Organe kosten nicht so viel, wie man denkt

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Kim sah sich gerne als Gehirn der Operation, immerhin war sie die Chirurgin und als solche stand ihr, wie sie fand, Kevins Respekt zu. Dieser war nämlich, und das sollte man sich nicht schönreden, lediglich Anästhesist, ein überbezahlter Junkie. Leider war Kims Selbstbewusstsein in den letzten Monaten arge ins Wanken gekommen, wobei sie das selbstverständlich nie und nimmer vor ihrem Komplizen zugeben würde. Sei es wie es sei, auf jeden Fall saß die strebsame Frau auf der Gefriertruhe und trank in großen Schlucken ihr aus Japan importiertes Bier.
„Verkackte Scheiße!“, pfiff sie in den Flaschenhals. „Rob ist schon wieder zu spät. Verkackter, verschissener Mist!“
„Deine Flüche sind pleonastisch“, stellte Kevin trocken fest, gönnte sich ein Gläschen seines spritzigen Weißweins und schüttelte den Kopf. Weshalb der Boss unbedingt diese überhebliche hatte anheuern müssen, blieb ihm rätselhaft, bestimmt hätte er jemanden gefunden, der für ein solches Unterfangen besser geeignet wäre.
„Ach ja?!“, brüllte sie ungehalten. „Halts Maul, du nichtsnutziger Pisser!“ Sie hatte die Nase voll von Kevin, nein, der ganzen Situation und konnte es kaum noch erwarten, ihre Schulden abbezahlt zu haben.
„Deine Kritik an mir ist ebenfalls redundant.“ Einige hielten ihn für unterkühlt, selbst seine Mutter unterstellte ihm, er fände wegen seiner Kaltschnäuzigkeit nie eine Frau. Er hingegen war vom Nutzen seiner stoischen Art überzeugt, stets die Ruhe zu bewahren war schließlich keine schlechte Eigenschaft. „Du nörgelst bald drei Monaten ununterbrochen an mir rum.“
„Ich nörgle?!“, ereiferte sie sich, sprang von der Truhe herunter und marschierte auf Kevin zu. Direkt vor ihm stehend wurde einmal mehr klar, wie viel kleiner der Anästhesist war, geradezu zwergenhaft kam er ihr vor. „Meine Unzufriedenheit mit deinen ständigen blöden Sprüchen ist ja wohl nachvollziehbar.“
„Ich behaupte sogar, sie ist selbstredend.“ Kim zu verärgern war eine dumme Idee, eine, die er weder lassen konnte noch wollte. Grinsend tippte er ihr an die Schulter und meinte: „Trotzdem redest du unentwegt.“
„Ich wusste gar nicht, wie amüsant Ärzte sind.“ Kim sprang erschrocken einen Schritt zur Seite, indes bewegte sich Kevin kein Stück. „Habt ihr euch schon mal überlegt, aus euren Kabbeleien eine Sitcom zu schreiben?“ Hinter Roberto trat ein Junge herein, der scheu auf den Boden starrte.
„Scheiße Rob, wir warten seit fast einer Stunde auf dich“, beschwerte sich Kim. „Bist du zu blöd dir den Weg zu merken?“
„Ach, ich liebe dich auch“, entgegnete Roberto laut grölend, dann wandte er sich dem Jungen zu, zerrte ihn am Ärmel zu sich und erklärte der ihn böse anfunkelnden Chirurgin: „Hier, dein neues Opfer.“
Sogleich ging Kevin auf das besagte Opfer zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Hola, mi nombre es Kevin. Soi anestesiólogo. No tengas miedo.“
„Pff“, machte Kim verächtlich. „Er hat Grund zur Angst, wenn du ihn unter Drogen setzt.“ Erneut feixte Roberto, seines Zeichens Mafiaschläger und zertifizierter Operationsassistent, bevor Kevin ihn eindringlich ansah und fragte: „Wie alt ist er?“
„Achtzehn“, gab Roberto schulterzuckend zurück. Allen Anwesenden war klar, dass der verschüchterte Junge unmöglich volljährig sein konnte, aber so war es in dem Business, in den Augen der Mafia war jeder so alt, wie er eben sein musste.

Kevin hatte Julio, wie der Junge hieß, gut zugeredet und es sogar geschafft, ihn zum Lachen zu bringen, ehe er ihn stark sedierte und die Anästhesie eingeleitet hatte. Der Hubschrauber war wenige Minuten nach dem ersten Bauchdeckenschnitt gelandet, anders als Roberto hielt sich der Pilot an den Plan und schlug nun die Zeit in einer Ecke der zum Operationssaal umgebauten Lagerhalle mit einem Handyspiel tot. Der Eingriff selbst verlief wie meistens ohne Komplikationen und im Nu waren eine Niere sowie ein Teil der Leber entnommen, mehr gab es dieses Mal nicht zu tun. Also schnappte sich der Flieger die Kühltasche und eilte zum vierhundert Kilometer entfernten Hospiz, indes nähte Kim den Jungen wieder zusammen.
„Sag mal“, begann Kevin, ließ den Tropf kurz aus dem Blick und musterte stattdessen Roberto. „Willst du uns verraten, wie viel man für so eine Niere hinblättert?“
„Fuck, was glaubst du, wer ich bin?“, prustete der Angesprochene und reichte Kim eine weitere Klemme. „Ich bin der Handlanger vom Dienst, nicht Schatzmeister der Mafia.“
„Verscheißer mich nicht, Rob. Du bist quasi die rechte Hand vom Boss, wie ahnungslos kannst du schon sein?“ Es war selten, dass sich Kim bei der Arbeit in Diskussionen einklinkte, dieses Thema interessierte sie allerdings auf einer persönlichen Ebene, sie wollte erfahren, wie viel sie ihrem Gläubiger wert war. „Raus mit der Sprache.“
„Keine Details“, mahnte Roberto mit ernster Miene. „Aber so viel kann ich euch sagen: Teuer sind bloß die Bestechungen. Ihr versteht? Es kostet halt, anonym in einem großen Krankenhaus versorgt zu werden, billiger wird es, wenn man sich für eine weniger luxuriöse Variante entscheidet. Geschmierte Verwaltungsangestellte sind kostspielig.“
Kim brummte aufgebracht und rutschte beinahe mit der Zange ab. „Scheiße!“
„Alles okay?“, erkundigte sich Kevin und überprüfte nochmal die Pupillenreflexe des narkotisierten Jungen.
„Klar, klar.“ Ihre Stimme klang gepresst, sie bemühte sich offensichtlich, ihren Unmut zu unterdrücken. „Ich finde es absolut okay, mich in diesem gottverfluchten Loch abzurackern, dich ertragen zu müssen, während andere keinen Finger rühren und sich dabei eine goldene Nase verdienen.“
„Naja, du hast dir Geld von der Mafia geborgt“, warf Roberto ein. „Glaubst du, die schenken dir das Darlehen?“ Da geriet Kim völlig außer sich, legte ihr Instrument weg und keifte: „Ich bin kein dahergelaufener Versager, Rob, ich musste mein Studium finanzieren!“
„Leute, Leute“, intervenierte Kevin und erntete dafür ein gemurmeltes ‚Arschloch‘ von der Chirurgin. „Was ich ja zu gerne wissen möchte ist, wie viel die arme Sau auf dem Tisch für das ganze einsackt. Eine Niere, die halbe Leber … Dafür gibt es doch mindestens einige Tausender.“
„Vergiss es“, gluckste Roberto auf Julios entspanntes Gesicht deutend. „Der bekommt einen gefälschten Pass, eine Arbeitserlaubnis und etwas Taschengeld für die ersten Wochen nach der Operation. Organe kosten nicht so viel, wie man denkt.“

Autorin: Rahel
Titelvorgabe: Organe kosten nicht so viel, wie man denkt
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