Gaststory | Pogonomyrax

Der heiße Fahrtwind zerrte ihm an den schulterlangen, blonden Haaren, als sie über der einzigen, kreisrunden Wüste Formides ihrem Ziel im Zentrum entgegenflogen.
„Die Radioaktivität würde aber zumindest erklären, warum diese Wüste entstanden ist“ sagte General Phengararicon neben ihm gerade laut genug, um über die Geräusche des offenen Gleiters gehört zu werden.
„Ist die Radioaktivität in der Gegend nach dem Einbruch der Höhle weiter gestiegen?“, fragte Joshua Thyquist. Eigentlich war er nach Formide gekommen, um Urlaub zu machen und sich auf seinen nächsten Auftrag vorzubereiten.
„Ja, erheblich sogar. Und die Radioaktivität macht Ihnen wirklich nichts aus?“, hinterfragte der Travane. Joshua Thyquist drehte sich dem zwei Meter großen Insekt zu.
„Nein, keine Sorgen. In mir steckt mehr als man sieht.“
„Ich hoffe es, denn meine Soldaten und ich reagieren sehr empfindlich auf Strahlung“, erinnerte der General. Thyquist nickte bestätigend und sah wieder nach vorne aus dem offenen Gleiter hinaus. Sanddünen bedeckten das Gebiet, das früher einmal Grasland gewesen sein musste. Und dann gab es da eine besonders hohe Düne, die das Ziel der Gruppe mit ihren fünfzig Soldaten war. Als sie an Höhe gewannen, um über die Düne zu fliegen, sah Thyquist zum ersten Mal das große, gezackte Loch im Boden, darunter absolute Finsternis. In respektvoller Entfernung zum Loch setzte der Gleiter schließlich auf und der Lärm seines Antriebs verstummte. Jetzt schlug Thyquist auch wieder der an Marsala erinnernde Geruch Phengararicons entgegen, der sich so gegenüber seinen Soldaten als General identifizierte. Die an viel zu groß geratene Ameisen erinnernden Travanen nutzten auch heutzutage nur in den seltensten Fällen verbale Sprache, um zu kommunizieren. Joshua Thyquist sprang aus dem Gleiter, gefolgt von General Phengararicon und dessen Soldaten.
„Wir gehen mit, soweit wir können“, versprach der General mit seiner schabend klingenden Stimme und klinkte sich in ein Seilgeschirr ein. Thyquist ging vorsichtig auf das gezackte Maul im Boden zu und sah über den Rand nach unten in eine dunkle Halle. Ebenfalls in ein Geschirr eingeklinkt, sprang er und ließ sich erst einmal nahezu ungebremst nach unten fallen, bevor er am Seil hängend einen Moment an Während sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, konnte er Details der Umgebung erkennen: Der Boden lag noch etwa sechzig Meter unter ihm. Das Licht, das flach durch den Eingang fiel, traf auf eine Wand, in die viele Gänge zu verschwinden schienen. Mehr konnte er noch nicht erkennen, denn in diesem Moment gab ein Teil der Decke nach und Sand und Felsen stürzten an ihm vorbei, während einige der sich abseilenden Travanen gegen eine Wand geschleudert wurden. Thyquist ließ sich die letzten zehn Meter herunter und lief zu den verletzten Travanen, die am Boden zum Teil unter Schutt begraben waren.
„Lassen Sie sie zurück!“, rief General Phengararicon dem meistens als Menschen erscheinenden Wesen zu, „Wir schaffen es nicht, sie wieder nach oben zu bringen, bevor die Radioaktivität uns alle schädigt.“
„Aber …“ begann Thyquist noch.
„Es sind nur Soldaten! Sie sind ersetzbar!“, beharrte der General. Auch die unverletzten Soldaten kümmerten sich nicht um ihre verletzten Artgenossen und so gab Thyquist schließlich auf. Er musste sich den Gegebenheiten seiner Gastgeber fügen.
„Woher kommt die Strahlung?“, wollte er stattdessen wissen. Der General zeigte mit einem seiner vier Arme auf einen breiten Durchgang, der nach unten führte.
„Dort lang!“, rief er und die ganze Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ein paar von Phengararicons Soldaten bildeten die Vorhut, Thyquist und der General gingen in etwa in der Mitte der Einheit. Er sah sich um und stellte fest, dass es sich bei diesem Höhlensystem um ein antikes Nest der Travanen handelte. Es wirkte insektoider und chaotischer als die modernen Nester der Travanen, die Thyquist auf Formide schon gesehen hatte. Schon bald reichte das Licht aus dem Eingang nicht mehr aus, um mehr als Konturen zu erkennen und Thyquist griff auf eine Taschenlampe zurück.
