Oster-Special | Märchen … Unterbrochen

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Hari Le Pus, seines Zeichens der beste Osterhase im Land, hüpfte in hektischer Manier über das Feld in Richtung Zentrale. Es kam selten vor, dass er Überstunden machte, eigentlich war sein Job die meiste Zeit im Jahr durchweg entspannt und abgesehen von administrativen Aufgaben oder Gesprächen mit der Hühnerlobby gab es wenig zu tun.
„Guten Tag, Hari Hase“, flötete Frederike Vogel fröhlich. „Wieso so gestresst?“
„Es ist Freitagabend“, erwiderte der Angesprochene keuchend und hielt kurz inne, um zu Atem zu kommen. Ein untrügliches Zeichen fehlender Fitness, wie Hari fuchsig feststellte, er sollte damit aufhören aus seinem eigenen Osterkörbchen zu naschen.
„Na und?“, fragte Frederike Vogel verdutzt, ehe sie zu Hari herabflatterte. „Freitag ist nicht aller Tage Abend, den gibt es jede Woche.“
„Du verstehst keinen Deut, blödes Blaukehlchen, es ist Karfreitag.“ Das Hecheln machte einem Seufzen Platz. Erst vorgestern hatte ihm Hyla Hase erzählt, der freche Vogel habe Halloweendekoration im Nest aufgebaut, Frederike hatte eindeutig nicht mehr alle Eier im Osterkörbchen! „Ich habe Leckereien aus Schokolade, Zucker und Hühnerhintern zu verteilen“, brummte Hari. Ruhige Minuten zum Verschnaufen gab es gegenwärtig kaum, geschweige denn einige Stunden zum gemütlichen Beisammensein mit Hyla, seiner lieben Frau. Beschweren wollte er sich gleichwohl nicht, schließlich liebte Hari Hase seine Arbeit und als Osterhase war man im Frühling nun eben höchst beschäftigt; das sah die schwarze Häsin ein, die indes im Hasenheim für Ordnung und Frieden sorgte.
„Schokolade, Zucker und Hühnerhintern?“, wiederholte das Federtier verdattert, da meckerte Hari erbost los: „Du dummer, dummer Vogel, der Ostersonntag steht vor der Tür und ich bin der Osterhase!“
„Ach, Ostern“, zirpte Frederike Vogel und schüttelte ihr Schwänzchen. Der Hase war nicht zum ersten, vermutlich nicht zum letzten Mal unhöflich, so war das halt mit den Hasen, deren Charakter ist arroganter als ihre Sprünge hoch. „Das passt gar wunderbar. Sag, Hari“, fuhr das Vögelchen fort, „Kannst du mich am Sonntag nochmal an das Fest erinnern?“
„Was interessiert dich Ostern?“, rotzte der Rammler räudig.
„Na, damit ich der großen, grauen Häsin einen schönen Feiertag wünschen kann. Es ist ratsam, sich mit dem Oberhaupt des Hasendorfs gutzustellen, so griesgrämig wie sie ist. Und ihr Hasen gebt ja viel auf eure Tradition. Und Hühnerhintern.“
„Da hast du natürlich Recht“, stimmte ihr Hari zu und nahm sein Klemmbrett mit dem Lieferschein der letzten Eierkarton-Ladung zur Pfote. „Trotzdem klingt das so gar nicht nach dir.“
„Ach, der greise Häserich Karl hat mir geraten, freundlich zu der Chefhäsin zu sein, schaden wird es kaum.“ Das Vögelchen Fred trällerte fröhlich, was den Osterhasen ein wenig nervte; ständig pfeifen diese gefiederten Idioten.
