Jubiläums-Special | 107 Minuten | Tobias und die Todgeweihte

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 4. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.

Tobias tippte gelangweilt auf seinem neuen iPhone herum und versuchte tunlichst Monica zu ignorieren, deren fröhliche Gesprächigkeit ihn heute besonders nervte. „Scheiße!“, fluchte er, als der Krankenwagen über das altbekannte Schlagloch vor der stillgelegten Glühbirnenfabrik fuhr und er deswegen sinnlos einen wütenden Vogel ins Nirgendwo feuerte. „Ruhiger Abend“, stellte Monica mit einem erleichterten Lächeln fest und entlockte Tobias, der solch langweilige Einsätze auf den Tod nicht ausstehen konnte, nur ein desinteressiertes Grinsen. Keine fünf Minuten  später knisterte der Funk und der Ambulanzwagen raste mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit zu einem Fahrzeugunfall mit Personenschaden. Aufgeregt steckte Tobias sein Telefon weg und freute sich darüber, dass endlich etwas passiert war, das seine Langweile vertreiben würde. Er schämte sich nur kurz dafür und klammerte sich an den Handlauf, der neben seinem Sitz angebracht war.

„Shit, Shit, Shit…“, murmelte Monica, als sie die Metallbahre, auf welcher die schwer verletzte Frau lag, über die Schienen hastig in den Krankenwagen schob. Es war kurz nach neun Uhr und Tobias musste sich bemühen, um sich seine Freude über den äußerst interessanten Zustand der Patientin nicht anmerken zu lassen. „Sie atmet noch“, sagte er zu sich selbst und versuchte im zertrümmerten Gesicht der Unbekannten Anzeichen von geistiger Anwesenheit zu erkennen. „Können Sie mich hören?“
Als der Krankenwagen endlich in Bewegung gekommen war, war die junge Frau gerade lange genug zu sich gekommen, um sich mit ihrem Vornamen, Lydia, zu identifizieren und Tobias hatte sich etwas drüber geärgert, dass sie es vor ihrer Ohnmacht versäumt hatte, ihm auch ihren Nachnamen zu verraten. Routinierter als es ihm lieb war, griff er nach der vorbereiteten Epinephrinspritze und setzte sie, ohne zuerst einen Zugang zu legen, direkt an der Arteria brachialis an, bevor er seine Kollegin anwies, schon mal den Defibrillator aufzuladen.

Man hätte Tobias abgestumpft nennen können, aber das wäre nicht ganz korrekt gewesen, denn neben seinem messerscharfen Verstand hatte es noch nie eine besonders mitfühlende Seite gegeben. Er war das Kind gewesen, das aus reiner Neugier Tiere sezierte, der Jugendliche, der zu seiner Unterhaltung seine Freunde gegeneinander aufgehetzt hatte und er war Arzt geworden, nicht weil er einem noblen Zweck dienen wollte, sondern weil es ihm gefiel, Macht über das Leben anderer zu haben. Doch genau diese emotionale Entfremdung war es, die es Tobias erlaubte, sogar im grössten Chaos professionell, kühl und zielorientiert zu handeln und die ihn schlussendlich zu einem hervorragenden Notfallarzt machte.
Mit geübten Handbewegungen hatte er den EKG-Monitor eingeschaltet, den Fingersensor und die Blutdruckmanschette angebracht und sich rasch einen kurzen Überblick über den Zustand seiner neuen Patientin gemacht. „Die macht’s nicht mehr lange“, kommentierte er trocken und beobachtete amüsiert, wie sich ein erschrockener Ausdruck auf Monicas Gesicht breit machte.

Währenddessen er die Paddles zum wiederholten Male auflud, starrte er zur stählernen Decke des Krankenwagens und nahm sich kurz Zeit, sich vorzustellen wie es wäre, in diesem Augenblick selbst auf der schmalen Bahre zu liegen. Die Elektroden entluden ihre Spannung und das geschwächte Herz, das leb- und wehrlos vor ihm lag, wurde zu einem weiteren Schlag gezwungen. „Na komm schon“, flüsterte er etwas genervt, als sich der kurze Ausschlag wieder der Flatline wich. Monica, die im Gegensatz zu ihm große Probleme damit hatte, sich in dem schlingernden Krankenwagen aufrecht zu halten, wirkte zunehmend panisch und Tobias nahm sich vor, bei Gelegenheit seinen Vorgesetzten von ihrer Unfähigkeit zu berichten – vielleicht wäre das eine Möglichkeit, die gesellige Notfallschwester ein für alle Mal loszuwerden.
„Zeitpunkt des Todes“, begann er nach einem erneuten Blick auf den Monitor, doch ehe er die aktuelle Uhrzeit, einundzwanzig Uhr vierzehn aussprechen konnte, sprang die Herzspannungskurve unerwartet, was Monica, der bereits eine einsame Träne über die Wange lief, dazu veranlasste ein euphorisches Kichern von sich zu geben. „Ha!“, schrie Tobias, griff sich den Defibrillator und malte sich gedanklich schon aus, wie er seinen Erfolg gebührlich würde feiern wollen, sobald er diese Todgeweihte entgegen aller Wahrscheinlichkeit lebendig ins Spital gebracht hätte.

Die Räder quietschten und der Kastenwagen schleuderte so heftig, dass selbst die gut befestigten Utensilien in seinem Inneren durcheinanderflogen. Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte medizinisches Besteck scheinbar schwerelos vor Tobias‘ Augen – als wäre die Welt für diesen einen Atemzug stehen geblieben. Als die Bewegung zurückkehrte, sah er wie Monicas Schädel hart auf dem Verbandswagen aufschlug, aufplatzte und weiße Maße sichtbar wurde, bevor sie von der heruntergefallenen Patientin begraben wurde.
Verstört sah sich Tobias in dem verwüsteten Gefährt um. Als er sich endlich wieder sammeln konnte, bewegte er sich ächzend und  bemerkte nur nebenbei, dass er einen offenen Armbruch, sowie mehrere gebrochene Rippen zu haben schien. Er vernachlässigte jede Vorsicht und richtete sich trotz der Gefahr einer Wirbelsäulenverletzung auf und kletterte über die beiden verunfallten Frauen, um aus dem kleinen, mit getönten Scheiben verglasten Fenster zu blicken, in der Hoffnung, er würde etwas erkennen können, das den Vorfall erklären würde.

Die Sirenen des zum Stillstand gekommenen Krankenwagens hallten mit einem metallenen Klang durch die abendliche Käferallee und Tobias, der beim Versuch sich die Ohren zuzuhalten gerade eine Platzwunde an seiner Stirn entdeckt hatte, sah wie ein nagelneuer dunkelblauer 3er BMW mit rauchenden Reifen auf ihn zuschlingerte. Eine seltsame, morbide Vorfreude verdrängte die aufkommende Panik in ihm und kurz bevor die beiden Wagen zusammenstießen wusste Tobias, dass seine Neugier, wie es wohl wäre, selbst auf der schmalen Bahre zu liegen, in sehr naher Zukunft befriedigt werden würde. Erstaunt über seinen letzten Gedanken schloss Tobias die Augen und ergab sich, währendem die Sirenen verstummten.

Autorin: Rahel
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