Der Club der toten Richter

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Das war die dümmste Idee seit langem“, lachte Jeanine und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Kaffeetasse, in der mehr Whiskylikör als Kaffee war. Fred schüttelte vehement den Kopf und rief aus: „Nein, das ist Tradition!“
„Und wieso siehst du denn hier nur uns beide?“, wollte Jeanine wissen, während sie dramatisch durch das schlecht beleuchtete Lehrerzimmer deutete. „Es ist zwei Uhr nachts, die Winterferien haben von einer Woche angefangen und wir geistern ganz alleine im verlassenen Gymnasium herum.“
„Nicht zu vergessen, dass wir ziemlich angetrunken sind“, fügte Fred hinzu und grinste etwas gar breit. „Doch im Ernst, es ist Tradition. Immer in der ersten Woche der Ferien trafen sich alle Lehrer für eine Nacht hier, um Arbeiten zu bewerten und ihr Leben zu diskutieren. Du unterrichtest erst seit einem halben Jahr hier, da ist es ganz normal, dass du es das erste Mal etwas komisch findest.“
„Kann schon sein“, meinte Jeanine und schien in diesem Moment zu begreifen, dass sie ihre Tasse auf die Kurzgeschichte eines Schülers gestellt hatte. Hastig zog sie sie weg und vergewisserte sich, keinen Abdruck hinterlassen zu haben, bevor sie fortfuhr: „Aber kannst du mir dann erklären, wieso nur noch du diese große Tradition aufrechterhältst? Ich bin wohl eher aus Blauäugigkeit hier gelandet, immerhin habe ich gemeint, dass alle da sein würden.“
„Gruppendruck ist ein witziges Tierchen, auch wenn er nur eingebildet ist“, lachte Fred und fuhr sich durch seine grauen Haare. „Ich habe ehrlich gesagt schon vermutet, dass du nur hier sein würdest, weil du denkst, dass alle Lehrer an dieser Schule das tun.“
„Und wieso hast du denn nichts gesagt?“, erkundigte sich Jeanine, die ihrem älteren Kollegen nicht wirklich böse sein konnte. Sie hatte sich mit dem Deutschlehrer bisher kaum ausgetauscht, einerseits unterrichtete sie Biologie und ihr Klassenzimmer lag am anderen Ende der Schulgeländes und andererseits hatte sie nie den Eindruck gehabt, dass sie beide viel gemeinsame Interessen hätten. Doch an dem langen Abend, der offenbar zu einer Freinacht geworden war, hatte sie mit ihrem Kollegen viel mehr Spaß gehabt, als sie erwartet hätte. Sie hatten sich über ihren Beruf und ihre Einstellung dazu unterhalten, über die Schule und ihr Leben.
„Ganz einfach“, begann Fred und lehnte sich entspannt zurück. „Ich habe geglaubt, dass du für diese Tradition eine der letzten Chancen bist und befürchtet, dass du sonst nicht kommen würdest.“
Jeanine runzelte die Stirn und schob ein paar Papiere zusammen, sie hatte Mühe, lange ruhig zu sitzen. Für einen Moment überlegte sie, bevor sie fragte: „Was hat es eigentlich genau mit dieser Sache auf sich?“
„Das ist eine lange Geschichte“, begann Fred und streckte sich. „Ich werde dir die kurze Fassung erzählen, um dich nicht unnötig zu langweilen.“ Er wirkte etwas wehmütig, als er sich an die Vergangenheit erinnerte. „Eigentlich ist die Geschichte auf meinem Mist gewachsen. Als ich als junger Lehrer an dieses Gymnasium kam, war es eine Zeit, in der hier der Lehrkörper noch so gewirkt hatte, als hätten sie ihre Hälse im Stehkragen eingeschnürt. Ich war der Rebell, der Idealist, und als ich nach einigen Jahren den Film „Der Club der toten Dichter“ sah entschloss ich mich, ein solcher Lehrer zu werden. Ich war sicher, dass ich meine Klasse begeistern könnte und ihnen zeigen würde, wie wunderschön Wissen und Neugierde sein können, was mir manchmal besser und manchmal weniger gut gelang.“ Er machte eine Pause und zog sein braunes Jackett aus, vermutlich lief die Heizung trotz der späten Stunde noch auf Hochtouren, und warf einen Blick zu Jeanine. Diese wirkte so, als hätte er ihr Interesse geweckt, was ihn dazu verleitete, fortzufahren. „Ich glaube, dass ich es geschafft habe, mir diese Einstellung bis heute zu erhalten und noch immer mehr oder weniger Erfolg damit zu haben.