„Dies hier könnte das verlorene Reich von Königin Pogonomyrax sein!“, vermutete General Phengararicon, als sie eine Weile im Gang unterwegs waren.
„Die erste Königin, die erwacht ist?“, wollte Thyquist wissen, der einen Teil der Geschichte der Travanen kannte.
„Genau diese. Kaiserin Gerontoformcreata bestätigt diese Information soeben: Sie erkennt den Geruch ihrer Sippe“, informierte der Travane weiter. Da erinnerte sich Thyquist daran, dass die Travanen auch telepathisch miteinander kommunizierten.
„Dann ist die Struktur hier mehr als 10.000 Jahre alt!“, wusste Thyquist.
Immer tiefer ging es hinunter, inzwischen über blanken Felsen, schwarzen Staub und Geröll in die nur von Thyquists kleiner Taschenlampe unterbrochene Dunkelheit. Den Insektoiden schien es nichts auszumachen, sie verließen sich bei der Orientierung auf Sinne, die Thyquist nicht besaß. Irgendwann fiel es Thyquist dann auf, dass verstreut auch immer wieder Knochen herum lagen.
„Diese Knochen stammen nicht von unseren üblichen Beutetieren“, bemerkte schließlich auch General Phengararicon.
„Würde man Überreste Ihrer Art heute noch finden können?“, fragte Thyquist.
„Unser Exoskelett zerfällt in der Regel zu diesem Staub, vor allem hier in der Trockenheit sollte das innerhalb weniger hundert Jahre passiert sein“, erklärte der Travane und scharrte mit einem Fuß durch den Staub. Dabei förderte er einen großen, raubtierartigen Schädel hervor, den Thyquist mit seiner kleinen Lampe gleich anleuchtete.

„Das ist der Schädel eines Rhloa!“, erkannte er erstaunt. Thyquist erinnerte sich an die Legenden, Claire Talbot hatte ihm aus der Sicht der Rhloa davon erzählt: Sie waren damals hier gewesen, als die Travanen die ersten Anzeichen von höherer Intelligenz gezeigt hatten, dem, was die geflügelten, weitestgehend an riesige Löwen erinnernde Säugetiere als „das Erwachen“ bezeichneten. Sie waren von ihren geistlichen Führern beauftragt worden, die junge Zivilisation zu begleiteten, vor zerstörerischen Einflüssen zu beschützen und in ihrer Entwicklung zu fördern. Claire Talbot war damals, vor vielen Jahrtausenden, persönlich dabei gewesen, aber sie machte auch heute immer noch ein Geheimnis daraus.
„Die Radioaktivität steigt immer weiter an, wir werden umkehren müssen!“, warnte der General, der in einer seiner vier Hände immer noch das Analysegerät hielt.
„Hier auf dem Weg ist die Strahlung an einer Stelle besonders hoch“, erkannte Thyquist und bahnte sich einen Weg durch die stehengebliebenen Travanen und suchte mit der Taschenlampe den Boden ab. Plötzlich fand er etwas Metallisches, es gab hohe Strahlung ab. Als er den Gegenstand aus dem Staub zog, war sogar Thyquist sehr erstaunt:
„Es sind Überreste eines Toachs!“, rief er zurück zum General.
„Ein Toach?“, wunderte sich Phengararicon. Aber ohne Zweifel handelte es sich um den zerstörten Torso eines atomar angetrieben Toachs. Er hatte nicht viel mit den heutigen technischen Lebensformen zu tun, die ein Gründungsmitglied der Gemeinschaft interstellarer Nationen waren.
„Bringen Sie Ihre Leute hier raus! Es wird noch mehr radioaktive Toach geben. Ich werde versuchen die Quelle der Strahlung zu beseitigen“, versprach Joshua Thyquist. Er ging noch einmal zum General zurück, griff in seine Hosentaschen und holte seine Wertsachen heraus: Eine Taschenuhr und ein kleiner, unscheinbar wirkender Stein, die er beide dem General in die Klaue drückte.
„Nehmen Sie das bitte mit? Ich selbst bin gegen die Strahlung immun, aber ich möchte nicht, dass meine persönlichen Sachen verstrahlt werden“, bat er.

„Natürlich! Wir warten in der Haupthalle auf Sie“, bestätigte der General, steckte alles ein und ließ Thyquist dann alleine im Schein seiner Taschenlampe zurück. Tiefer und tiefer lief er in den Bau der großartigen Königin Pogonomyrax hinunter, kam an antiken Kampfschauplätzen vorbei, von denen nur noch der Staub der Travanen, die Knochen einiger Rhloa und die metallenen Überbleibsel von ganz wenigen Toach erzählten.
