Gaststory | Papier

„Günther, das Ministerium ist hier.“ Er sah auf und seine Sekretärin machte Platz für den strammen Mann.
Specht“, sagte der Mann zackig mit piepsender Stimme. Seine schwarze Uniform zeichnete ihn eindeutig als Mitarbeiter des Ministeriums für Effizienz und Verschwendung aus. Auf seiner Brust die silberne Mine eines Bleistifts. Specht stellte sich mit gestrecktem Rücken vor seinem Schreibtisch und wartete, während Günther sich an der Tischplatte hochdrückte. Sein Stuhl knackte, er hatte schon lange keinen neuen mehr bestellt — bloß keine Verschwendung. Er reichte dem Mann die Hand. Natürlich schüttelte er sie nicht. Effizienz – nur kurz nicken.
Günthers Herz begann zu schlagen, zu schnell, zu energieverschwendend und Spechts Blick schien jedes einzelne Pochen zu erfassen.
„Was … was kann ich für Sie tun?“, fragte er nach einer Ewigkeit. Er schaute aus dem Panoramafenster herunter zur Fabrikanlage, wo gerade eine neue Papierrolle vom Band genommen wurde.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie enorm viel Papier verlieren“, begann Specht. Seine Stimme war so hoch, wie seine Nase, dachte Günther. „Verschnitt wird mir gesagt, ich habe jedoch eine andere Vermutung.“
Günther starrte den Mann mit offenem Mund an. Dann schluckte er den Kloß im Hals herunter. Verschnitt? Verschwendung? In seiner Papierfabrik. Wie kamen sie darauf? Er hatte doch alles im Auge.
Günther schaute zurück zu seinem Schreibtisch, das Tablet auf seinem Tisch hatte natürlich das Display bereits ausgeschaltet. Er hatte gerade die Quartalszahlen gesehen, alles sah gut aus. Tim hatte doch alles überprüft.
Günthers Hand zitterte, er dachte an seine Frau, seine Tochter und die Wunschliste zu ihrem Geburtstag. Nein, das konnte nicht sein. Hier ging alles nach Plan, nach Ordnung, Effizienz und ohne Verschwendung. Specht sah ihn erwartungsvoll an, als könnte er sich jetzt schon erklären.
„Ich verstehe nicht“, stotterte er.
„Sie müssen auch nicht verstehen, dafür bin ich ja da.“
Der Mann lächelte böse, wie eine Hyäne kurz vor dem Verzehr ihrer Beute. Aber nein, Hyänen sind doch Aasfresser und Günther war noch nicht tot, er konnte sich verteidigen, wenn er nur wüsste, was Specht meinte. Alles lief wie geplant. Geschenkpapier produzierten sie, nichts anderes.
„Einen Moment“, sagte Günther und ging zurück zum Schreibtisch. Das Tablett schaltete sich nach zweimaligem Tippen an, er wischte herum. Da war Tims Analyse. Sie war doch in Ordnung. Er schaute sich den Eingang an. So viel Tonnen recyceltes Papier, wie viele  müssten daraus entstehen?
Günther kannte natürlich die Formeln. Er kannte sie seit zehn Jahren, seit er in der Fabrik angefangen hatte und er hatte sie verinnerlicht, als er zum Stellvertreter des Leiters wurde. Der Chef, der zu viel produziertes Papier wegen Qualitätsmängel direkt wieder in die Recyclingtonne geworfen hatte. Er hatte sich immer über Günthers Plattfüße lustig gemacht. Als das Ministerium ihn abholte, genoss er seine Vergeltung. Ein Anruf hatte genügt und Günther war der neue Produktionsleiter und sein ehemaliger Chef sogar seine Ehefrau los. Als Verschwender war man gebrandmarkt fürs Leben.

Tim stand hinter dem Gabelstapler und schaute besorgt nach oben zum Büro des Chefs, der ebenso besorgt nach unten schaute, ein Uniformierter, eindeutig einer vom Ministerium beobachtete ihn.
Sie haben es herausgefunden und die arme Sau musste es ausbaden. Tim hatte nur kurzzeitig ein schlechtes Gewissen. Günther war nie ein guter Chef gewesen und ein guter Untergebener auch nicht. Sein Gemüt war wie ein Gummiband, das durch Stress und Wut gedehnt und Schmeicheleien wieder entspannt wurde. Jetzt musste das Band reißen. Günther war am Ende, doch die Frage war, ob er es alleine war, oder ob Tim ebenfalls dafür bezahlen musste. Und eigentlich wäre es ja nur fair, denn er war es gewesen, der das Papier zum Buchdrucker geschickt hatte.
