Präsidiale Stockenten

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„John Smith? Was für ein Name soll denn das sein?“, rief Aaron lachend aus, während er den Brief zur Seite legte. „Welche Eltern sind so grausam, ihr Kind so zu nennen? Kein Wunder, dass er Anwalt ist.“
Er sah sich in dem schwach erleuchteten Großraumbüro seiner Kanzlei um und ließ seinen Blick dann über die nächtlichen Lichter der New Yorker Skyline schwenken, wobei er immer sein Spiegelbild in der Fensterfront erkennen konnte. Das Schöne daran, im fünfzigsten Stock zu sein, war dass man die grandiose Aussicht genießen konnte; man konnte die Spitzen der Hochhäuser, wie sie majestätisch vor dem großen gelben Mond in den Himmel ragten, erkennen, während ihre breiten Fundamente unter einem endlos weit entfernt schienen. Außerdem musste man so auch keine Passanten sehen, um deren Freundlichkeit es meist nicht gut bestellt war.
„Klar, ich bin ja auch Anwalt“, murmelte er, während er sich auf seinen Schreibtisch setzte.
„Du bist Anwalt und arbeitest für die Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten“, konnte er Lindseys Stimme vernehmen; sie schien unter einem Tisch zu liegen, der einige Fuß entfernt stand.
Ruhe auf den billigen Plätzen“, rief er zurück, während er schon beinahe obsessiv eine Falte an seinem Designeranzug glattstrich und dann mehr an sich selbst gerichtet fortfuhr: „Wieso muss die Wahl auch mitten in der Wirtschaftskrise sein? Das macht die Sache auch nicht einfacher.“ Er dachte etwas darüber nach, bevor er in Gelächter ausbrach und fragte: „Meinst du Ron hat noch immer eine Flasche Whisky in seiner Schublade versteckt?“
„Der ist Alkoholiker, was denkst du? Der hat nicht bloß Whisky, der hat eine halbe Minibar da drin“, kam die Antwort von Lindsey, die sich auch prompt erhobt und zu dem Koloss von einem Mahagoni-Schreibtisch hinüberwankte, der Ron gehörte. „Ich habe irgendwo noch eine Haarspange, damit krieg ich das Schloss auf“, nuschelte sie. Aaron beachtete sie bloß kurz, dann schweiften seine Gedanken wieder ab. Er fragte sich, warum zwei gute Anwälte Freitagnacht auf Drogen in ihrem Büro saßen und so versuchten, neue Aspekte für eine Wiederwahl-Kampagne zu entdecken. Brainstorming der etwas anderen Art, sinnierte er, bevor er trocken murmelte: „Das nennt man Innovation.“
Natürlich brach er wieder in Gelächter aus – sein Repertoire schien heute Nacht sehr beschränkt zu sein, mehr als zu Lachen und nachzudenken schien ihm einfach nicht mehr gelingen zu wollen und bisher war weder ihm noch seiner Kollegin etwas auch nur annähernd Sinnvolles eingefallen. Eben als er sich streckte und etwas sagen wollte, obwohl er es im selben Moment bereits wieder vergessen hatte, konnte er hinter sich das laute Klacken von Lindseys Absätzen auf Rons teurer Mahagoni-Platte hören und fuhr herum. Er bemerkte gerade noch rechtzeitig um sich zur Seite werfen zu können, das sie mit Anlauf gesprungen war und dazu schrie: „Vorsicht, Stockente im Landeanflug“. Einen Augenblick später landete sie mit einem plumpsenden Geräusch neben ihm auf dem Teppich.
„Du spinnst ja total“, erklärte er entschieden, bis sein Blick auf die Flasche Whisky fiel, die seine Kollegin aus unerfindlichen Gründen bei der ganzen Aktion unbeschadet in der Hand hatte halten können. „Das wird ein Spaß!“, prustete er. „Stell dir das Gesicht von Ron vor, wenn der am Montag an seinen Tisch sitzt und bemerkt, dass wir seinen besten Alkohol weggetrunken haben.“
Sie nickte und erklärte dann in ihrem seriösesten Tonfall: „Und er wird nie auf uns kommen, weil wir in der Firma als die Spießer gelten, die lange arbeiten. Wenn die wüssten, was wir jeden Freitagabend für Brainstormings machen…“
„Das ist es!“, rief Aaron überzeugt aus. Er rannte auf Rons Tisch-Koloss zu und sprang hinauf; auf dem Ding fühlte man sich, als stünde man auf einem Schlachtschiff. Während er sich in eine heroische Pose warf, erklärte er entschieden: „Ein Lichtstreifen am Horizont – wählt den Präsidenten!“
Lindsey saß noch immer auf dem Boden und blickte verwirrt zu ihm auf, während sie den Whisky wegstellte. Schließlich erklärte sie in ihrer formellsten Sprache: „Ich will dir ja nicht den Abend verderben, aber wir sollten eigentlich über die rechtlichen Aspekte der Kampagne nachdenken, weil wir dazu nächste Woche eine Projektmappe verfassen müssen. Wir sind Anwälte in einem Großraumbüro, nicht Werbefritzen.“
„Auf Drogen bist du total verrückt, aber mit Alkohol wirst du zur Stimme der Vernunft“, erklärte Aaron, während er nachdenklich vom Tisch stieg. Plötzlich hellte sich sein Blick auf und er fragte: „Willst du mich heiraten?“
„Du schweifst vom Thema ab“, entgegnete Lindsey, ohne seine Frage begriffen zu haben. „Das können wir erst machen, wenn wir unser Dossier fertig haben.“
„Und dann kaufen wir uns ein Penthouse, werden irgendwann beide Teilhaber in der Kanzlei und können die anderen dummen Anwälte ausbeuten und bei großen Prozessen mitmachen“, sinnierte er freudig. „Jetzt bin ich sogar motiviert, die blöde Projektmappe zu schreiben.“
Sie erhob sich, warf den Whisky nonchalant in den Mülleimer und proklamierte entschieden: „Ich will einen Serienkiller verteidigen! Wer zuerst am Computer ist, wird vorher befördert – auf drei!“
Er huschte neben sie und während sie den Countdown zählte und sie beide wankend in den Startlöchern standen, fragte er sich, ob er nun die Frage mit dem Heiraten ernst gemeint hatte.

Fortsetzung und Schluss in: „Die Kreuzfahrt“.
Autorin: Sarah
Setting: Büro
Clues: Wiederwahl, Koloss, Freundlichkeit, Lichtstreifen, Landeanflug
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