Und dann stand er vor der gewaltigen Bruthalle und sein Fuß stieß an eine steinerne Krone. Er hob sie hoch und erkannte, dass es sich dabei um die von Travanenarbeitern aus maßiven Stein herausgefressene Krone der Königin Pogonomyrax handelte. Dies war wahrscheinlich die älteste Antiquität der Travanen überhaupt und vielleicht sogar der erste Gegenstand, der mehr als eine alltägliche Bedeutung hatte. Er befestigte sie an seinem Gürtel, nach einer Dekontamination würde sie einen Platz im Museum bekommen.
Und dann trat er in die Halle. Der Boden war dick mit dem Staub von Travanen überzogen. Zerschmetterte Knochen von Rhloa lagen überall dazwischen und vor ihm leuchteten schwach zwei Flecken in der Dunkelheit. Die Strahlung war hier unglaublich hoch, auch der Boden war voll von den Überresten der ungewöhnlichen Toach. Thyquist ging auf die leuchtenden Punkte zu und richtete seine Taschenlampe dorthin. Er fand einen massiven Tierkäfig, der groß genug war, um auch ausgewachsene Rhloa aufzunehmen. Dieser war offensichtlich von den Toach vor Jahrtausenden hierher gebracht worden.
Und zur Unbeweglichkeit verdammt fand er einen besonders großen Toach, an die Stahlstreben des Käfigs festgeschweißt. Seine Beine fehlten und der untere Teil des Torsos war wie von einer Explosion zerfetzt. Thyquist ging näher an den Käfig heran und stellte fest, dass auch der Hinterkopf mit dem Gitter verschmolzen war.
„Sie hat mir in den Reaktor gebissen!“, sagte plötzlich eine dünne Stimme in einer so alten Sprache, dass Thyquist sich erst nicht sicher war, ob er sie verstanden hatte.
„Wer?“, fragte Thyquist die immer noch überraschend funktionstüchtigen Überreste des festgeschweißten Toach.
„Pogonomyrax! Die Explosion hat auch sie vernichtet. Alle sind tot! Nur die Rhloa, die ich gefangen habe, ist zusammen mit einigen anderen entkommen. Für die Schatzhüterin war dieser Käfig bestimmt, wir wollten uns den Schatz nutzbar machen. Ich hätte sie gleich töten sollen“, flüsterte die matte Stimme des Toachs.
„Ich kenne sie, sie lebt heute noch. Mehr noch, die Travanen sind erwacht! Die Rhloa begleiten sie heute noch. Und sogar die Nachkommen Deines eigenes Volk unterstützt heute die Menschen, die Travanen und die Rhloa! Ihr habt auf ganzer Linie verloren“, erklärte Thyquist.
„Wer bist Du?“, fragte der Toach wütend und versuchte, Thyquist mit seinen Augen zu fixieren.
„Ich bin einer der Sieben. Du weißt, wem ich diene!“, erklärte Thyquist. Ein allerletztes Mal versuchte der uralte Toach seine Arme vom Käfig zu lösen, die in der Explosion mit seiner eigenen Strahlung festgeschweißt worden waren. Mit einem schmerzerfüllten Schrei rissen sie von seinem Torso ab, der dann auf den massiven Stein unter dem Käfig fiel und dabei zerschellte. Nur sein Kopf blieb am Gitter hängen, doch die Augen erloschen.
Thyquist sah sich in der großen Halle um. Ein paar Toach hatten also damals versucht, das Erwachen der Travanen zu verhindern und den Rhloa ihren einzigartigen Schatz, das Geschenk Gottes, zu stehlen. Das hatte ihm Claire Talbot nicht gesagt. Dass Königin Pogonomyrax sich im Kampf geopfert hatte, um ihr Volk zu retten, wusste offensichtlich auch noch niemand. Doch das würde sich jetzt ändern!
„Zeit, aufzuräumen“, sagte Thyquist in die Leere des Raums und begann damit, alles radioaktive Material einfach so verschwinden zu lassen.
Jahre später, lange nachdem Joshua Thyquist, Claire Talbot und die anderen von den Sieben im Kampf gegen die Auserwählten gefallen waren, würde die einzige Wüste von Formide verschwunden sein.

Autor: Mathias Leopold
Setting: Wüste
Clues: Marsala, Unbeweglichkeit, Antiquität, Tierkäfig, Wertsachen
Mehr über Mathias Leopold sowie alle Links zu seinen Seiten findet ihr auf seiner Gastautorenseite. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing