Kleine Rede

Ein verärgerter Blick auf das Smartphone verriet Mike, dass er seit gerade mal siebenunddreißig Minuten hier war. Er seufzte, strich über seinen Dreitagebart und versuchte den Lärm zu ignorieren, der hier als Musik gespielt wurde. Seine Mitbewohnerin hatte es sicher gut gemeint, als sie Mike mit den Worten „Ach komm schon, du gehst viel zu selten aus!“ mehr gedrängt als eingeladen hatte. Trotzdem konnte er sich mit seiner aktuellen Situation nicht anfreunden und überschlug gedanklich die minimale Zeitspanne, nach der er ohne unhöflich zu wirken wieder abhauen konnte. Nach einigem hin und her entschied er, dass dreiundfünfzig Minuten ausreichen sollten. Direkt nach ihrer Ankunft auf der Party war seine Mitbewohnerin in der Menge aus schwitzenden und nach Parfüm und Alkohol stinkenden Partygängern verschwunden. Mike hatte nur kurz versucht, sich unters Volk zu mischen und sich dann mit einem Drink, der aussah wie ein Regenbogen im Glas, auf die Couch zurückgezogen. Schlimm genug, dass er sich mit dem Versprechen auf Pizza und oberflächliche Integration hatte hierhin locken lassen, da musste er nicht auch noch auf einer klebrigen Tanzfläche rumstolpern.
„Hey“, hörte Mike eine Frauenstimme neben sich sagen und gleich darauf ließ sich ein zierliches Mädchen mit einem langen blonden Pferdeschwanz neben ihm aufs Polster fallen. „Wie geht’s dir so?“ Mike sah sie einige Sekunden verdattert an, ehe er nickte und ein grunzendes Geräusch von sich gab. Sofort schalt er sich für seine ungeschickte Erwiderung und musste sich arg zusammenreißen, nicht in einen Strudel aus Selbstzweifel zu fallen.
„Gut“, erklärte er schließlich heiser, „mir geht es gut. Und dir?“ Mike hatte keinerlei Bedürfnis etwas über das Wohlbefinden des fremden Mädchens zu erfahren, aber er hatte gelernt, dass er mit dieser Rückfrage die sozialen Konventionen befriedigen würde. Sie lächelte zur Antwort und deutete mit einer dezenten Geste durch das hoffnungslos überfüllte Apartment und meinte dann: „Schöner Abend, coole Party, wie soll’s einem da schlecht gehen?“
Mike wusste wie, hatte aber keine Lust darüber zu lamentieren, wie bedrückend und anstrengend solche Events für einen introvertierten Menschen wie ihn waren. Also stimmte er ihr wenig enthusiastisch zu, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.
„Ich bin übrigens Mareike.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, deren Fingernägel in allen möglichen Farben lackiert worden waren.
„Mike“, brummte er und schüttelte die Hand zögerlich. Wieso man in diesem Kulturkreis darauf bestand, zur Begrüßung Keime auszutauschen, würde ihm wohl immer ein Rätsel bleiben.
„Und, was machst du so?“, wollte sie wissen, während sie sich durch die Haare fuhr. Danach zog sie ihren Rock etwas nach unten und wandte sich ihm mit einem neugierigen Ausdruck zu. Wenn man den soziokulturellen Kontext ihres Aufenthaltsorts in Betracht zog, konnte man davon ausgehen, dass ihre Körpersprache generelles Interesse signalisierte. Ein Großteil der hier anwesenden Studenten war wohl mit einer Paarungsabsicht hergekommen und Mike war klar, dass er mit seiner ebenmäßigen Haut und den symmetrischen Gesichtszügen für einige eine Option darstellte – auch wenn er neben den Sportlern zweite Wahl war.
„Ich bin im Nachdiplomstudium, Kardiologie“, sagte er nach einer Weile und hoffte insgeheim, dass sein Gegenüber sich davon abschrecken lassen würde.
