Rückblende

Im fünfeckigen Zimmer waren drei bauchnabelhohe USM-Möbel angeordnet. Die Oberflächen aus blank geputzt weißen Platten, die in einem Quader aus Stahlröhren lagen. Zwei der Korpusse waren mit Schubladen in diversen Höhen bestückt, einer mit eingelassenem Waschbecken, darunter ein Schränkchen, in dem Tina den Mülleimer vermutete. Darüber waren Spender für Desinfektionsmittel, Latexhandschuhe und Handtücher angebracht.

Vor dreiundfünfzig Stunden hatte sie ihr Kind verloren. Angefangen hatte es mit leichten Krämpfen am Morgen, sie war gerade dabei ein Marmeladenglas zu öffnen. Heftige Schmerzen folgten nach dem Mittagessen, bevor der abgestorbene Fötus abends entfernt werden musste. Ihr Leben hing ein Weilchen am seidenen Faden, dann ging es ihr wieder gut. Einfach so.

„Vielen Dank für Ihren Anruf“, presste er zwischen keuchenden Atemzügen hervor. Er war die Strecke zur Zahnarztpraxis gerannt, statt im Verkehrschaos in ein Taxi zu steigen. „Wo ist sie?“ Eine Zahnarzthelferin beäugte ihn mitleidig, wahrscheinlich war sie neu, zumindest hatte er sie noch nie gesehen. Indes legte ihm Monika ihre manikürten Finger auf den Unterarm und schob ihn mit sanftem Druck den Gang hinunter.

Der Boden war schieferschwarz, ebenso die Stühle für Eltern oder sonstige Begleiter und der Bilderrahmen, der einen faden Kunstdruck beherbergte. Moderne Kunst eignet sich hervorragend für solche Räume, sie sagt nichts und alles zugleich, je nach dem, was sich der Betrachter wünscht, überlegte Tina einen Fleck in Erdbeerrot inspizierend.

Dennis war seit bald einer Woche in Houston auf Geschäftsreise und hatte keine Ahnung, dass sein Sohn gestorben war. Sie brachte es nicht über sich, ihm am Telefon das Herz zu brechen. Er freute sich so auf seine eigene kleine Familie, hatte er doch nie eine gehabt. Wie konnte sie ihm das wegnehmen?

„Wir …“, begann Monika sichtlich unwohl. „Wir haben das Behandlungszimmer abgeschlossen.“ Die Praxisassistentin senkte beschämt den Kopf und erläuterte: „Es tut mir außerordentlich leid, wir wussten nicht, was wir sonst tun sollten.“
„Das ist okay. Sie kümmern sich immer toll um Tina, wenn sie ihrer Erinnerung feststeckt. Danke.“ Er leierte die Worte herunter, hatte sie bereits so oft gesagt, bis sie ihre Bedeutung verloren.

Die lange Wand wurde von einer Fensterfront dominiert, die von der Decke bis zum Boden reichte. Gräulich tristes Nachmittagslicht schimmerte beinahe göttlich durch die steifgebügelte Gardine, verlieh dem sterilen Raum noch mehr Reinheit.

Im Kinderzimmer hatte Tina eine halbe Wand in Türkis gestrichen, die einzige Farbe, die beiden, Dennis und ihr, gefiel. Der Farbroller hinterließ seltsame Striemen, deswegen wollte sie ihn ersetzen. Das konnte sie sich jetzt sparen, wie so vieles anderes.

„Hat sie irgendwelchen Schaden angerichtet?“, fragte Dennis leise, wollte vermeiden, dass sie ihn hörte. Jüngst ging es ihr ein wenig besser, allerdings war es in der Vergangenheit häufiger zu unglücklichen, teilweise sogar gefährlichen Zwischenfällen gekommen.
„Oh, nein, nein“, winkte die Zahnarzthelferin vehement ab und fügte sogleich an: „Sie ist wie üblich sehr freundlich! Aber, nun, sie hat die Toilette ausgeräumt, eine Klopapierrolle durch den Flur geworfen und …“ Erneut ließ sie den Kopf hängen, ehe sie weitersprach, „… Ingrid in den Rezeptionstresen gestoßen.“

Hinter ihr waren zwei Wägelchen abgestellt, eines gefüllt mit fies aussehenden Instrumenten über deren Einsatzzweck sie keinesfalls nachdenken wollte. Das andere war schmaler und bestand aus einem Kasten mit abgerundeten Ecken. Auf der Abdeckung waren einige hellblaue Knöpfe und ein Trackball eingelassen, dahinter ein Bildschirm angebracht. Er war ausgeschaltet, genauso wie der andere, der auf dem Schubladenschränkchen rechts außen stand.

Es war ihr erster Versuch, sie sollte sich wenigstens eine zweite Chance geben, es bald wieder draufankommen lassen, das hatte auch ihre Ärztin gemeint. Dennis möchte das bestimmt. Oder? Sie fürchtete sich davor ihm in die Augen zu blicken und ihm diesen Wunsch auszuschlagen.

„Ich verstehe.“ Es kam nicht zum ersten Mal vor, er hatte bloß gehofft, ihre aggressiven Phasen hätten sich mittlerweile gelegt. „Ist etwas passiert?“
„Himmel, nein. Ingrid hat sich nur erschrocken“, gab Monika zurück, ehe sie den Türknauf ergriff.

In der Mitte der Zahnarztpraxis thronte, wie zu erwarten, der Behandlungsstuhl, flankiert von einem Kasten mit Spuckbecken und dem Bürostuhl des Kieferspezialisten. Eine große Lampe mit Schwenkarm hing von der Decke, die mit unregelmäßig zurechtgeschnittenen Planen verkleidet war, hier und da lugten Spots sowie ein Lüftungsgitter hervor.

Oder fürchtete sie sich davor, dass er es sich überhaupt nicht wünschte? Was wäre schlimmer?

Er drängte sich vor, öffnete die Tür und hielt inne, musterte seine Frau, die mitten im Behandlungszimmer auf dem Boden hockte und abwesend ins Leere starrte. „Schatz? Lass uns nach Hause gehen.“ Damit reichte er seiner Frau die Hand, ein Notizzettel mit der Schrift seines Anwalts fiel aus seiner Jackettasche. In Gedanken war er bei seinem vorherigen Termin, von dem er wegen ihres neuerlichen Zusammenbruchs weggerufen worden war. Sie konnte die schrecklichste Zeit ihres Lebens nicht loslassen, gleichermaßen wie er an ihr festhielt. Die Scheidungspapiere waren bereit. War er es auch?

Autorin: Rahel
Setting: Zahnarztpraxis
Clues: Klopapierrolle, Notizzettel, Marmeladenglas, Schränkchen, Abdeckung
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