Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Der Straßengraben

Dies ist der 4. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.

Bisher hatte sich niemand von ihnen die Zeit dazu genommen über das Warum nachzudenken; Alles war so unerwartet passiert und hatte über Nacht die Parameter des Lebens derart auf den Kopf gestellt, dass diese eigentlich so offensichtliche Frage schlichtweg nie angesprochen worden war. Doch nun, nach beinahe einem viertel Jahr, gab es in Tess‘ Kopf keinen anderen Gedanken mehr.
„Können wir diese leidige Diskussion endlich lassen?“, wollte Barbara, erschöpft vom langen und von  Clints nie enden wollenden Theorien untermalten Marsch, endlich wissen. Entnervt zupfte sie eine flaumige Feder aus ihrer Daunenjacke und setzte sie beiläufig auf die Nase ihres Enkels, bevor sie sich Tess zuwandte und mit einem müden, jedoch nicht minder gutmütigen Lächeln sagte: „Ich weiß, dass dir das wichtig ist, Liebes, aber für heute habe ich wirklich genug davon.“ Die Angesprochene nickte verständnisvoll und beendete das Gespräch mit ihrem Kumpel mit einer dezenten Geste in dessen Richtung. Barbara hatte recht, dachte sie sich, für heute hatten sie wirklich zu genüge darüber diskutiert, weshalb ihre ehemaligen Mitmenschen sich bei jeder Gelegenheit auf sie stürzten, um ihnen das Fleisch vom lebendigen Leib zu reißen.

Wie so oft war es Jack gewesen, der sie zuerst gehört hatte – vermutlich hatte er als jüngster im Bunde noch das beste Gehör, da er es noch nicht mit lauten Konzerten zerstört hatte, so wie Tess und Clint. „Psst“, vernahm sie seine viel zu erwachsen klingende Stimme neben ihrem Ohr zischen. Mit einem gleichmäßigen Ruck verbesserte sie ihren Griff um die dünnen Waden ihres menschlichen Rucksacks, welcher unbeirrt weiterlauschte und schließlich flüsternd sagte: „Ich glaube sie kommen von Nordwesten, bin mir aber nicht ganz sicher.“
Die drei Erwachsenen wandten ihre Blicke gleichzeitig in die angegebene Richtung, ehe sie sich etwas ratlos ansahen. „Ich weiß nicht“, begann Clint leise und fuhr mit seinem Zeigefinger unentschlossen auf der Straßenkarte herum. „Das einzige Dorf liegt mehrere Meilen östlich von uns.“ Tess hatte Jack vorsichtig von ihrem Rücken auf den sandigen Boden des Straßengrabens gleiten lassen und studierte nun ebenfalls interessiert die zerknitterte Karte, auf deren oberer linker Ecke ein großes Kreuz leuchtete, welches Nick vor Monaten mit einem Permanentmarker hingemalt hatte. Ein wehmütiges Grinsen zuckte von den anderen unbemerkt über ihre Lippen, als sie an den Playboy dachte, der es sicher amüsant gefunden hätte, dass sie nun mit einem Westernheld, einer Großmutter und einem Kind herumzog.
„Nun“, unterbrach Barbara die angespannte Stille, räusperte sich kurz und faltete dann ihre Hände nachdenklich zusammen, bevor sie fortfuhr: „Die meisten Kleinstädte in dieser Gegend haben doch nur eine große Straße, die mitten hindurch führt, richtig?“ Weder Tess noch Clint verstanden worauf die ältere Dame hinauswollte und hoben beinahe simultan eine Augenbraue, bevor sie nickten. „Naja, die Biester sind dumm, soviel wissen wir bereits und sie laufen einander hinterher.“ Wieder sahen sich die anderen beiden perplex an, währendem Jack, der auf ein freistehendes, ausgebranntes Auto geklettert war, offenkundig weiter aufmerksam lauschte. Auch wenn er immer wieder unnötigen Lärm verursachte, der Junge hatte wirklich ein unerschütterliches Pflichtgefühl, das musste man ihm lassen.