„Oh, das ist ja interessant“, hauchte sie und anhand ihrer rapiden Kopfbewegung war ziemlich klar, dass sie log. „Du bist also ein guter Samariter. Ich bin im fünften Semester Kunstgeschichte.“
„Ah“, erwiderte Mike nichtssagend und zuckte mit den Schultern. Spätestens jetzt hatte er keine Lust mehr mit Mareike Belanglosigkeiten auszutauschen, nicht weil er etwas gegen ihr Studienfach hatte, sondern weil ihr Tonfall keinerlei Leidenschaft dafür indizierte – die Bemerkung zum guten Samariter verbuchte er ebenfalls als Minuspunkt. Während Mike überlegte, mit welcher Standardfloskel er sich würde verziehen können, kam sie gerade erst in Fahrt, legte ihre Hand auf sein Knie und meinte:
„Ich weiß nicht, vielleicht will ich das Hauptfach bald wechseln, aber dazu habe ich ja später noch Zeit. Jetzt will ich erst mal den Sommer genießen, immerhin haben wir nicht immer so tolles Wetter.“ Wieder nickte Mike abwesend und ermahnte sich, bloß die Fassade vom sozial kompetenten jungen Mann aufrechtzuhalten – er hatte lange genug dafür geübt.
„Ja, das Wetter ist wirklich angenehm“, stellte er dann mit gespielter Freude fest. Im Grunde war es ihm einerlei, ob die Sonne brannte oder ob es goss wie aus Kübeln. Für das eine gab es Klimaanlagen und für das andere Gummistiefel. Aber zumindest war das leidige Wetter-Thema einigermaßen nachvollziehbar für ihn, anders als die albernen Balzszenen, die sich vor ihm abspielten.
„Wie wahr. Wir gehen morgen Nachmittag im Park grillen“, begann Mareike vorfreudig und rutschte noch ein Stück näher an ihn ran. Mike lehnte sich augenblicklich etwas weg und stieß dabei mit seinem Ellenbogen an die Ständerlampe, sodass der Lampenschirm gefährlich ins Wackeln kam. „Wenn du willst, kannst du ja auch kommen.“ Mit dem wankenden Einrichtungsgegenstand kämpfend überhörte Mike ihre freundliche Einladung, er hatte aber begriffen, dass Mareike wohl irgendetwas gesagt hatte.
„Hm“, murmelte er instinktiv, weil er die erwartungsvolle Stille von Mareike nicht ertragen konnte.
„Oh, super! Sag mal, magst du Senfsauce? Wenn ja, dann mach ich extra viel …“
Senfsauce?“ So rasch er konnte ging Mike alle möglichen Assoziationsmöglichkeiten durch, wie Mareike vom Wetter auf Senfsauce gekommen sein könnte. Eigentlich sollte es ihn aufregen, dass er kaum je fähig war, einer Small Talk Unterhaltung zu folgen, aber im Prinzip nahm er es sich nicht übel, solche Belanglosigkeiten einfach ausblenden zu können. Am Ende redete ohnehin jeder nur über sich selbst oder besser gesagt darüber, wie man von anderen gerne wahrgenommen werden würde – etwas, das Mike für vollkommen nutzlos und öde hielt. Er schielte zu Mareike, die schmunzelnd mit ihren Haaren spielte und beschloss, seine Fassade nun doch bröckeln zu lassen. Wer weiß, hoffte er eine Millisekunde, vielleicht wäre sie ja froh darüber.
„Sorry, ich habe nicht zugehört. Was ist mit der Senfsauce?“ Mareike lachte auf, aber es war kein erleichtertes, ja nicht mal ein amüsiertes Lachen, sondern lediglich eine typische nervöse Reaktion auf seinen Fauxpas. So sehr gelangweilt hatte er sich seit dem Vortrag seiner Mitbewohnerin über die Buchpreisbindung nicht mehr.
„Ha, da hat dich wohl was abgelenkt“, schäkerte Mareike und lehnte sich etwas nach vorne, sodass ihr Dekolleté genau in seinem Blickfeld war. Sogar Mike, dessen Verständnis der menschlichen Paarungsrituale dem eines Drittklässlers glich, verstand sofort, was sein Gegenüber mit ihrer unnatürlichen Sitzposition bewirken wollte.
„Nein, du hast mich nicht abgelenkt, im Gegenteil, eher gelangweilt“, erklärte Mike gleichmütig und hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken was er falsches gesagt hatte, bevor Mareike schockiert aufstand und ihm ein Kissen entgegenpfefferte. Dieses beschrieb eine flache Parabel und traf den Lampenschirm, der dann direkt auf Mikes Kopf landete – Small Talk war eben nicht sein Ding.

Autorin: Rahel
Setting: Beim Lampenschirm
Clues: Gummistiefel, Regenbogen, Senfsauce, Buchpreisbindung, Samariter
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