ich fuhr erschrocken herum. John wirkte hundemüde und verheult, doch trotz allem glücklich, als er erklärte: „Unser Kind ist zur Welt gekommen.“
Ich gratulierte ihm herzlich und erkundigte mich dann, nach mehreren Umarmungen und Freudentränen seitens Johns, nach dem Namen des Neugeborenen.
„Er heißt Jesse“, entgegnete John und fragte dann: „Willst du ihn sehen?“
Ich nickte und folgte John ins Innere. Mary lag, das Neugeborene haltend, in einer mit etwas Stroh ausgelegten Badewanne aus Emaille und war sichtlich überglücklich, wenn auch noch erschöpfter als zuvor. Etwas unsicher blieb ich nicht allzu nahe stehen und murmelte dann unbeholfen: „Herzliche Glückwünsche.“
John musste etwas grinsen, offenbar hatte er längst begriffen, dass ich nicht der typische Familienmensch war und schien es mir nicht übel zu nehmen, dass ich mich noch nicht auf das Kleinkind gestürzt hatte, um es zu knuddeln. Doch etwas Sinnvolles konnte ich zu der ganzen Sachte trotzdem beitragen, auch wenn es etwas war, das die wundervolle Stimmung etwas dämpfen würde, jemand musste es sagen. „Ihr solltet Jesse gleich testen“, murmelte ich, wohl wissend, wie entscheidend das Ergebnis war. Wäre die Virenkonzentration zu hoch und das Kind nicht überlebensfähig, würde die Regierung es euthanasieren lassen. John nickte bedrückt und kramte sein altes Cell-Com aus der Jackentasche. Ich bereute es etwas, diesen Vorschlag in einem glücklichen Moment wie diesem gemacht zu haben, doch würde das Kind sterben müssen, so wäre es besser, das Paar würde es früh wissen, bevor die Bindung noch stärker wurde. Befangen und angespannt hielt John sein Com an den Hals von Jesse und tippte den Befehl zum Scannen der Gesundheitswerte. Nach wenigen Sekunden piepste das Gerät und John drehte es so, dass auch Mary auf das Display sehen konnte. Verwirrt fragte sie: „Was heißt NOVA?“
Ich erstarrte – nein, das konnte nicht sein! Wie die meisten Reisenden kannte ich die Legenden und Gerüchte, doch das musste einfach ein Lesefehler sein. „Es heißt ‚Note Of Viral Anomaly‘“, flüsterte ich so leise, dass mich die beiden gerade noch so hören konnten, bevor ich erstickt hinzufügte: „Es bedeutet, dass Jesse nicht infiziert ist.“
„Bist du dir sicher?“, fragte John mit Unglauben und unterdrückter Freude in seiner Stimme, vermutlich weil er Mary keine zu hohen Hoffnungen machen wollte. „Wie soll so etwas möglich sein?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich. „Wahrscheinlich ist es nur ein Lesefehler vom Com.“ Ich überlegte einige Minuten, ob ich weiterreden sollte, oder ob ich den beiden den Schmerz ersparen sollte, denn sie fühlen würden, wenn ich falsch lag. Doch währendem ich den frischen Eltern dabei zusah, wie sie verwirrt und doch so voller Hoffnung den Test immer und immer wieder durchführen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. „Vielleicht ist er der Auserwählte.“
John und Mary starrten entgeistert auf das Display und ich begriff langsam, dass bereits eine ganze Ereigniskette ins Rollen gebracht worden war. Wie jedes Testresultat wurde auch dieses in Echtzeit ans COMET gesendet und mittlerweile mussten in deren als Hexagramm bekannten Hauptsitz längst alle Alarmglocken schrillen. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sich hochrangige Stellen für dieses Kind interessieren würden.

