Que Sera, Sera

Julio war überzeugt gewesen, heute Abend aus dem Terminal des JFK International Airport zu marschieren, in ein Taxi zu steigen und dem Fahrer die Adresse an der Upper East Side zu diktieren. Er hatte sich schon auf den Nachhauseweg nach einer langen Geschäftsreise gefreut und würde Cathy wiedersehen. Seine Frau machte sich bestimmt schon längst Sorgen, immerhin hätte er vor – er warf einen Blick auf die Uhr – ziemlich genau fünf Stunden ankommen sollen.
Ein Stein piekte ihn unangenehm in den Rücken und er versuchte, etwas zu rutschen, was ihm schwer fiel. Der Boden war hart und unangenehm, doch das war keinesfalls Julios größtes Problem. Was ihn wirklich quälte, war die Frage, ob er je wieder nach Hause käme. Er zitterte vor Kälte und das eisige Mondlicht der großen, teils von Wolken verdeckten Scheibe am Himmel machte es auch nicht besser. War dies das Ende? Würde er hier draußen im Nirgendwo sang- und klanglos sterben, nachdem er noch vor kurzer Zeit auf dem unbequemen Flugzeugsitz gesessen war und in seinem E-Book gelesen hatte? Den E-Book-Reader gab es nicht mehr, der musste jetzt in tausend Stücke zersplittert in der Pampa liegen. Eigentlich ein faszinierender und zugleich verstörender Gedanke, dass alles, was einem im Alltag begegnet, so anders aussah, wenn es zerstört war. Sein Handy war nichts weiter als ein Haufen Scherben und zerbrochene Platinen, hatte seine ganze Eleganz verloren. An den Zustand des Flugzeuges wollte er nicht einmal denken. Dinge wirken profan, wenn sie ihre Funktion, ihre Bedeutung verlieren, Design war höchstens etwas Kosmetik, um uns von der Vergänglichkeit abzulenken. Julio musste trocken lachen. Da lag er nun auf der harten Erde und dachte über solchen Unsinn nach.
Irgendein Insekt raschelte durch das trockene Gras und Julio zuckte zusammen bevor er begriff, dass es keine Bedrohung war und er sich wieder entspannte. Er gab einen genervten Seufzer von sich, doch für mehr fehlte ihm die Energie. Er fröstelte zu fest, dass er hätte einschlafen können, aber hatte zu viele Schrammen und Zerrungen, als dass er hätte weitergehen können. Er war sich nicht einmal sicher, auf welchem Subkontinent er war, sondern wusste nur, dass er nicht hierhin gehörte. „Was für eine Scheiße!“

Julio schreckte frierend hoch, sah sich verwirrt um; wann war er eingeschlafen? Er hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Wie konnte man in seiner Situation nur schlafen? Der Mond war weiter gewandert, stand jedoch noch immer wie eine übergroße Kugel am Himmel, die Krater wirken scharf umrissen, wie mit einem Permanentmarker aufgezeichnet. Weitab von aller Zivilisation wo es keine künstlichen Lichtquellen gab, waren trotz dem hellen Trabanten unzählige Sterne zu erkennen. Die Wolken hatten sich beinahe ganz verzogen und Julio entscheid sich dazu, die Himmelskörper zu beobachten, vielleicht gab ihm das die Ablenkung von der vermaledeiten Kälte, die er benötigte. Sollte er jetzt an Cathy oder seine Eltern denken? Vermutlich wäre das eine verdammt schlechte Idee, schließlich wusste er nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde. Schon komisch, dachte er sich, wir können jemanden auf den Mond schicken, aber haben ewig, um ein verschwundenes Flugzeug zu finden. Die kaltweiße Scheibe starrte teilnahmslos auf ihn herunter und er musste bei der Vorstellung verächtlich schnauben. Als ob der Mond ihn beobachtete! Eine lächerliche, animistische Vorstellung für nichts anderes als Licht zu nutzen, das einige Sekunden durch den Raum reist, um schlussendlich auf unsere Retina zu treffen – wie absurd war das denn? Welcher Teil des Hirns war eigentlich dafür verantwortlich, dass man den Impuls hatte, unbelebten Objekten eine Persönlichkeit zuzuschreiben? So genau wusste es Julio nicht und leider hatte er in seiner Lage nicht die geringste Möglichkeit, es nachzuschlagen.
Eine Sternschnuppe schoss vorbei und verschwand über dem Horizont, eine willkommene Abwechslung. Er erinnerte sich an den Meteoritenschauer, der für die folgende Nacht angekündigt worden war und hoffte darauf, schon heute möglichst viele in der Atmosphäre verglühen zu sehen. Julio wollte schon seit Ewigkeiten einen Meteoritenschauer sehen, doch wann hatte man schon die Zeit dazu? Am besten nahm er diese Gelegenheit wahr, so lange er noch konnte, zudem wäre es sicher ein schönes Schauspiel, wenn er noch einen Tag überstehen konnte. Wahrscheinlich eher nicht, aber so hatte er wenigstens ein sinnvolles Ziel, auf das er hinarbeiten konnte, denn das, was die meisten wohl als Hoffnung bezeichnet hatten, wirkte meilenweit entfernt und kaum mehr realistisch. Aber einmal zu beobachten, wie kosmischer Müll in unsere Atmosphäre stürzt …

Julio hatte immer geglaubt, beim Sterben drehten sich die Überlegungen seiner letzten Stunden darum, was er alles erlebt hatte, wen er zurückließe und vor allem, wen er vermissen würde. Vermutlich hätte er sich für seine momentane Gefühlskälte verurteilt, denn er war nicht einmal mehr sonderlich entsetzt bei dem Gedanken an die zerrissenen und verkohlten Leichen, ja nicht einmal mehr die toten Kinder kümmerten ihn noch. Que sera, sera. Vielleicht war es ja die Kälte, die ihn befremdet, ja gar gleichgültig auf die Situation blicken ließ, vielleicht aber auch der Schock – so genau hätte er es beim besten Willen nicht sagen können und eigentlich spielte es auch keine Rolle mehr. Er würde noch immer seine letzten Minuten haben, um sich mit dem Unvermeidbaren auseinanderzusetzen, aber vorerst wollte er einfach nur etwas schlafen können, sich entspannen, Wärme fühlen können. Seine Augen fielen zu und er lauschte dem Geräusch seines Pulses in den Ohren, das mit jeder Sekunde mehr wie das Knattern von herannahenden Helikoptern klang.

Autorin: Sarah
Bildvorgabe zu dieser Story:

ClueWriting1

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4 Gedanken zu „Que Sera, Sera“

  1. Dem Poison-Teil gefällt die Geschichte auch und sie findet es erschreckend wie thematisch passend die Geschichte zu ihrem aktuellen Schreibstil ist… (die letzten verfassten Geschichten drehten sich alle iwie um reisen, Flucht und/oder Tod…)

    Es ist unglaublich spannend was ihr beide aus den Bildern gemacht habt! Schön, dass wir diesen Austausch mit euch machen konnten!
    Wir geben euch Bescheid sobald dann unser Teil zu euren Clues fertig ist!

    1. Da bin ich doch froh, ist mein Text so gut angekommen :) Und das hat tatsächlich etwas, vor allem, weil ich einfach die erste Geschichte geschrieben habe, die mir dazu eingefallen ist. Wir freuen uns auch sehr, dass wir mit euch zusammenarbeiten können und ich kann es kaum abwarten, eure Stories zu lesen! :)

      Es verneigt sich und grüsst,
      die Sarah

    1. Hallo, werte Dark Fairy :) Das freut mich doch, dass dir die Story gefällt, ihr habt jetzt halt mehr oder weniger zufällig zwei nicht allzu fröhliche Geschichten bekommen – das passiert, wenn man parallel schreibt ;) Und das mit dem tagsüber Knipsen sehe ich, du hast schliesslich dar „Dark“ im Namen, nicht vor der Linse :)
      Mit lieben Grüssen von den Clue Writern,
      Sarah

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