“ Fred gluckste leise, augenscheinlich fand er das, was jetzt kam, amüsant. „Doch ich war schon immer ein Dickschädel und so wollte ich nicht nur meine Schüler davon überzeugen, sondern auch meine Kollegen. Also kam ich auf die Idee, meine Kollegen zu überreden, einmal pro Semester dieses gemeinsame Treffen zu machen. Offiziell ging es darum, einen Abend lang Arbeiten zu bewerten und uns auszutauschen, doch insgeheim habe ich sie immer wieder dazu angestiftet, über unsere Aufgaben als Lehrer zu philosophieren und Diskussionen angeregt. Sind wir wirklich nur da, um unseren Schülern zu erzählen, was sie wissen müssen oder auch dafür, sie für dieses Wissen zu begeistern?“ Er machte eine rhetorische Pause, fuhr jedoch kurz darauf fort. „Jedenfalls konnte ich erst vor allem die jungen Lehrer begeistern, doch mit der Zeit wurden es immer mehr und am Ende habe ich beinahe die ganze Lehrerschaft dazu gebracht, an unseren kleinen Treffen teilzunehmen. Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg haben wir diskutiert, uns ausgetauscht und einander gegenseitig angespornt, bis die Sache schließlich irgendwann verebbte. Ich weiß bis heute nicht, ob es daran lag, dass die Kollegen immer desillusionierter wurden, daran, dass die jüngeren Familien gründeten und die älteren in Rente gingen oder daran, dass sie einfach nicht mehr besonders motiviert waren, doch im letzten Sommer war ich ganz alleine hier.“
„Oh“, murmelte Jeanine und schien einige Zeit schweigsam nachzudenken, bevor sie entgegnete: „Aber die Idee ist doch gut, es ist wirklich schade, dass niemand mehr kommt.“
„Ich weiß“, seufzte er. „Ich bin krank und werde nicht mehr allzu lange unterrichten können und dann wird die Sache entweder ein- für allemal aussterben oder jemand neues wird sich meinem kleinen Debattierclub annehmen.“
Jeanine begriff sofort, auf was Fred herauswollte, doch sie schwieg und nickte nur kurz. Er wartete einige Zeit, bevor er hinzufügte: „Eine, die jung ist und an die Sache glaubt, die überzeugt ist, der das Wissen etwas bedeutet, und die begriffen hat, dass jeder Tag einmalig ist …“ Er verstummte und schaute abwesend hinaus in die Nacht, wo die Schneeflocken unter einer nahestehenden Straßenlaterne wie orange, dicke Punkte vorbeitanzten. Die Überführung für Fußgänger, die über die große Straße vor dem Gymnasium führte, wirkte so dicht mit Schnee beladen, dass er sich fragte, ob der filigran wirkende Stahl sich unter der scheinbaren Last nicht jederzeit verbiegen würde. Jeannine riss ihn aus seinen Gedanken, als sie mit viel Verspätung fragte: „Und du glaubst wirklich, dass man die Sache noch einmal zum Leben erwecken kann?“
„Ich habe keine Ahnung, aber ich hoffe es“, antwortete er und nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse, bevor er sich einen Zimtstern von dem Teller mit Weihnachtsplätzchen fischte. „Aber einen Versuch ist es wert, oder?“
Jeanine nickte und begann zu lächeln. „Ja, auf jeden Fall.“
Für einige Zeit herrschte Schweigen, das die junge Lehrerin schließlich brach: „Wir sind also sowas wie die Überreste eines ausgestorbenen Clubs, der sich offiziell nur dazu trifft, Arbeiten zu bewerten …“, sie machte eine Pause und schien auf einen imaginären Trommelwirbel zu warten, konnte jedoch das breite Grinsen nicht unterdrücken. „Wir sind der Club der toten Richter!“
„Na dann, glauben wir daran“, meinte Fred, der nun hoffnungsvoller war, dass eine Tradition nicht aussterben würde, welche dieses Gymnasium für ihn immer zu etwas besonderen gemacht hatte. Jeanine wäre eine würdige Nachfolgerin, die bereit war, sich für ihre Schüler einzusetzen und die daran glaubte, dass Wissen mehr bedeutete, als die nächste Prüfung zu bestehen. Vielleicht gab es sie ja doch noch, die Lehrer, die sich nicht nach kurzer Zeit ihre Begeisterung für den Job rauben ließen. Er musste lächeln und fügte hinzu: „Carpe Diem.“

Im Gedenken an Robin Williams
Autorin: Sarah
Setting: Lehrerzimmer
Clues: Kurzgeschichte, Stehkragen, Blauäugigkeit, Verspätung, Überführung
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