Na toll

„Na toll“, dachte ich mir, „schon wieder eines dieser wasserstoffblonden Teenie Mädchen, die sich nur hier hin verirren, weil Rockmusik gerade im Trend liegt und nicht, weil sie tatsächlich daran interessiert sind.“ Ich war natürlich ganz anders, ich atmete, blutete Musik, weswegen ich mich auch dazu entschieden hatte nach der Schule hier im Musikgeschäft zu arbeiten, anstelle davon den besser bezahlten Studentenjob im Kaffeehaus anzunehmen. Demonstrativ wandte ich mich von der Eingangstüre ab, schlenderte gelangweilt in das Hinterzimmer, in dem ein Großteil der Gitarren ausgestellt war und holte mir ein abgegriffenes Vorführmodell vom Regal. Die Les Paul lag gut in meiner Hand und es schien mir, als würde sich das Lied von alleine spielen; seit mir die Melodie an meinem siebzehnten Geburtstag zum ersten Mal durch den Schädel gegeistert war, feilte ich so gut wie jeden Tag daran. In meinen Gedanken sang ich laut und kräftig, schrie mir all den Frust von der Seele, der mich tagtäglich begleitete. Bald vergaß ich das Gefühl der Einsamkeit, das einem in einem überfüllten Raum voller Fremder überkommt, die Angst davor, im Bodensatz der Gesellschaft für immer zu verschwinden und je lauter meine Gedankenstimme schrie, desto glücklicher wurde ich in meinem losgelösten, musikerfüllten Geist.

„Entschuldigung“ Ihre Stimme klang fragend, beinahe schüchtern und ihr langes Haar hing wippend über das schwarze Stirnband, als sie ihren Kopf schräg hielt um neben dem Türrahmen vorbeizusehen. „Na toll“, dachte ich mir bevor ich meine alte Freundin, die Gitarre genervt auf die Seite legte und mich um ein professionelles Lächeln bemühte. „Wie kann ich ihnen helfen?“ Ihr Gesicht erhellte sich augenblicklich und die Freude, die sie umgab, entlockte mir ein gutmütiges Grinsen. „Ich suche ein Geschenk für meinen Dad“, erklärte sie mir, blickte sich dann etwas verunsichert im Gitarrenraum um und erwähnte, dass ihr Vater wohl Gitarren mochte. „Na toll“, regte ich mich schon wieder auf und fragte mich, wie lange dieses Beratungsgespräch wohl dauern würde. Ich hasste es, wenn nichtsahnende Idioten hier hin kamen und von mir erwarteten, dass ich die Denkarbeit für sie übernahm, beinahe so sehr wie ich diese Poser hasste, die hier herumhingen und nur so taten, als hätten sie Ahnung von Musik. „Es tut mir leid, ich kann ein anderes Mal wiederkommen wenn du gerade keine Zeit hast.“ Sie spielte mit einem der vielen Anhänger, der an ihrem Rucksack hing und sah mich etwas enttäuscht an, währendem ich abwesend den Kopf schüttelte und sie mit einer ausladenden Geste in den Gitarrenraum lockte.

Es hatte zwar eine gute halbe Stunde gedauert, aber ich hatte herausfinden können, dass ihr Vater wohl ein großer Country Blues Fan war und sich seit längerer Zeit eine Resonatorgitarre wünschte. Also zeigte ich ihr unsere kleine Kollektion und konnte sie sogar davon überzeugen, dass die Dean Cutaway für ihren Vater eine bessere Wahl war als die Fender FR 48, obwohl letztere „schöner glänzte“; eine Anmerkung, die mich schon wieder genervt seufzen ließ. Als ich das gute Stück, zusammen mit einem Bottleneck und einem Fingerpick, in den Kasten legte, sah ich wie sie verstohlen eine Träne von ihrer Wange wischte und mich dann, als sie meinen Blick bemerkt hatte, entwaffnend anlächelte. „Ach“, sie gluckste kurz unkontrolliert und nestelte nervös in ihrem Rucksack. Verdutzt blieb ich erst versteinert, wie ein Opossum das sich tot stellte, stehen, besann mich dann aber eines Besseren und suchte nach einem Taschentuch, welches ich ihr hastig reichte. „Na toll“, ich traute mich nicht, mich zu erkundigen was los war und sah mich stattdessen im Musikgeschäft um. Als ich den Hipster Idioten entdeckte, der mit seinem dämlichen Schnurrbart vor den Banjos stand, fragte ich sie, ob sie kurz ins Büro kommen möchte und zu meinem Erstaunen nickte sie erleichtert.

„Na toll“, dachte ich. Da war ich also, im vollgestellten Büro meines Chefs, zusammen mit einem weinenden Mädchen. Ich wusste nicht, wie ich auf ihre Tränen reagieren sollte, wusste nicht einmal, woher sie kamen und ob ich überhaupt etwas tun musste. Ich war der Typ Mensch, dem es schwer fällt Empathie für andere zu empfinden, der bei mehr als einer Gelegenheit überfordert war mit emotionalen Reaktionen und ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, keinen Zugang zu meinen Mitmenschen zu finden; so, als würde da dieser zwischenmenschliche Draht fehlen, der uns durch die natürliche Auslese mitgegeben worden war und den andere als selbstverständlich erachten. Bisher hatte mir das nie etwas ausgemacht. Ich war frei und es war mir egal, dass ich für mich alleine stand, ich war weder auf Anerkennung noch auf Zustimmung anderer angewiesen. Doch heute, ja heute, war es anders. „Entschuldige“, ihre Hände zitterten als sie mir ihr Telefon unter die Nase hielt. Das Foto zeigte einen Mann, der wahrscheinlich älter wirkte als er tatsächlich war und in dessen Körper eine absurde Anzahl von Schläuchen steckte. Mein Herz beantragte ein heimliches Auslieferungsgesuch, doch es konnte der plötzlichen Realität dieser Situation nicht entkommen, blieb eingesperrt in meinem unbehaglichen Körper, der noch immer stocksteif vor dem weinenden Mädchen stand. „Ich hatte ihm die Gitarre zum Geburtstag schenken wollen, aber wir haben uns wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten, also habe ich es gelassen.“ Sie strich sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht und bemühte sich offensichtlich sehr, mich tapfer anzulächeln. Sie brauchte es nicht zu sagen, ich sah es in ihren Augen, zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in den Augen eines anderen Menschen mehr als nur mein Spiegelbild. Wie im Rausch, ja beinahe so als hätte mich der Dunst von Opium still und sanft gemacht, nahm ich sie in meine Arme. Ich wusste nicht, was ich tat aber ich musste mich beherrschen, nicht zu weinen.

Ihre Finger waren kalt, als sie sich zaghaft in meinen Nacken gruben und ich konnte fühlen, wie sich ihr verkrampfter Körper langsam löste, als sie mich küsste.

Autorin: Rahel
Setting: Musikgeschäft
Clues: Opossum, Auslieferungsgesuch, Opium, Auslese, Bodensatz
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