Ich fuhr zusammen, als ich das zaghafte Klopfen vernahm und wusste erst nicht so recht, ob ich die Tür nun öffnen oder verbarrikadieren sollte. „Wer ist da?“, rief ich, bemüht darum meine Worte resolut klingen zu lassen, währendem ich fragend zu John blickte, der mich jedoch nicht zu bemerken schien. Eine leise Frauenstimme antwortete mir und als ich die Tür einen Spalt weit öffnete, sahen mich fünf weit geöffnete Augenpaare erwartungsvoll an. „Wir sind hier um das Kind zu sehen“, erklärte die älteste der Frauen und drängelte sich mit erstaunlicher Kraft ins Innere der Hütte, was nun auch endlich Johns Aufmerksamkeit zu wecken schien. Instinktiv stellte er sich zwischen die unerwarteten Eindringlinge und sein Neugeborenes, das nun friedlich auf Marys Brust lag und mit ihren verklebten Haaren spielte.
„Wer seid ihr?“, verlangte er mit fester Stimme und aufrechter Haltung zu wissen, doch die Neuankömmlinge ließen sich von ihm nicht beeindrucken und währendem die Rednerin sich ihm zuwandte, marschierten die anderen direkt an ihm vorbei zu der Badewanne, um das Kind mit fassungslos freudigen Gesichtern und unterdrückten Jubelschreien zu bewundern. „Wir sind Kindergärtnerinnen und wohnen hier in der Nähe“, begann sie schließlich zu erklären und ergriff Johns Hände. „Ich habe zufälligerweise auf meinem Cell-Com das NOVA-Signal empfangen und wir kommen, um den Erlöser zu sehen.“
„Erlöser…“, wiederholte John leise und trat abwesend zur Seite, um der Kinderhirtin Platz zu machen, die gerührt eine Träne vergoss. Zitternd hielt sie sich die Hände vor ihren Mund und schüttelte einige Male ungläubig den Kopf, bevor sie den perplexen John stürmisch umarmte und dann vor dem improvisierten Kindsbett auf die Knie fiel.
Zuerst hatte ich mich zurückhalten wollen, schließlich wollte ich in Gegenwart der betenden und von Euphorie berauschten Frauen und der neuen Eltern nicht taktlos erscheinen, doch irgendwann wurde mein Hunger einfach zu groß. Ich kaute gerade auf dem letzten Stück Sojabrot mit Linsenpüree herum, als sich ein strohblonder Schopf in mein Sichtfeld schob und sich eine der Kindergärtnerinnen strahlend vor mich hinsetzte. „Es ist ein Wunder“, sprach sie verzückt und hauchte mir einen unverhofften Kuss auf die Stirn, so dass ich mich verschluckte und zu Husten begann. „Ein Wunder!“, jauchzte sie und noch bevor ich hätte reagieren können, sprang sie auf, drehte sich berauscht im Kreis und kramte dann in ihrer Rocktasche nach ihrem Com. „Jeder soll von der frohen Kunde erfahren.“
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis alle aufgeregt durcheinandersprachen, auf ihren Coms herumtippten und ihre Freunde und Familien davon zu überzeugen versuchten, dass der Messias das Licht der Welt erblickt hatte, die zu retten er gesandt wurde.
John hatte sich inzwischen wieder neben Mary gesetzt, deren Züge nun entspannt wirkten. Die beiden bemerkten mich nicht, sie nahmen vermutlich nicht einmal den Trubel wahr, den ihr Sohn ausgelöst hatte und schienen einfach nur überglücklich zu sein. Ich beobachtete diese friedliche Szene kurz, bevor ich mich aufraffte, um meinen Rucksack zu holen und noch ein zweites Sandwich zu essen.

Gerade, als ich gedacht hatte, diese Nacht wäre überstanden und etwas Ruhe würde einkehren, klopfte es erneut an der Tür. John erhob sich von Marys Seite und marschierte durch den schäbigen Raum, um sie zu öffnen. Diesmal standen drei Leute in weißen Kitteln da, die große Taschen trugen und kurz ehrerbietig schwiegen, bevor einer fragte: „Ist das Kind hier?“ In seiner Stimme lag keine Spur von drohendem Ungemach sondern nur der Ton aufrichtiger Ehrfurcht. John bejahte und die Fremde erklärte: „Wir sind Ärzte vom COMET, ich bin Caprice und das sind Malcom und Balto.“
John stellte sich, Mary und mich ebenfalls kurz vor, bevor er sich noch immer etwas überwältigt erkundigte: „Wie seid ihr so rasch hierhergekommen?“
„Wir waren gerade auf einem Einsatz in der Nähe“, begann Balto, „als wir einen Anruf aus dem Hexagramm erhielten, dass ein virenfreies Kind geboren worden sei. Wir sind sofort zum nächsten Regierungsgebäude gegangen, um herauszufinden, von wo das NOVA-Signal kam und haben uns dann gleich auf den Weg hierher gemacht.“
„Dürfen wir das Kind sehen?“, fragte Malcom erneut und John, der offenbar nicht auf den ganzen Rummel vorbereitet war, nickte. Langsam, beinahe gerührt schritten die Ärzte durch den Schuppen zu der Badewanne, in der Mary lag und den friedlich schlafenden Jesse hielt. „Ich habe gewusst, dass du etwas Besonderes bist“, hauchte die junge Mutter ihrem Kind zu, gerade noch laut genug, dass ich es hören konnte. Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete, wollte den besonderen Moment nicht stören. Caprice, die als erste bei dem unscheinbaren Kind anlangte, wandte sich an Balto und fragte: „Reich mir bitte das AllStar?“
Der andere Arzt nickte und kramte umständlich das Testgerät aus seiner Tasche, bevor er es der Kollegin reichte. Caprice wandte sich an Mary und fragte schon fast feierlich: „Darf ich?“
„Bitte“, entgegnete sie, die nicht eine Sekunde daran zu zweifeln schien, dass der kleine Jesse tatsächlich virenfrei war. Die Ärztin hielt das professionelle Testgerät an den Hals des Kindes und ließ es scannen – ich hatte das Gefühl, dass die Spannung im Raum ins Unerträgliche stieg und hätte am liebsten auf der Stelle eine Zigarette angezündet. Plötzlich leuchtete das Gerät hell auf und Balto rief schrill: „Es… Es stimmt, das Kind ist virenfrei!“
Das andachtsvolle Schweigen im Schuppen war so mächtig wie noch kein Gefühl, das ich je erlebt hatte. Wir alle begriffen, was dies für die Menschheit bedeuten mochte – dieses Kind war immun, war resistent und eine Heilung war zum Greifen nahe! Langsam und etwas widerwillig begann nun selbst ich, der nie an Wunder geglaubt hatte, zu verstehen, dass Jesse tatsächlich unser Erlöser sein könnte, unsere Chance auf einen Neuanfang.
Malcom unterbrach das Schweigen und erklärte: „Wir haben euch einige wertvolle Gaben für den Erlöser mitgebracht.“ John wollte erst ablehnen, ließ sich dann jedoch überzeugen, die Geschenke anzunehmen und so legten die drei Ärzte einen Kanister Erdöl, eine Flasche reines Quellwasser und ein Pfund echtes, frisches Fleisch neben die Badewanne. Ich wusste, dass jede einzelne der Gaben mehr Wert war als das Haus, in dem sie überreicht wurden und begriff, dass ich schlichter Reisender zweifellos Zeuge eines überragenden Moments wurde.

John weckte mich unvermittelt mitten in der Nacht. Er sah furchtbar aus, so als hätte er eben einen Geist gesehen und er zitterte am ganzen Körper vor lauter Aufregung. „Asino, bist du wach?“, flüsterte er panisch und hörte erst dann damit auf, mich zu schütteln, als ich laut und deutlich antwortete: „Ja, verflucht nochmal, ja!“ Endlich ließ er von mir ab, wollte sich jedoch nicht beruhigen lassen und begann sofort damit, auf mich einzureden, wobei er dermaßen durcheinander schien, dass ich keine Chance hatte zu verstehen, was er mir eigentlich hatte sagen wollen. Ich hätte beinahe das Baby und Mary aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen, als ich Johns ausgefranstes Hemd packte und ihn mit etwas zu viel Wucht gegen ein aus Ziegelsteinen und alten Brettern gezimmertes Regal stieß, um seinem wirren Gerede ein Ende zu setzen. „Jetzt beruhige dich, Mann! Sag mir was passiert ist, aber…“, fauchte ich ihn an, währendem ich ihn am Kragen hielt und ihm mit stechendem Blick in die Augen sah, bevor ich fortfuhr: „…eins nach dem anderen.“