Tim schluckte. Er hatte sein Belegexemplar zuhause, dumm, dumm, dumm. Niemand besaß mehr gedruckte Bücher, Verschwendung von Papier. Wenn du lesen willst, lies auf deinem Tablet. Tim lachte bitter auf. Diese Argumentation war so lächerlich. Geschenke einpacken, das war in Ordnung, dafür konnte man Papier verwenden und bedrucken! Doch Bücher, Bücher durften nicht gedruckt werden. Was für ein Scheiß!
Günther neigte den Kopf zur Seite, als er Tim zu sich winkte. Dieser schluckte einen Kloß hinunter, während er stolz den Kopf hob und nickte. Was blieb ihm auch übrig? Er schaute zur Treppe, die ihn in sein Verderben führen sollte, den zweiten Uniformierten davor hatte er gar nicht bemerkt. Wenn er da jetzt hochging, war er dran, fertig mit der Welt, Knast oder eher Schlimmeres. Verschwendung, so ein verfluchter Scheiß!
Er atmete tief ein und ließ den Stapler hinter sich. Das dämliche Grinsen des Beamten vor der Treppe ignorierte er. Doch als der ein Buch aus seiner Tasche zog, konnte Tim nicht mehr weiter gehen. Es war sein Belegexemplar, er erkannte den Farbklecks in der Ecke sofort. Er schaute zurück. Überlegte. Konnte er sich in der Fabrik verstecken? Irgendwie entkommen, wenn er nur etwas Zeit gewann? Sicher waren sie nicht gleich mit einer Hundertschaft aufgeschlagen.
„Stehenbleiben!“, schrie der Beamte. „Ich werde schießen!“
Schießen? Wegen Papierverschwendung. In was für einer Welt lebten sie nur?
Und kurz darauf knallte es, die Kugel bohrte ein Loch in die Papierrolle neben Tim.
„Scheiße!“, schrie er, rannte gebückt weiter, zur Kabine des Staplers und zog einen Hebel. Die Gabel senkte sich und kurz darauf schrie der Uniformierte, als sich das Papier an ihm rächte.
Tim nahm die Waffe des Beamten auf und schaute nach oben. „Das ist doch alles krank!“

Specht hob eine Augenbraue, während er auf Fuller herabsah.
„Tim du verdammter Idiot!“, brüllte der Produktionsleiter. Eine unangenehm schleimige Person. Er hatte Zwetschkes Akte gelesen. Viel Einsatz für die Partei zeigte er nicht, lediglich das Nötigste um nicht aufzufallen. Dabei ist die Norm am auffälligsten.
Fuller schoss, eine Fensterscheibe zerbarst zu Spechts Füßen, doch er sah gar keinen Grund sich auf den Boden zu werfen, ganz im Gegensatz zu Günther Zwetschke. Die Wahrscheinlichkeit, dass so eine kleine Handfeuerwaffe ihr Ziel traf, war äußerst gering und dabei war sich Specht nicht mal sicher, auf wen Fuller zielte.
Der Fabrikarbeiter rannte in das Labyrinth von Papierrollen, von hier oben gut einsehbar, woran die Wenigsten denken. Alles war eine Frage der Perspektive. Effizienz und Verschwendung.
Specht schüttelte den Kopf und begab sich zum Ausgang. Wie Zwetschke zuvor hatte sich die Sekretärin im Vorzimmer auf den Boden geworfen. Wenn sie meinten, dachte er und ging an ihr vorbei. Kein Grund irgendwas zu sagen. Die Frage war eher, was er nun tun sollte. Eine Option war natürlich hinter dem Verschwender herzurennen, ihn zu verhaften und letztendlich kämen sie unter die Guillotine. Eine schnelle, effiziente Todesstrafe, viel besser als alles andere, wie Gift oder Erhängen, wo der Strangulierte …
Er schüttelte den Kopf. Er war seiner Zeit wieder voraus. Es ging erstmal darum, ihn zu fangen, ihm vor Gericht seine Straftat klar zu machen und dabei der Bevölkerung zu zeigen, dass das Ministerium keine Verschwendung duldete. Verschwendung von Papier, von Menschenleben, von Zeit. All das war Specht so zuwider. Er schaute zurück, die Treppe hoch, wo der Fabrikleiter ihm auf dem Boden kriechend zu folgen versuchte. So ein Unsinn. Er würde für diese unsinnige verschwenderische Tat ebenfalls bezahlen. Nur wie?