„Papperlapapp, du glaubst an Ammenmärchen. Zu Gesicht bekommen hat man dieses Karlnickel noch nie!“
Frederike Vogel nickte monoton, wie nun ein Vogel nicken konnte und sammelte sich, bevor sie gelassen erläuterte: „Ach Hari, das liegt an dir, alle anderen kennen den alten Herrn Karl Nickel. Du hast einfach ständig deine Nase in den Wolken, träumst vor dich hin und gibst keine Acht auf deine Umgebung, hörst selten genau hin. Deswegen bis du vor drei Festen auf Ingrid Igel getreten.“
„Ach, hoppeln oder humpeln, ist doch fast dasselbe, bei beidem springt man hoch und fällt wieder zur Erde“, murmelte Hari Hase gleichmütig. „Hauptsache, die Osterlieferung ist bereit, gerade gestern hat Hyla mich zur Eile gebeten.“
Ihr Federkleid ausschüttelnd pflichtete ihm Frederike energisch bei. „Das hat die graue Häsin auch gesagt, du hast wirklich keine Zeit mehr, träumend vor dich hinzuschlummern!“
Was wusste der blaue Vogel schon von seinem Job, wunderte sich Hari, Träumen war das Letzte, was ein braver Osterhase tat; bis zur Dämmerung des Ostersonntags mussten viele Eier aus der Färberei abgeholt werden und seine gekrausten Junghasen durften ihm dabei nicht helfen, Hyla war nämlich dagegen, sie für österlichen Arbeiten aus der Hasenschule zu nehmen.
„Ich geh jetzt weiter“, mümmelte Hari Hase Frederikes Bemerkung ignorierend. Seine Aufgabe war wichtig, Osternester füllten sich nicht von allein und sein Rucksack war ebenfalls noch nicht gepackt. Frohgemut verabschiedete er sich, „Machs gut, du Vogel“, und hoppelte los zur Osterfabrik, als das Vögelchen zwitscherte: „Deine Sanduhr ist bald durchgelaufen, wach auf du träumender Hase!“

* * *

Die Jalousien waren geschlossen, dennoch drangen dünne Strahlen des Sonnenlichts ins Innere und zeichneten scharfkantige Kontraste auf den Linoleumboden. Die Beatmungsmaschine spendete im Zweisekundenrhythmus Sauerstoff, stört den Takt des Songs, der stundenlang auf Repeat gestellt aus dem Lautsprecher tröpfelte. Sie starrte reglos auf ihren Ehering, reglos, wie der Vater ihrer Kinder. Madame Le Pus war vorhin angekommen, hatte sie matt, kaum hörbar begrüßt und sich danach auf der gegenüberliegenden Seite des Krankenbetts hingesetzt. Die Schwiegermutter traute sich nicht, ihren Sohn anzusehen, Hyla nahm es ihr keineswegs übel, ihr fiel es ebenso schwer in Haris leeres Gesicht zu blicken, insbesondere heute.
„Mesdames“, kündigte sich Frederike sachte an und ließ die Tür offenstehen. „Mesdames, das Team wird in einigen Minuten bei Ihnen sein.“ Hyla nickte schwach aber erkennbar, die Grande Dame tat es ihr gleich und meinte anschließend: „Machen Sie die Musik aus.“ Ihre Stimme war dünn, brach zwischen den Worten wie ein trockener Zweig.
„Mais bien sûr.“ Die Pflegerin stellte ihr Mitleid offenherzig zur Schau, darunter verborgen lag der Gram gegen die unwirsche Alte, welche seit bald drei Jahren die Belegschaft tyrannisierte. Der Patient hingegen lag ihr am Herzen, die gesamte Station hoffte auf sein Aufwachen. Mit der Musik verschwand auch sie, zurück blieben zwei Frauen, die einander wenig zu sagen hatten. Madame Le Pus, stolze Matriarchin einer Dynastie, die stets jede Situation mit Anmut und Strenge gemeistert hatte, schien ein fader Abklatsch ihrer selbst geworden zu sein; kränklich, mehr bitter denn stark.