Ich hatte seit mindestens fünfzehn Jahren keine Zigarette mehr angerührt, in dieser Nacht jedoch hatte ich gerade eben den sechsten Stummel in den löchrigen Metalleimer neben der Plastikbank geworfen. Johns implantiertes Cell-Com hatte zuvor, als er noch selig neben seiner Frau und seinem Erstgeborenen geschlummert hatte, ein Störsignal empfangen. Nun, zumindest hatte er erst angenommen, dass es sich um eines der Interferenzsignale gehandelt hatte, die ab und an vorkamen, wenn das Gehirn sich in der REM Phase befand, doch diese bestanden stets aus leisem Rauschen und nicht aus zusammenhängenden Sätzen.
„Und du bist dir sicher?“, wollte ich noch einmal wissen und wartete Johns Nicken ab, bevor ich mit meinen Handflächen auf die Oberschenkel klopfte und mich erhob. „Na dann, gehen wir.“
John ließ den Cricket-Schläger, mit dem er nervös auf dem losen Erdboden des Schuppens herumgestochert hatte, fallen und starrte mich perplex an. „Wie meinst du das?“
„Wings hat es doch mehr als deutlich genug gesagt“, sagte ich betont beiläufig, um John nicht weiter aufzuregen, währendem ich meine wenigen Habseligkeiten vom Boden aufsammelte. „Ihr könnt hier nicht bleiben und so wie ich das sehe, bin ich momentan der Einzige, der euch in Sicherheit bringen kann“, erklärte ich und hielt danach in meinen immer hektischer werdenden Bewegungen inne, um für eine kurze Weile die schlafende Mutter und ihr Kind zu betrachten. Wehmütig und übermüdet schloss ich meine Augen und befahl John dann kühl, die beiden zu wecken – zu gerne hätte ich ihnen noch etwas Ruhe gegönnt, aber dafür blieb keine Zeit.

Meine Eltern waren aufrichtige, gute Menschen gewesen und gerade deshalb war ich froh darum, dass sie viel zu früh ihrer Krankheit erlegen waren, denn es hätte ihnen sicher das Herz gebrochen, ihrem Jüngsten dabei zuzusehen, wie er seinen Lebensunterhalt als Gauner bestritt. Wahrscheinlich war es ihre Erziehung, die mich immer wieder dazu trieb mir einzureden, dass ich im Grunde nur Gutes für diejenigen tat, die meine Dienste in Anspruch nahmen, doch ich konnte mir das selbst kaum glauben. Ich saß tagtäglich in der Führerkabine meines klapprigen Wohnwagens und versank in Selbstmitleid darüber, dass ich in einer unwirklichen, kaputten Zeit leben musste, obwohl ich nur dank diesem desolaten Zustand überhaupt meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Wären die Pole nicht geschmolzen und hätte es den sogenannten Unfall mit dem mutierten Virus nicht gegeben, wäre die Bevölkerung nicht schlagartig explodiert, weil jeder so viele Kinder wie möglich hatte, um wenigstens eine kleine Chance auf Sicherheit im Alter zu haben wäre es auch nie zum globalen Krieg gekommen. Ich mag ja behaupten, dass ich diese Tatsachen für tragisch halte, doch ohne den Krieg gäbe es heute keine Zentralregierung und Australien wäre nicht der einzige Flecken auf der Erde, der unabhängig geblieben war und meine Schlepper-Karriere wäre dem Untergang geweiht. Nun, wäre alles anders gewesen, wäre auch ich mit Sicherheit ein anderer, aber ich vermied es, darüber nachzudenken, was für ein Mensch ich hätte sein können – das führte ohnehin nur zu mehr Selbstmitleid, löste in der realen Welt keine Probleme und davon hatten wir, das musste man einsehen, bereits mehr als genug.