Es gab bereits einen Präzedenzfall, dass ein Leiter nicht für die Tat seiner Angestellten verantwortlich war. Würde dies auch gelten? Würden die Taten eines Tim Fuller so gut verschleiert gewesen sein, dass der Leiter gar nicht anders konnte, als zu glauben, dass alles seinen richtigen Gang verlief? Specht war sich da nicht so sicher, doch im Endeffekt war es nicht seine Aufgabe, das herauszufinden. Dafür gab es Gerichte unter dem Vorsitz seines Ministeriumsleiters.
Specht atmete tief durch, schaute auf die mannhohen Papierrollen, die er nun nicht mehr überblicken konnte. Er begab sich zu seinem Partner, dessen Unterkörper unter der Papierrolle lag. Trauer, ebenfalls Verschwendung. Specht hob das Buch auf, das der Kollege unsinnigerweise mitnehmen wollte. „Als Beweis“, hatte er behauptet, als wäre ein Beweisstück nötig. Specht berührte die nächste Rolle, strich mit den Fingern über die Folie. Dann hatte er eine Eingebung und riss sie auf. Das Papier war blütenweiß, wie seine Weste, dachte er, strich an der Kante entlang und sog die Luft durch die Zähne, als das Papier in seine Fingerkuppe schnitt. Ein einzelner Blutstropfen breitete sich auf dem Rand aus. Rot auf weiß. Nun wusste er, was zu erledigen war.
Er rief dem Leiter zu. »Machen sie, dass Sie hier rauskommen«
Der Mann rannte tatsächlich los, als würde Specht hinter ihm herschießen. Keine Minute verschwendete er an seine Sekretärin und Specht fiel verwundert auf, dass er das erste Mal Effizienz verabscheute.
In der Fabrik arbeiteten nicht mehr viele, die meiste Arbeit wurde von Maschinen erledigt und ihre Wartung übernahmen externe Arbeitskräfte. Natürlich wusste er, dass heute niemand weiter da war außer Günther Zwetschke und Tim Fuller.
Er kramte ein Sturmfeuerzeug aus seiner Tasche und beobachtete es für ein paar Sekunden, bevor er es an den Stapel Papier hielt. Es dauerte länger, als er dachte, bis die Rolle Feuer fing. Zu langsam, für seinen Geschmack und so ging er zur nächsten, zog an der Folie und zündete die Rolle ebenfalls an. Es roch nach schmelzender Folie, während die ersten Funken an ihm vorbei flogen.
„Was machen Sie da?“, fragte die Sekretärin, die sich endlich aus ihrem Büro getraut hatte.
„Verschwinden Sie.“
„Aber das können Sie doch nicht machen!“
Sie rannte auf ihn zu, wollte ihm tatsächlich sein Feuerzeug stehlen!
Er schlug sie hart ins Gesicht, sie stolperte und stieß mit dem Rücken gegen eine der brennenden Rollen. Als ihre Haare Feuer fingen, schrie sie und rannte zum Ausgang.
„Ersticken Sie es“, rief Specht ihr hinterher, bezweifelte aber, dass sie ihn hörte. Ihr Leiter würde sich schon um sie kümmern.
Die Hitze wurde unerträglich, und endlich wanderte das Feuer von allein weiter. Weitere Rollen brannten, wie der Qualm in seinen Augen. Zeit zu verschwinden. Lächelnd ging er zum Eingang, schloss die Tür und versperrte sie.
Der Fabrikleiter und seine Sekretärin standen an seinem Fahrzeug, wo sein zweiter Partner auf ihn wartete.
„Die Verbrecher?“, fragte er. Specht zeigte mit dem Daumen hinter sich.
„Hast du den Notausgang blockiert?“
Sein Partner nickte, fragte nicht nach Götze, der tot in der Halle lag.
Effizienz. Keine Gefangenen, kein Gericht und das alles kostete nur etwas Geschenkpapier und eine Fabrik, die sowieso geschlossen werden sollte. Unbemerkt warf Specht das Buch in sein Auto.

Autor: Hannes Niederhausen
Setting: Papierfabrik
Clues: Wunschliste, Vergeltung, Gummiband, Specht, Mine
Mehr über Hannes Niederhausen sowie alle Links zu seinen Seiten findet ihr auf seiner Gastautorenseite. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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