Johns Schlüssel

Hey, mein Name ist Nora und ich bin heute eure Erzählerin. Setzt euch hin, bei uns in der Suppenküche hat es genügend Stühle für alle, das ist ja auch der Zweck einer Einrichtung für Bedürftige, dass jeder einen Platz bekommt, nicht wahr? Was ich euch berichten will, dauert nicht lange, bedarf keiner ausschweifenden Erklärungen, lediglich etwas Menschlichkeit, ihr könnt die Ladekabel getrost in der Tasche lassen, der Akku wird reichen.
Wisst ihr, ich arbeite seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren hier, ehrenamtlich versteht sich. Man höre sich das an; fünfundzwanzig Jahre! Als ich angefangen habe, war ich noch ein Kind, obwohl mein tatsächliches Alter etwas anderes hätte vermuten lassen.
Mit dreizehn hatte ich schon meine erste Vorstrafe wegen Diebstahls auf dem Kerbholz, dafür gab es einige Sozialstunden, mehr nicht. Nach dem dritten Vergehen ließen die Richter keine Nachsicht mehr mit mir walten, hatten wohl die Nase voll von dem Rotzbengel, dessen einzige Sorge dem nächsten Kick und nicht seiner Zukunft galt. Es folgten also zwei Jahre Jugendgefängnis wegen einer Tätlichkeit, danach schlug ich mich mit kleinen Gaunereien, aber vor allem der Brieftasche meines Vaters durch. Mit vierundzwanzig, als ich gerade mal wieder vor dem Gerichtsgebäude darauf wartete, abgeholt zu werden, hatte ich keine Ahnung, wie sehr mich die kommenden Wochen verändern würden. Der ehrenwerte Richter Hodgekins hatte mich zum Dienst in genau dieser Suppenküche verdonnert, doch ich verschwendete keinen Gedanken an meine Resozialisierung, noch weniger daran, anderen zu helfen, denen es schlechter ging als mir. Alles was mich interessierte war, auch diese Strafe so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und in mein Leben als Kleinkriminelle, die Fernsehgeräte aus Mietswohnungen klaute, zurückzukehren. Dank dem Geld meiner Familie fehlte es mir nicht an Perspektiven, lediglich an Vorstellungskraft. Ich war keineswegs glücklich mit meiner Situation, dümpelte ziellos dahin, las Comics oder sah fern. Insgeheim hoffte ich dennoch darauf, irgendwann auf magische Weise die Kurve zu kriegen, wenigstens jung zu sterben.
Mit vierundzwanzig war ich also noch ein Kind, eines, das fortan seine Tage in dieser Suppenküche zu verbringen hatte. Zu Beginn was das hier für mich nur ein weiterer, bedeutungsloser Zwischenstopp, freilich hatte ich nicht damit gerechnet, den Mann kennenzulernen, der mein Leben von Grund auf veränderte, meine Welt mit seinen leisen Worten auf den Kopf stellte.
Er hieß John, naja, so nannte er sich zumindest. John war von geringer Statur, ende Sechzig, besaß ein verwittertes Gesicht und blasse Augen, hinter denen man keinen besonders wachen Geist erwartet hätte. Ich nehme es mir nicht übel, den krummen Veteranen in den ersten Tagen verkannt zu haben, wie konnte ich auch ahnen, welche Weisheit in dem Alten wohnte? Er kam meist spätabends vorbei, setzte sich dort hinten auf die Bank, um die Zeitung zu lesen und danach gemächlich etwas Suppe und Pflaumenmus zu essen. Ein schmuckloser, trister Geselle, dessen einzige Freuden man am Boden eines Bierglases vermuten würde.