„Maman“, begann Hyla ein Gespräch, um die unangenehme Stille zu füllen. „Es würde uns freuen, wenn du am Sonntag zum Brunch kommst.“ Ihr war sehr wohl bewusst, Madame Le Pus war alles andere als erfreut darüber, sie zur Schwiegertochter zu haben; schlimm genug, dass sie aus einer Arbeiterfamilie stammte, sie war zudem dunkelhäutig und hatte ihr lockenköpfige Enkel geschenkt. Allerdings wollte Hyla den Zwist begraben, den Kleinen zuliebe, die neben ihrem Vater nicht auch noch die Großmutter verlieren sollten.
„Wenn ich die Zeit finde“, antwortete ihr Gegenüber leise und streichelte ihrem Sohn über die Wange. „Wenn ich Zeit finde, gerne.“ Hari wäre stolz auf sie beide, froh darüber, sie in einigermaßen versöhnlicher Stimmung anzutreffen. Ein Schluchzen entfuhr der Jüngeren, da reichte ihr Madame Le Pus die Hand.
Sie hatte ihn verlassen wollen, das war ihr schrecklichstes Geheimnis. Sämtliche Papiere lagen, vorbereitet von einem Anwalt aus der Stadt, in der obersten Schublade ihres Schreibtischs. Nicht wegen der Liebe, diese war so stark wie damals, bei ihrer Hochzeit in Paris. Sie hatte geplant, nach den Feiertagen mit Hari darüber zu sprechen, es ihm zu erklären. Wahrscheinlich wäre das überflüssig gewesen, er hatte wissen müssen, dass seine Krankheit von einer Kleinigkeit, einer liebenswürdigen Eigenheit, zum unerträglichen Problem geworden war, als er nur noch von Hasen sprach. Hyla konnte es tolerieren, selbst unter seinen stets länger andauernden Episoden zu leiden, doch war sie keinesfalls gewillt, das Wohlergehen ihrer Kinder zu gefährden. Vor alledem, den langen Erklärungen, der Trennung, war sie nun verschont, einzig das schlechte Gewissen blieb, zerfraß sie bei lebendigem Leib.
„Weißt du, Maman, das ist der schwierigste Moment meines Lebens.“ Sie schluckte, sah erst die Grauhaarige, dann ihren Mann an. Vier Schläuche verloren sich unter der Bettdecke, führten entweder in seine Venen oder die Harnröhre, hinzu kamen schier unzählige Kabel. „Ich bin froh, es nicht alleine tun zu müssen.“ Aurelie und Emma hatten sich heue Nachmittag von ihm verabschiedet; die Vierjährige begriff kaum, weshalb ihre Mutter so sehr geweint hatte, derweil spiegelte sich in Aurelies Zügen das entsetzliche Verständnis.
„Ich auch, Liebes.“ Es  war ihr erster Augenblick der Verbundenheit, der Liebenswürdigkeit; eine Schande, wie er zustande kam. Mit ihren unsäglich knochigen Fingern streifte sie Hyla eine Haarsträhne aus der Stirn, da ging die Tür auf und die blau gekleidete Schwester trat ein, dicht gefolgt von zwei Männern.
„Professor, Gott sei Dank, Sie sind gekommen“, stieß die Grande Dame aus uns ging sogleich auf den Psychiater zu. Er war ein Freund der Familie geworden, hatte neben Hari auch ihnen durch die härtesten Zeiten geholfen. Professor Doktor Karl Nickel, dessen Name durch einen ironischen Zufall zu Haris Wahnvorstellungen passte, umarmte Madame Le Pus und deren Schwiegertochter, schnaufte tief durch und sagte bestimmt: „Wir schaffen das, Hyla, Madame, hört ihr? Wir sind stark, für Hari, für die Kinder, für uns.“ Es war Hyla, die ihrem Mann die letzte Ehre erwies, ihn unter der Anleitung des Arztes von den lebenserhaltenden Maschinen trennte.

Autorinnen: Rahel und Sarah
Titelvorgabe: Märchen … Unterbrochen
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