Mary hatte ihren Sohn sorgfältig in ihr blaues Tuch gewickelt und saß mit einem leeren Gesichtsausdruck auf der Rückbank. Sie wirkte entkräftet und doch wach und zum Angriff bereit, wie eine Mutter das eben war, wenn ihr Kind in Gefahr war, von der Zentralregierung „begnadigt“ zu werden. Die Gerüchte, dass die staatlich verordnete Euthanasie Neugeborener mit hoher Virenlast nur ein Vorwand war, das Ausmaß der Weltbevölkerung einzudämmen, kannte bereits jedes Kind und kaum jemand glaubte noch, dass es sich dabei nur um eine gutgemeinte Maßnahme zur Verhinderung von Leiden handelte. Doch bisher galt die Theorie, dass das COMET tatsächlich nie daran interessiert gewesen war, ein Gegenmittel für den Virus zu finden, eher als Hirngespinst wirrer Verschwörungstheoretiker und religiöser Fanatiker, welche die medizinische Wissenschaft mit Hexerei gleichsetzen.
„Woher wollen wir überhaupt wissen, dass dieser Wings die Wahrheit sagt?“, fragte Mary schließlich das Offensichtliche, bevor sie unter dem blauen Stoff zu nesteln begann, vermutlich um ihrem Kind die Brust zu geben, und fortfuhr: „Viele dieser Hacker sind sowieso nichts weiter als fanatische Verschwörungstheoretiker.“
Ich wartete einige Sekunden ab um zu sehen, ob John die Frage beantworten würde, doch dieser blickte nur weiter abwesend auf die langsam vorbeiziehenden Wellblechhütten und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.
„Wings ist nicht irgendein Wahnsinniger, der im Keller seiner Eltern vor einem Rechner sitzt, er hat im Hexagramm für COMET gearbeitet“, begann ich geduldig zu erklären und wunderte mich gleichzeitig darüber, dass Mary noch nie vom berühmtesten Whistleblower unserer Zeit gehört hatte. „Wenn er sagt, dass COMET den Messias töten will, dann können wir das Risiko nicht eingehen, hier zu bleiben.“

Das schäbige Ortschild Betheltons und der zerfallene, im Chaos versunkene Ort lag hinter uns und mittlerweile saß John hinter dem Steuer meines treuen Mule, damit ich mich für die lange Fahrt, die noch vor uns lag, bevor wir die Küste erreichen würden, erholen konnte. Marys Zweifel an Wings Warnung waren in der Zwischenzeit verschwunden – Wahrscheinlich hatte der Anblick der bis auf die Zähne bewaffneten Infektionspolizei, die wir am Stadtrand beim Eindringen in ein Wohnhaus gesehen hatten, endgültig überzeugt.
„Ich weiß nicht, wie wir dir jemals danken können“, hörte ich Johns kratzige Stimme neben mir sagen. „Ohne dich…“, holte er aus, doch bevor er seinen Gedanken zu Ende bringen konnte, unterbrach ich ihn: „Schon gut, John.“ Ich ertrug einfach nicht, dass John mir dankte, denn obwohl mein Handeln nobel erschien, war es durch und durch egoistisch.
Ich wusste, dass ich dafür, dass ich diese Familie nicht nur weg von Bethelton übers Festland, sondern mit meinem alten Schmugglerkutter nach Australien bringen würde, öffentlich hingerichtet werden könnte. Außerdem hatte ich nicht die geringste Ahnung, ob dieses Wagnis sich am Ende überhaupt auszahlen würde, doch meine Hoffnung, dass die australische Regierung den einen nicht infizierten Jungen zum Guten nutzen würde und schlussendlich auch ich geheilt werden könnte, war hoch. Mein Blick wanderte zu der Pieta auf dem Rücksitz und Wehmut schlich sich in mein Herz. Ihr Sohn würde wohl nicht überleben, sondern festgeschnallt auf einem Labortisch für das Wohl der Menschheit sterben.

Autorinnen: Rahel und Sarah
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3 Gedanken zu „Weihnachts-Special | Das NOVA-Signal – Ein postapokalyptisches Weihnachtsmärchen“

    1. Hallo werte Frau B. (das sollte dein Superheldenname werden, nur so als Vorschlag ^^) und vielen lieben Dank für das Lob!
      Ich kann ja nicht für Sarah sprechen, aber wann immer ich in den Unweiten meines Ordnersystems über diese Story stolpere (und glaube mir, das passiert dank meinem nicht vorhandenen Orientierungssinn öfter als ich jemals zugeben würde), schwillt meine Brust voller Stolz und ein hartnäckiges Grinsen setzt sich auf meinem Gesicht ab. Denn wenn ich mal die obligatorische Bescheidenheit mal etwas beiseite schiebe, muss ich sagen, dass wir das verdammt gut gemacht haben XD

      Liebe Grüsse und die besten Wünsche an dich
      Rahel

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