„Kann ich noch etwas Suppe haben?“ Nora blickte nicht von ihrem Groschenroman auf, nickte beiläufig. „Vielen Dank.“ Die Arbeit hier war alles andere als anspruchsvoll, sie musste sich kaum je um etwas anderes als den Abwasch kümmern, denn wenn sie keine Lust hatte, die Schöpfkelle zu schwingen, bedienten sich die Obdachlosen kurzerhand selbst. Im Vergleich zur Beschäftigung in der Gefängnisküche war es hier richtiggehend erholsam, obschon die Gesellschaft etwas angenehmer hätte sein können.
„Entschuldige“, wurde sie von derselben Stimme erneut gestört. „Darf ich dich etwas fragen?“
„Was denn?“ Entnervt legte Nora ihr abgegriffenes Buch beiseite und stützte sich mit beiden Ellenbogen auf das Buffet.
„Liest du gerne?“ Der Störenfried war etwas älter als der Durchschnitt der hier verkehrenden Männer und Frauen, hatte hellgraues, strähniges Haar sowie verkrustete Mundwinkel. Sie hatte ihn vermutlich schon einige Male gesehen, konnte sich allerdings nicht an seinen Namen erinnern.
„Wieso?“, blaffte sie. Eigentlich wollte sie ihn rasch loswerden, war dennoch etwas neugierig, was er von ihr wollte. Es kam nicht oft vor, dass die Obdachlosen sich mit ihr unterhielten, sie wussten, dass Noras Aufenthalt in der Suppenküche mindestens genauso unfreiwillig war wie ihrer.
„Ich dachte, du freust dich vielleicht darüber“, meinte der Alte ihr einen Wälzer reichend.
„Was ist das?“ Skeptisch nahm Nora das schwere Präsent an, entzifferte laut die goldenen Lettern auf dem Einband: „Franz Kafka, die Erzählungen. Was soll ich damit?“
„Du wirst sehen. Lies den Hund, der wird dir gefallen“, entgegnete der Mann und trottete sogleich mit seinem Suppenteller davon.

Ich habe sie gelesen, die ‚Forschungen eines Hundes‘, noch am selben Abend. Bis heute weiß ich nicht, weshalb ich John nicht wie alle anderen einfach ignoriert habe. Wahrscheinlich war mir bloß langweilig und der Groschenroman dermaßen mies, dass ich froh um neuen Lesestoff war. Trotzdem würde ich gerne glauben, dass ich es damals schon gefühlt habe, das Besondere an John. Naja, auf jeden Fall folgte ich den Überlegungen des Hundes, in dessen Gedankenwelt keine Menschen existierten und der nicht zu begreifen vermochte, wie groß seine Wissens- und Erkenntnislücken waren. Eine nette Geschichte, dachte ich mir, nichts weiter als eine nette Geschichte über einen dummen Hund.

„Und, hat Kafka mit dir gesprochen?“, wollte John wissen, als er seinen Teller großzügig füllte.
„So ein Quatsch“, erwiderte Nora seufzend, stellte dann gleichgültig fest: „Der Typ mag Tiere.“
„Könnte man so sagen. Er berichtet über ein besonderes Tier, findest du nicht auch?“ Gemächlich führte der Grauhaarige den Löffel zum Mund, schien die fade Suppe ausgiebig zu kosten.
„Hunde sind nicht so besonders“, gab Nora etwas trotzig zurück.
„Ach, gib dir noch etwas Zeit und du wirst es verstehen.“ Seine Worte klangen nicht herablassend, eher liebenswürdig, nachsichtig und väterlich, sodass Noras Blut hochzukochen drohte.
„Jetzt werd‘ nicht frech du alter …“, begann sie zornig, wurde jedoch im Nu von Johns sanften Lächeln und einer dezenten Geste unterbrochen.
„Hier, nimm das“, meinte er flüsternd, bevor er zu seiner Bank schlenderte.

Ich wünschte euch sagen zu können, welches das zweite Geschenk gewesen war. Ich weiß es nicht mehr, habe in den darauffolgenden Wochen und Monaten durch ihn so viele Geschichten erlebt, dass sie für ein ganzes Leben ausreichen würden. Niemals hat er mit mir darüber gesprochen, weshalb er mir die Bücher brachte, aber seine Treffsicherheit kann nicht purer Zufall gewesen sein. Fehlte es mir an Zuversicht und Zukunftsglauben, ließ er mich die Erde, ihr Potential durch Jule Vernes Augen erblicken. Plagte mich die zerschmetternde Trauer, Trauer um den Menschen, den zu sein ich verpasst hatte, sagte er mir mit Frischs Worten, dass ich eine andere werden kann. War ich frustriert von der Realität, der Freiheit, nach der ich mich verzehrte und die immer einen Schritt vor mir herrannte, beflügelte er meinen Willen mit der Sehnsucht des Grafen von Monte Christo. Und, zuerst, bevor allem anderen hielt er mich an dem Hund zuzuhören, zu erfassen, was ihm nicht möglich war.
Wie ich damals, wie viele von uns heute, so erkennt Kafkas Hund die Grenzen seiner eigenen Freiheit nicht. Barrieren, die wir uns selbst zuzuschreiben haben, weil wir auf den Anschein vertrauen, alleine uns selbst als Spiegel der Welt zu Rate ziehen. So mag manch einer in dieser Suppenküche sitzen, die Gesichter des Gegenübers blass und vergänglich registrieren, Urteile fällen, deren Richtigkeit wir nicht kennen können. Ich sage euch, so wahr ich hier stehe …