„Und?“, wollte Clint mit hochgezogenen Schultern schließlich wissen, bevor er die Karte schludrig zusammenfaltete und in die Außentasche seines Rucksackes stopfte. „Naja, ich könnte mir vorstellen, dass sie alle über die Straße in eine Richtung geleitet worden sind – wie bei einer Gießkanne.“
„Und wenn die Straße nach Nordwesten führt…“ Clints Augen leuchteten ob der plötzlichen Erkenntnis auf, so wie die eines Schülers, der gerade eben begriffen hatte, wie man eine Gleichung mit zwei Unbekannten löst. „Natürlich!“, schrie er und klopfte Tess rabiat auf den Hintern, so dass diese einen Schritt nach vorne taumelte und er einen bösen Blick von Barbara erntete.
„Also ich weiß jetzt echt nicht, weshalb dich das so freut“, murrte Tess und rieb sich ihren Allerwertesten, währendem sie heimlich den Boden nach etwas absuchte, um es ihrem Kumpel an den Kopf zu werfen. Clint trieb sie zuweilen beinahe in den Wahnsinn, er war kindisch und so stur wie ein altes Maultier und seine Gutmütigkeit hatte sie schon oft in gefährliche Situationen gebracht. Doch selbst wenn es alles andere als einfach war jede Stunde jedes Tages mit einem Typen zu verbringen, der er für witzig hielt, sich während der Apokalypse über Zombiefilme zu unterhalten und der grauenhaft geräuschvoll auf einem alten Kaugummi herumkaute, war sie dennoch unendlich froh um seine Freundschaft.
„Ja, begreift ihr denn nicht, was das bedeutet?“, fragte Clint entgeistert und verwarf seine Hände theatralisch. „Wenn es stimmt, was Barbara sagt, können wir die Dinger leiten – so wie Schafe!“ Kurzes Schweigen folgte, währender offenbar alle versuchten sich auszumalen, was das für ihr Überleben bedeuten konnte, bis Jack von dem Autowrack sprang und mit einem sarkastischen Tonfall, welcher für ein Kind seines Alters alles andere als angebracht schien, zu Bedenken gab: „Ja, fleischfressende Schafe.“

Nachdem klar war, dass die Horde, die Jack gehört hatte, nicht in ihre Richtung unterwegs war, hatten sie ihren Zwischenstopp unterbrochen und waren stumm weitergelaufen. Tess wusste nicht genau, was die zuvor eher fröhliche Stimmung so drastisch gekippt hatte – vermutlich lag es ihnen allen schwer auf dem Magen, dass ihr Jüngster das Leben mit einer Ernsthaftigkeit sah, die sich niemand für ihn wünschte. Barbara und Jack gingen Hand in Hand einige Meter vor ihnen und Tess starrte wie hypnotisiert auf das rhythmisch hin und her baumelnde Kabel, welches Clint vor wenigen Tagen von einer zersplitterten Computermaus abgerissen hatte, um Jacks Schlafsack an dessen Tasche zu befestigen. Ein tiefer Seufzer entwich ihr, als sie die Superheldenfiguren auf der Campingausrüstung betrachtete und ging richtig in der Annahme, dass Clint ihre Gedanken verstand. Aufmunternd legte er seinen rechten Arm um ihre Schultern und legte seinen Kopf seitlich gegen den ihren, ohne langsamer zu werden.
„Der packt das schon“, flüsterte er sanft, doch sie wusste, dass die Ideologie, dass Kinder Kinder sein sollen, keinen Platz mehr in dieser Welt haben würde. Der Straßengraben wurde etwas flacher und führte sie auf eine holprige Querstraße, die wohl zu einer nahegelegenen Farm führte und sie mussten nicht lange darüber diskutieren, ob sie dort ihr Nachtlager aufschlagen sollten – sie waren zu müde und die Sonne stand zu tief, als dass sie sich die Gelegenheit auf ein richtiges Bett entgehen lassen würden.
„Ich bin immer noch der Meinung, dass es etwas Außerirdisches war. Ihr wisst schon, irgendein Virus oder sowas, das mit dem Eis eines Meteoriten hier gelandet war und dann aufgetaut wurde.“ Tess rollte mit den Augen, rieb sich die Schläfen und wollte gerade Luft holen, um ihren Kumpel von einer neuerlichen Theoriestunde abzuhalten, als Barbara ihm einen Kieselstein anwarf und das Thema, zumindest vorläufig, mit einem wütenden Stirnrunzeln abbrach.

Autorin: Rahel
Setting: Straßengraben
Clues: Computermaus, Permanentmarker, Ideologie, Freundschaft, Gießkanne
Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing