Der Fänger im Rhododendron

„Sie hören Radio Z-Welle. Es ist genau dreiundzwanzig Uhr und es folgen die Nachrichten.“ Während ich in meinem Technikraum saß und Svenja beim Verlesen der Tagesereignisse zuhört, konnte ich sehen, wie sie hinter der Glaswand ihr dichtes goldblondes Haar ausschüttelte, sodass es majestätisch wie eine Löwenmähne über ihren muskulösen Rücken fiel. „…Terrorist ist noch nicht gefasst, das FBI hat aber eine heiße Spur.“ Meine Aufmerksamkeit driftete wieder ab, da die Hitze in dem kaum belüfteten Nachrichtenstudio unseres Lokalsenders einfach zu groß war – ein tropisch-schwüler Sommertag war über die Stadt hinweggezogen und hatte sie mit seinem feuchtwarmen Nebel betäubt, beinahe in Lethargie versenkt und auch die ersten Regentropfen des heraufziehenden Gewitters, die ich im orangen Lichtkegel der Straßenbeleuchtung auf den heißen Asphalt fallen sehen konnte, versprachen bloß eine kurze Erfrischung. Die Hitzewelle dauerte nun schon für mehr als zwei Wochen an und die klimatisierten Straßenbahnen, die alle paar Minuten unten vorbeidonnerten und die Fenster unseres Studios leicht vibrieren ließen, wirkten seit dem Nachmittag bis am späten Abend besser besetzt als sonst und der See und die Flüsse quollen nur so über vor Menschen, die verzweifelt nach Abkühlung dürsteten. „…wird jedoch keinen großen Einfluss auf den alpenquerenden Transitverkehr haben.“ Svenja war mit ihrem Text beinahe in der Hälfte angelangt und ich stellte mir ihr Gesicht vor (ich konnte es nicht sehen, da sie mir den Rücken zugekehrt hatte), wie sie sich insgeheim darauf freute, dass sie in einer Stunde fertig war und dann endlich in den kühlenden Strom des nahen Flusses würde springen können, den Schweiß des Tages abwaschen und sich wieder erfrischt fühlen. Ein Blitz zuckte über die Stadt, ließ die Fassaden der umliegenden Häuser aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende wie schaurige Mahnmale kurz aufleuchten, nur um sie dann wieder ins Halbdunkel stürzen zu lassen. Der Donnerschlag folgte fast unmittelbar, er war so laut, dass ich sogar ein Echo davon in meinem Kopfhörer vernehmen konnte, obwohl Svenjas Seite des Nachrichtenstudios schallisoliert sein müsste. Immerhin wusste nun wirklich jeder in der Region, dass ein Sommergewitter bevorstand, wie jeden Abend in dieser Woche, während der mindestens eines über die Gegend weggezogen war, wobei keines davon eine richtige Abkühlung gebracht hatte. „Und nach diesem Donnerschlag, den ihr gerade im Radio hören konntet, kommen wir zum Wetter…“ Unbeirrt sprach sie weiter, während ich darauf wartete, dass ich nach den Nachrichten wieder zur Musiksendung wechseln konnte, die in jeder Nacht von einem Computer abgespielt wurde, den ich in der langweiligsten Schicht, die ein Radiotechniker haben konnte, überwachen durfte. Ich war die letzte Barrikade gegen die viel zu hohe Fehlertoleranz moderner Maschinen, die ich bloß kurz programmieren musste, damit sie dann den DJ ersetzen konnten. „Hallo, mein Name ist Philip M. und ich werde heute die ganze Nacht hiersitzen und nur schauen, dass der Computer nicht abstürzt“, dachte ich mir, während ich eine Vitamintablette in mein Wasserglas fallen ließ und das orange Sprudeln geistesabwesend beobachtete. Als ich Svenjas magische Worte endlich hören konnte, griff ich nach meiner Maus: „Und damit verabschiede ich mich, die letzten Nachrichten des Tages folgen um Mitternacht.“
Ein kurzer Klick und wieder dudelte Musik über den Äther, natürlich war es zu meinem Verdruss der Sommerhit, den man momentan in jeder Straße der Stadt hören konnte, in jeder Bar, Disco und gar aus den Wohnungen meiner Nachbarn. Zu Beginn hatte ich die charakteristische Pop-Melodie noch als erstaunlich angenehm empfunden, gar im Takt mitgewippt, doch mit der Zeit hatte ich mich so sehr an die monotonen Rhythmen gewöhnt und sie hatten sich so tief an meine Erinnerungen, an meine Streifzüge durch meine Heimat, gekoppelt, dass ich mittlerweile bloß noch dachte: „Ja, das ist meine Stadt.“ Ein lautes Klacken übertönte das gleichmäßige, doch mittlerweile laute, Prasseln der großen Regentropfen gegen die Fensterscheiben, als Svenja in meinen Technikraum trat und sich demonstrativ streckte. „Verdammt, noch eine Stunde. Und dann werde ich sowieso nochmals denselben Müll erzählen, hier passiert doch nie was.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern und wollte eben einen Schluck von meinem komisch schmeckenden Vitamintabletten-Drink nehmen, als das alte schwarze Telefon klingelte, das neben mir auf dem Tisch stand. Etwas erstaunt griff ich nach dem Hörer und hob ihn ab, es war ziemlich unüblich, dass um diese Zeit jemand im Nachrichtenstudio anrief. „Radio Z-Welle, Philip am Apparat“, meldete ich mich mit der rauchigen Stimme, die der Grund war, weshalb ich als Nebenjob die Jazz-Sendung moderieren durfte. Eine ruhige, perfekt modulierte und etwas gruselige Männerstimme meldete sich am anderen Ende – der Unbekannte sprach und ließ mich gar nicht zu Wort kommen, also lauschte ich seiner kurzen Rede und blieb noch einige Sekunden ruhig und hielt den Hörer weiterhin an mein Ohr gepresst, als ich bereits das Freizeichen in der Leitung summen hörte. Svenja konnte meinen Gesichtsausdruck erkennen, der mehr als nur ein wenig verwirrt zu sein schien, als ich den Hörer zurück auf den Apparat legte, und fragte: „Wer war denn das?“
Ich überlegte einen Augenblick, da ich nicht recht wusste, was ich von der ganzen Angelegenheit halten sollte, bevor ich zögerlich erklärte: „Wahrscheinlich bloß ein Verrückter.“
„Wieso, was wollte er?“, bohrte sie ungeduldig weiter.
„Er hat gesagt, dass er von Mitternacht an jede Stunde einen Menschen ermorden wird, wenn wir ihn nicht im Rahmen einer Live-Sendung verfolgen und seinen Hinweisen nachgehen. Und er hat gesagt, wenn wir die Polizei anrufen, beginne er sofort.“
Die junge Nachrichtensprecherin blickte mich ungläubig an. „Hier bei uns? Das muss ein Witz sein.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich skeptisch. „Er hat behauptet, dass er den ersten Hinweis im Topf mit der Azalee unten vor den Haupteingang versteckt hat. Ich darf nicht weg von hier, würdest du rasch nachsehen?“
Svenja nickte und hastete dann aus dem Studio ins Treppenhaus. Während sich ihre Schritte entfernten, fragte ich mich irritiert, wie viele betrunkene Teenager es brauchte, um auf eine derart abartige Idee zu kommen. Ein weiterer Blitz zuckte durch den Himmel über den regennassen Straßenzeilen und die glänzenden Tramgeleise leuchteten blendend hell auf. Wegen dem folgenden Donnerschlag hatte ich Svenjas Rückkehr nicht hören können und fuhr herum, als sie etwas außer Atem und von dem Wolkenbruch verklebtem Haar in den Technikraum trat. Erst hatte ich Mühe in dem Halbdunkel etwas zu erkennen, weil immer noch die hellen Linien als Geisterbilder über meine Netzhaut flackerten, dann begriff ich. Ihr Gesicht wirkte ziemlich bleich, als sie wortlos den transparenten Gefrierbeutel hochhielt, in dem unverkennbar ein abgetrennter menschlicher Finger zu sehen war.

Fortsetzung und Schluss in: „Der Finger in der Azalee“.
Autorin: Sarah
Setting: Nachrichtenstudio
Clues: Straßenbeleuchtung, Azalee, Löwenmähne, Vitamintablette, Fehlertoleranz
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