„Der Sand rinnt stetig.“ John war die Müdigkeit deutlich anzusehen. Einst, vor langer Zeit, musste er ein kräftiger Bursche gewesen sein, würdig eines Captain America. Doch der Krieg hat ihn seines Patriotismus‘ beraubt, die Straße seiner Kraft. „Es ist schmerzhaft, der eigenen Sanduhr zuzusehen.“
„Was redest du da, John?“, wiegelte Nora die Angst ihres Freundes ab. „Du bist stark wie ein Ochse, ein Hornochse, um genau zu sein.“ Ihre Scherze sollten lindern, stattdessen entlockten sie dem alten Soldaten nichts weiter als ein wehmütiges Lächeln.
„Schon gut, Nora, meine Zeit hier war voller Geschichten, ich bin bereit, sie nun dir zu überlassen.“ Mit einem heiseren Husten erhob sich John, legte einen einfachen Schlüssel auf das Buffet und schob ihn der Gefährtin seiner letzten Tage zu. „Tust du mir einen Gefallen, Nora?“
„Was du willst, John“, antwortete sie sofort und meinte es so, egal was er sich wünschte, sie würde es ihm erfüllen. Nur durch ihn, seine Bücher, sein Feingefühl für das, was ihr fehlte, hatte sie nach und nach, Schritt für Schritt, ihren Weg gefunden.
„Die Worte anderer haben mich vieles gelehrt. Aber, Nora, ich wünsche mir so sehr, dass du es leben wirst.“

Ich bin Nora und ich bin heute diejenige, die euch Johns Geschichte erzählt. Sie ist nicht komplett, ist übersät von Lücken und Vergessenem, bloß das Menschliche bleibt. Die Hoffnung, von anderen lernen zu dürfen, seien es gefeierte Schriftsteller, oder ein unscheinbarer Obdachloser. Die Einsicht, dass wir, auch wenn wir nicht alles wissen können, niemals nur gierig lesen, sondern noch gieriger leben müssen, um Lücke für Lücke mit Erinnerungen zu füllen. Das hier ist Johns Schlüssel, der Schlüssel zu einem Schließfach voller Bücher und morgen, wenn die Bauarbeiten beginnen, die Suppenküche ein für alle Mal schließt, wird er der Schlüssel zu Johns Bibliothek werden.

Autorin: Rahel
Setting: Suppenküche
Clues: Groschenroman, Pflaumenmus, Sanduhr, Ladekabel, Captain America
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei fruehstuecksflocke. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

6 Gedanken zu „Johns Schlüssel“

    1. Hochverehrter Weltenschmied,
      ich kann dem nur zustimmen, Rahel hat da echt einen super Text verfasst! :)
      Wenn du den nächsten Text mit deinen Vorgaben nicht verpassen möchtest, kann ich dir unseren wöchentlichen Newsletter emofehlen, der frischfröhlich deine Mailbox zuspammt und dich über alle Erscheinungen bei uns informiert: https://www.cluewriting.de/newsletter/
      Aber shcon im Februar ist’s ja wieder so weit und wir freuen uns schon! :)
      Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen aus der Clue Writing Redaktion
      Sarah

    1. Seid gegrüsst, werte Frau von und ZuLesen,

      vielen lieben Dank für deine netten Worte und vor allem, das angekurbelte Gehirn. Ich freue mich immer, wenn meine Gehirngespinste die graue Materie anderer zum wackeln bringt.

      Mit lieben Grüssen und grandiotastischen Wünschen
      Deine Clue Writer
      Rahel

    1. Heya Jennifer

      Hach, es ist immer schön, fremde Gehirne kurz in Brand zu setzen (wenn ich mal gross bin, will ich Hemispherpyromane werden) ^^

      Mit lieben Grüssen und, du kennst es ja, grandiotastischen Wünschen
      Rahel

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